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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die sogenannte Bezahlkarte

Im Dezem­ber 2023 einig­ten sich Bun­des­re­gie­rung und Bun­des­län­der, für Asyl­be­wer­ber eine elek­tro­ni­sche Bezahl­kar­te ein­zu­füh­ren, mit der Über­wei­sun­gen in Her­kunfts­län­der nicht mehr mög­lich sein wür­den. Inzwi­schen ist es so weit. Die ersten Bun­des­län­der star­ten ihre Pilot-Pro­jek­te. Seit Mona­ten wird in der öffent­li­chen Dis­kus­si­on das Gerücht kol­por­tiert, dass Asyl­su­chen­de von dem Geld, das sie vom deut­schen Sozi­al­staat zur Siche­rung ihres Exi­stenz­mi­ni­mums erhal­ten, erheb­li­che Sum­men nach Hau­se über­wei­sen. 410 Euro erhal­ten allein­ste­hen­de Asyl­be­wer­ber, wovon aber das Geld für Essen abge­zo­gen wird, wenn sie in einer Sam­mel­un­ter­kunft woh­nen und ver­pflich­tet sind, dort zu essen. Nie­mand weiß, in wel­chem Umfang Asyl­be­wer­ber Geld nach Hau­se über­wei­sen. Im SPIEGEL vom 21.10.2023 war von Über­wei­sun­gen von Migran­ten in ihre Her­kunfts­län­der zu lesen; damit waren aber alle Migran­ten gemeint, also vor allem aner­kann­te Asy­lan­ten und legal ein­ge­rei­ste Migran­ten, die hier einer Erwerbs­tä­tig­keit nach­ge­hen und natür­lich Geld an ihre Fami­li­en über­wei­sen. »Wie hoch der Anteil ist, der von Asyl­su­chen­den ver­sen­det wird, ist nicht erfasst. Er dürf­te ange­sichts der Lei­stungs­sät­ze von 410 Euro pro Erwach­se­nen und Monat gering aus­fal­len, ver­mu­ten Experten.«

Die Bezahl­kar­ten­po­li­tik beruht also auf kei­ner­lei auch nur eini­ger­ma­ßen gesi­cher­ten Erkennt­nis­sen, wie man es von einer ver­nunft­ori­en­tier­ten Poli­tik erwar­ten wür­de, son­dern ledig­lich auf einem Gerücht und bös­wil­li­ger Unter­stel­lung. Ihr liegt ein all­ge­mei­nes Res­sen­ti­ment zugrun­de, das sich schon in der Behaup­tung von Fried­rich Merz über die 3000 aus­rei­se­pflich­ti­gen Asyl­be­wer­ber, die den Deut­schen die Zahn­arzt­ter­mi­ne weg­näh­men, zeig­te, oder auch in Söders State­ment: »Es kann nicht sein, dass jemand, der bei uns ist, qua­si eine Art Asyl­ge­halt bekommt und davon dann noch per­fekt leben und die gesam­te Hei­mat finan­zie­ren kann.« Das ist kei­ne wahl­kampf­üb­li­che Über­trei­bung mehr, son­dern Het­ze im Stil der AfD. Wie geht das »per­fek­te Leben« in einer Con­tai­ner-Sam­mel­un­ter­kunft? Wie »finan­ziert« man »die gesam­te Hei­mat« von den paar Euro, die am Ende des Monats viel­leicht – wenig wahr­schein­lich – noch übrigbleiben?

