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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Es hat uns nicht gegeben

Eine Sen­dung der ARD, das Mor­gen­ma­ga­zin vom 5.7., bewies zum x. Mal die Igno­ranz des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens gegen­über den Ost­deut­schen. Es ging um das Jubi­lä­um »100 Jah­re dua­les Berufs­aus­bil­dungs­sy­stem in Deutsch­land«. Wirk­lich in Deutsch­land? Die Zeit der Wei­ma­rer Repu­blik ist in dem Bericht prä­sent, die Nazi­zeit wird behan­delt, und bis zum Ende des Reports geht es dann nur noch um die BRD. Die DDR, die ein gutes, zum Teil inno­va­ti­ves Berufs­aus­bil­dungs­sy­stem hat­te, kommt nicht vor. Sie gehört zu den 100 Jah­ren deut­sche Berufs­aus­bil­dung nicht dazu. Das ist kein Aus­rut­scher, das ist eher die Regel der Bericht­erstat­tung. Es wird dadurch wie­der ein­mal deut­lich: Nach­dem das ost­deut­sche Fern­se­hen gegen den erklär­ten Wil­len von mehr als 88 Pro­zent der DDR-Bevöl­ke­rung liqui­diert wur­de, machen vor allem – beson­ders wenn man sich die Lei­tungs­ebe­ne ansieht – West­deut­sche Fern­se­hen für Westdeutsche.

An dem­sel­ben 5. Juli wur­de auch bekannt, dass laut einer Umfra­ge die AfD mit 34 Pro­zent in Thü­rin­gen stärk­ste Par­tei wäre, deutsch­land­weit auf 20 Pro­zent käme. Ich sehe in die­ser Art der Bericht­erstat­tung und dem Erfolg die­ser Par­tei einen direk­ten Zusam­men­hang. Trotz­dem bin ich mir sicher, die Öffent­lich-Recht­li­chen wer­den wei­ter über die Grün­de des Erfol­ges die­ser Par­tei spe­ku­lie­ren, den Zusam­men­hang mit ihren Berich­ten ver­ken­nen und ihre Hän­de in Unschuld waschen. Schließ­lich hat man Sta­si und Nazis, Doping und Unrechts­staat in allen doku­men­ta­ren und fik­tio­na­len Facet­ten beleuch­tet. Man wuss­te immer bes­ser und genau, was sich in dem ande­ren deut­schen Staat ereig­net hat. Näm­lich Sta­si und Nazis, Doping und Unrechts­staat. Mir fällt dazu Gysi ein, der gesagt hat, wenn man viel­leicht nur fünf Din­ge im ver­ein­ten Deutsch­land über­nom­men hät­te, die pro­gres­si­ver waren als in der alten Bun­des­re­pu­blik, wäre die Aus­gangs­la­ge eine ganz ande­re gewe­sen. Die Berufs­aus­bil­dung zum Bei­spiel hät­te sich dafür gut geeig­net. Aber: »Es hat uns nicht gege­ben /​ wir waren gar nicht da«, wie Ulrich Plenz­dorf tref­fend dichtete.

In der »edi­ti­on ost« ist nun gera­de ein Buch erschie­nen, das von vier nam­haf­ten Fern­seh­jour­na­li­sten ver­fasst wur­de und sich kri­tisch mit dem Zustand des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens von der Wen­de bis heu­te befasst. Mit dem Über­stül­pen der West­struk­tu­ren zogen Prin­zi­pi­en und Hal­tun­gen ein, an denen das heu­ti­ge System krankt, das oft an den Bedürf­nis­sen der Bei­trags­zah­ler vor­bei­sen­det. Die Autoren fra­gen, war­um die Glaub­wür­dig­keit des Medi­ums ver­lo­ren ging und wann die Ver­wahr­lo­sung jour­na­li­sti­scher Grund­sät­ze begann. Lutz Her­den und Micha­el Schmidt sind die zwei ost­deut­schen Jour­na­li­sten, Luc Jochim­sen über­nimmt für die ARD und Wolf­gang Her­les für das ZDF die­sen Part. Sie nen­nen ihr Plä­doy­er für eine grund­le­gen­de Reform der Struk­tu­ren und Arbeits­wei­sen des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens: »Der auf­halt­sa­me Abstieg des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens: Berich­te von Betei­lig­ten«. Das Vor­wort stammt von Danie­la Dahn, die eini­ge Jah­re beim DDR-Fern­se­hen als Redak­teu­rin gear­bei­tet hat. Alle sind sich dar­in einig, dass die Wei­chen 1990/​91 falsch gestellt wur­den. »Die restau­ra­ti­ve Wal­ze der west­li­chen Abwick­ler mach­te die ange­sto­ße­ne Demo­kra­ti­sie­rung zunich­te«, schreibt Danie­la Dahn. Die revo­lu­tio­nä­ren Ansät­ze der Bür­ger­be­we­gung wur­den genau­so aufs Abstell­gleis gescho­ben, wie das, was die Jour­na­li­sten beim Fern­se­hen der DDR in den gut zwei Jah­ren frei­er Bericht­erstat­tung erreicht hat­ten. Die Seh­be­tei­li­gung des Ost­fern­se­hens war damals höher als die von ARD und ZDF. Das war zuvor undenk­bar. Aber nur 10 Pro­zent der Jour­na­li­sten von DDR-Sen­dern beka­men einen Arbeits­platz in der west­li­chen Rund­funk­land­schaft. Micha­el Schmidt arbei­te­te bis 2021 beim ndr, Lutz Her­den bei der Wochen­zeit­schrift Frei­tag. Letz­te­rer meint: »Das Ost­fern­se­hen wie eine Schrau­ben­fa­brik dicht zu machen, das bedeu­te­te, dem Osten kul­tu­rel­len Besitz­stand zu neh­men, ja, die­sen vor­sätz­lich zu zer­stö­ren.« Ein bis­her ein­ma­li­ger Vor­gang in der Fernsehgeschichte.

