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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Im Eck ich steh

Gleich wird es hier so per­sön­lich, dass ich kei­ne Zeu­gen gebrau­chen kann. Ich muss mit dem Gegen­stand mei­ner Aus­ein­an­der­set­zung allein sein, wes­halb ich ihn direkt anspre­chen wer­de. Ach­tung, ich spre­che: Wie – fra­ge ich dich – soll es zwi­schen uns wei­ter­ge­hen? Was für Qua­len gedenkst du mir wei­ter zu berei­ten, die ich nicht ent­we­der schon ken­nen oder aber mit end­gül­ti­ger Tren­nung von dir beant­wor­ten würde?

Ste­hend vor dir als der Ursa­che mei­ner Qua­len den­ke ich Sachen wie: Bin das wirk­lich noch ich? Ich kann näm­lich zwi­schen dir und mir nicht mehr unter­schei­den, so nah sind wir uns gekom­men. Du bist ein Teil von mir gewor­den. Du wütest in mei­nem Inner­sten. Der Schmerz, den du mir berei­test, füllt mich aus wie das Bier das Glas. Man sagt »Glas« und meint in Wirk­lich­keit Bier, das sich in einem Glas befin­det. Ich betrach­te mich im Spie­gel und sehe in Wirk­lich­keit dich. Was du mir ange­tan hast, zeich­net sich ab in mei­nem Gesicht, voll­stän­dig. Oder nicht mal: Ich bräuch­te zwei Gesich­ter – wie mei­ne wohl­ha­ben­de­ren Freun­de zwei Bild­schir­me auf ihrem Schreib­tisch ste­hen haben –, um alles anzei­gen zu kön­nen, was du mir ange­tan hast. Die gan­ze Brei­te der Palet­te, mit der du den Schmerz in mei­ne zwei Gesich­ter gemalt hättest.

Zwei Wochen vor Weih­nach­ten fing es an. Ich dach­te sofort über Tren­nung nach, woll­te aber das Fest noch ein­mal mit dir erle­ben. Ich brauch­te dich für die­ses Fest, für sei­ne drei­tä­gi­gen Freu­den. Und irgend­wie lief es sogar. Ich dach­te schon, du woll­test dich ver­tra­gen mit mir.

Aber nein. Zwei Tage nach Weih­nach­ten ging es wie­der los. Ich schluck­te Tablet­ten und Alko­hol durch­ein­an­der, um zu ver­ar­bei­ten, was du mir neu­er­lich anta­test. Und ich schluck­te die Ein­sicht, ärzt­li­che Hil­fe zu benö­ti­gen. Im wei­ten Rund unse­rer gemein­sa­men Hei­mat tele­fo­nier­te ich nach Bei­stand. Alle waren im Urlaub und ver­wie­sen auf Ver­tre­tun­gen in Bun­des­län­dern, die ich noch nie bereist habe. No way. Wir wür­den zusam­men ins neue Jahr gehen, soviel war klar. Unbe­ra­ten und ohne ärzt­li­che Auf­sicht wür­den wir über die Zukunft unse­rer Bezie­hung ent­schei­den, glaub­te ich.

Dann über­schlu­gen sich die Ver­wick­lun­gen. Den Jah­res­an­fang hin­durch tele­fo­nier­te ich ganz­tä­gig mit Fach­ärz­ten. Ihr Urlaub war ver­län­gert wor­den. Als der Tele­fon­seel­sor­ge die Rat­schlä­ge aus­gin­gen, such­te ich einen Not­dienst auf. Der jugend­li­che Arzt riet zu einer ana­ly­tisch boh­ren­den Paar­the­ra­pie. Ich flüch­te­te mich in einen zwei Wochen spä­te­ren Ter­min bei einem Nie­der­ge­las­se­nen. Der war noch jün­ger und emp­fahl die Tren­nung. Lie­gend auf sei­ner Couch traf mich der Schlag. Ich argu­men­tier­te mit der beson­de­ren, unver­zicht­ba­ren Stel­lung, die du in mei­nem Innern ein­nimmst. Ver­lö­re ich dich, wer­de dort alles zusam­men­bre­chen, weis­sag­te ich und ent­kam dem Weiß­kit­tel mit letz­ter Ent­schluss­kraft. »Ich kann nicht ohne ihn leben!«, rief ich durch den Spalt der zufal­len­den Praxistür.

Jetzt ist es raus. Es geht nicht um mei­ne Frau. Du, Schmerz­ge­bä­ren­der, stehst mir näher als sie, beglei­test mich auch schon Jahr­zehn­te län­ger. Schwul bin ich aller­dings auch nicht gewor­den. Es ist alles kom­pli­zier­ter. Du seiest in Wahr­heit schon abge­stor­ben, hat­te der Nie­der­ge­las­se­ne gesagt, wer­dest mir so jedoch noch gründ­li­cher weh­tun als zu Lebzeiten.

Ich weiß nicht, ob es stimmt. Ich spü­re nur noch einen unbe­stimm­ten, fast nost­al­gi­schen Schmerz, wenn ich an dich den­ke. Auch fra­ge ich mich, ob ein so jun­ger Arzt die Pro­ble­me einer so lan­gen Bezie­hung über­haupt ver­steht. Er geht doch von frisch Ver­lieb­ten aus, die schmerz­frei zusam­men­ar­bei­ten – weil es das ist, was er kennt. Sol­che Ansprü­che stel­le ich aber nicht. Ich ste­he zu dir mit all dei­nen Män­geln und Beschä­di­gun­gen. Selbst dein Tod nimmt dir nichts von dei­ner Bedeu­tung für mich, wenn du nur bit­te, bit­te wei­ter mein Essen klein­machst. Ich put­ze und pfle­ge dich lie­be­vol­ler als in dei­nen strah­len­den Jugend­jah­ren – und du zahlst mit Ver­wei­ge­rung und heim­su­chen­dem Schmerz zurück? Die Wut, die ich so lang­sam auf dich habe, wird mir hel­fen müs­sen, mich von dir zu trennen.

Wenn ich Fran­coise Rosay ein den­ti­sti­sches Bon­mot in ihrem hüb­schen Mund umdre­hen darf: Zäh­ne sind wie Frau­en. Es dau­ert lan­ge, bis man sie bekommt. Und wenn man sie hat, tun sie einem weh. Und wenn sie nicht mehr da sind, hin­ter­las­sen sie eine Lücke. Eige­ner Zusatz: Die größ­te Lücke hin­ter­las­sen die, die immer (still) in der Ecke standen.