Die eigent­lich inter­es­san­te Fra­ge jedoch ist, wes­halb fast alle Poli­ti­ker aller staats­tra­gen­den Par­tei­en gegen­wär­tig so sehr frem­den­feind­li­che Res­sen­ti­ments bedie­nen. Eine sehr plau­si­ble Ver­mu­tung ist, dass wir es mit einer Art Ersatz­po­li­tik zu tun haben, da die Poli­tik nicht mehr in der Lage ist, die wirk­lich drän­gen­den Pro­ble­me zu lösen, etwa den kata­stro­pha­len Man­gel an bezahl­ba­rem Wohn­raum, die stei­gen­den Ener­gie- und Lebens­mit­tel­prei­se, den Pfle­ge­not­stand, die 400 000 feh­len­den Kita­plät­ze, die maro­de Infra­struk­tur bei Bahn und Auto­bahn­brücken, die chro­ni­sche Unter­fi­nan­zie­rung des Bil­dungs­sy­stems, zuneh­men­de Alters­ar­mut und wach­sen­de Abstiegs­äng­ste. Zwar kön­nen in einer Demo­kra­tie oppo­si­tio­nel­le Par­tei­en stets behaup­ten, sie wür­den es bes­ser machen als die augen­blick­li­che Regie­rung – doch dar­an glaubt kaum noch jemand. Also bedient man gemein­sam (die einen laut­stark, die ande­ren etwas lei­ser) die tief­sit­zen­den Res­sen­ti­ments der Bevöl­ke­rung. Anti­se­mi­tis­mus schei­det inzwi­schen aus, aber Frem­den­feind­lich­keit geht immer, vor allem, wenn sie sich kop­peln lässt mit den Vor­ur­tei­len gegen »Sozi­al­schma­rot­zer«. So schreibt etwa die Frank­fur­ter All­ge­mein Zei­tung (am 4.10.2023): »Miss­brauch durch Migran­ten. Die Aus­höh­lung des Sozi­al­staats«. Und Hubert Aiwan­ger spricht genau­so wie Ali­ce Wei­del von den »Nichts­nut­zen« in unse­rer Gesell­schaft, die sich wei­ger­ten zu arbei­ten, obwohl sie könn­ten. Gewiss gibt es sol­che auch, aber sie sind kei­ne wirk­lich rele­van­te Grö­ße. Die durch sie ver­ur­sach­ten Kosten sind ein win­zi­ger Bruch­teil des Scha­dens, der dem Staat durch den mas­sen­haf­ten Cum-Ex-Betrug ent­stand und durch die unter Wohl­ha­ben­den ganz nor­ma­le und euphe­mi­stisch »Steu­er­op­ti­mie­rung« genann­te Steu­er­ver­mei­dung oder durch Hin­ter­zie­hung jähr­lich ver­ur­sacht wird. Die Bezahl­kar­te ist die staat­lich-insti­tu­tio­nel­le Mani­fe­sta­ti­on des Ressentiments.

Popu­li­sten tun sich immer leicht, etwas zu einem Pro­blem auf­zu­bau­schen, wenn bereits ein Res­sen­ti­ment – basie­rend auf der Angst, man könn­te von irgend­je­man­dem aus­ge­nutzt wer­den – vor­han­den ist. So ver­su­chen sie zu punk­ten. Auch der baye­ri­sche Mini­ster­prä­si­dent gehört immer wie­der dazu. In der BILD am Sonn­tag (vom 4.2.2024) brü­stet er sich: »Unse­re Bezahl­kar­te kommt schnel­ler und ist här­ter.« Sie sol­le nur in der Nähe der Unter­kunft genutzt wer­den kön­nen und für ein stark ein­ge­schränk­tes Waren­sor­ti­ment gel­ten. Und er geht ins Detail: »Es kön­nen nur noch Waren in Geschäf­ten des täg­li­chen Gebrauchs gekauft wer­den. Wir stop­pen Online-Shop­ping, Glücks­spiel und Über­wei­sun­gen ins Aus­land. Bar­geld gibt es nur noch als klei­nes Taschen­geld bis 50 Euro.« Man spürt förm­lich Söders schwel­gen­de Begei­ste­rung für das, was Peter Slo­ter­di­jk in einem Inter­view 2015 die im Umgang mit Geflüch­te­ten nöti­ge »wohl­tem­pe­rier­te Grau­sam­keit« nann­te. (Ein Aus­druck, den Björn Höcke 2018 in sei­nem Buch dank­bar und gern über­nahm.) Hier zeigt sich auch das so oft geprie­se­ne »christ­li­che Men­schen­bild« der Uni­ons­par­tei­en. Lan­ge Zeit wur­de Mar­xi­sten ja vor­ge­hal­ten, dass die von ihnen ver­tre­te­ne Leh­re mit Schuld sei am dik­ta­to­ri­schen System des Sta­li­nis­mus. Sie hät­ten erwi­dern müs­sen, dass Marx so wenig mit Sta­lin zu tun hat wie Jesus mit den sich christ­lich nen­nen­den Parteien.

Halb­wegs bekannt ist heut­zu­ta­ge noch das Gleich­nis vom barm­her­zi­gen Sama­ri­ter im Lukas-Evan­ge­li­um, mit dem Jesus die völ­li­ge Bedeu­tungs­lo­sig­keit von Natio­na­li­tät und eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit in der zwi­schen­mensch­li­chen Bezie­hung unter­streicht. Weni­ge aller­dings wis­sen, wel­che Wor­te Jesus im Mat­thä­us-Evan­ge­li­um dem beim »Welt­ge­richt« am Ende der Zeit alle Men­schen rich­ten­den Gott in den Mund legt: »Wahr­lich, ich sage euch: Was ihr getan habt einem von die­sen mei­nen gering­sten Brü­dern, das habt ihr mir getan.« Und: »Geht weg von mir, ihr Ver­fluch­ten. (…) Denn ich bin ein Frem­der gewe­sen, und ihr habt mich nicht auf­ge­nom­men.« Söder und Kon­sor­ten müss­ten sich ange­spro­chen füh­len. Aber sie ken­nen wahr­schein­lich den Text nicht. Oder tun sie nur so? Es spielt kei­ne Rol­le, ver­flucht sind sie so oder so.