Luc Jochim­sen, Chef­re­dak­teu­rin beim Hes­si­schen Rund­funk erläu­tert u. a., wie das Polit­ma­ga­zin Pan­ora­ma alle sei­ne Lei­ter durch poli­ti­schen Druck ver­lor. Sie selbst konn­te in den Tages­the­men zum Bei­spiel noch ein Waf­fen­still­stands­an­ge­bot von Slo­bo­dan Milo­se­vic unter­stüt­zen. Danach durf­te sie sich aber nie wie­der zu die­sem The­ma äußern. Sie beschreibt, wie sich SFB-Inten­dant Gün­ther von Lojew­ski »in hel­ler Panik« an Wolf­gang Schäub­le als Ver­hand­lungs­füh­rer des »Eini­gungs­ver­tra­ges« gewandt habe. Es stün­den »mehr als 10.000 Agit­prop-geschul­te und erfah­re­ne Ossis vor den Toren West­ber­lins, ver­tei­digt von nur 1400 SFBlern«. Die Fol­ge: Der Eini­gungs­ver­trag wur­de um den Arti­kel 36 ergänzt. Der leg­te fest, dass die Radio- und Fern­seh­an­stal­ten der DDR bis Ende 1991 auf­zu­lö­sen sind.

Wolf­gang Her­les, Chef des ZDF-Stu­di­os Bonn, ver­such­te in sei­ner Sen­dung Bonn direkt dem poli­ti­schen Druck gegen­zu­steu­ern und wur­de gegan­gen. Er führt aus: Die DDR habe sich »qua­si auf Kom­man­do zur offe­nen Gesell­schaft wan­deln sol­len, und der Westen sus­pen­dier­te im glei­chen Augen­blick die Offen­heit des Diskurses«.

Micha­el Schmidt schreibt: »Zwi­schen der beherr­schen­den Mei­nung in den Medi­en und der herr­schen­den Mei­nung in der Bevöl­ke­rung klafft ein Riss. Wäh­rend 73 % der West­deut­schen die Fern­seh­nach­rich­ten gene­rell für glaub­wür­dig hal­ten, trifft das in Ost­deutsch­land nur auf 58 % der Befrag­ten zu.« Das zeigt eine Stu­die der Kon­rad Ade­nau­er Stif­tung vom März 2023.

Jeder der Autoren beschreibt sein eige­nes Erle­ben in der Fern­seh­welt: die Pra­xis der Aus­gren­zung abwei­chen­der Mei­nun­gen, den Nie­der­gang jour­na­li­sti­scher Kul­tur, die Staats­nä­he, die durch die Beset­zung von Inten­dan­ten, Pro­gramm­di­rek­to­ren und Chef­re­dak­teu­ren mit par­tei­po­li­tisch geneh­men Kan­di­da­ten pas­siert, die Struk­tur von Rund­funk-, Pro­gramm- und ande­ren Bei­rä­ten, die in kei­ner Wei­se ange­mes­sen die Bevöl­ke­rung wider­spie­geln. Mei­nungs­viel­falt scheint zur Man­gel­wa­re zu wer­den. Ob Kli­ma­po­li­tik, Impf­pflicht und Pan­de­mie, Will­kom­mens­kul­tur und Migran­ten oder Mili­tär­hil­fe für die Ukrai­ne, die Öffent­lich-Recht­li­chen ver­ste­hen sich immer öfter als Ver­laut­ba­rer der offi­zi­el­len Regie­rungs­po­li­tik, machen sich zu Sprach­roh­ren der Par­tei­en, von denen sie abhän­gig sind.

Die Autoren die­ses Buches ver­tei­di­gen den Auf­trag der Öffent­lich-Recht­li­chen, durch unab­hän­gi­ge und unpar­tei­ische Bericht­erstat­tung die Vor­aus­set­zun­gen für die eige­ne Urteils­bil­dung der Zuschau­er zu schaffen.

Lutz Her­den, Wolf­gang Her­les, Luc Jochim­sen, Micha­el Schmidt: Der auf­halt­sa­me Abstieg des öffent­lich-recht­li­chen Fern­se­hens: Berich­te von Betei­lig­ten, edi­ti­on Ost 2023, 282 S., 20 €.