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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Scheinheilige Hofnarren

J’accuse … wir kla­gen euch an. Durch eure kri­tik­lo­se Unter­stüt­zung der israe­li­schen Besat­zung, des israe­li­schen Sied­ler­ko­lo­nia­lis­mus, des Apart­heid­staa­tes zwi­schen Mit­tel­meer und Jor­dan­tal tragt ihr bei zu unse­rer Unter­drückung und zur Ver­hin­de­rung, dass wir end­lich als freie Men­schen leben kön­nen. Ihr seid mitschuldig!

Mit die­sen Sät­zen endet ein Zeit­schrif­ten­bei­trag zu den Ver­bre­chen der israe­li­schen Armee Anfang Juli 2023 in Jenin im West­jor­dan­land. Sie sind eine flam­men­de Ankla­ge gegen die deut­sche Regie­rungs­po­li­tik, die töd­li­che Exzes­se des Regimes in Jeru­sa­lem seit Jahr­zehn­ten nahe­zu still­schwei­gend hin­nimmt, einem ste­reo­ty­pen Recht­fer­ti­gungs-Muster fol­gend: Isra­el ver­tei­digt, so die deut­sche Staats­rä­son, sei­ne Frei­heit gegen palä­sti­nen­si­sche Terroristen.

Die Ankla­ge könn­te ermun­tern, mit ana­ly­ti­scher Gründ­lich­keit, histo­ri­schem Scharf­sinn und fak­ti­scher Genau­ig­keit kom­pro­miss­los dar­über auf­klä­ren, dass deut­sche Poli­tik und Öko­no­mie mit­ver­ant­wort­lich sind für Lei­den und Ster­ben nicht nur der Palästinenser.

Wir kla­gen euch an, könn­ten die im Mit­tel­meer Ertrun­ke­nen oder in der Wüste Ver­dur­ste­ten, vor Gewalt und Hun­ger Geflo­he­nen, ein­stim­men. Und die gefal­le­nen Söh­ne ukrai­ni­scher und rus­si­scher Müt­ter. Und die ver­trie­be­nen und getö­te­ten Indi­ge­nen am Ama­zo­nas. Und die Opfer der Kli­ma­ka­ta­stro­phe auf der Süd­halb­ku­gel. Und unzäh­li­ge ande­re Men­schen, aus­ge­beu­tet, unter­drückt, ver­trie­ben, gesund­heit­lich rui­niert, gemor­det. Alles unter Betei­li­gung oder mit Bil­li­gung deut­scher Politiker/​innen, deut­scher Kon­zer­ne, deut­scher Sol­da­ten, deut­scher Grenzkontrolleure.

Wir kla­gen euch an, könn­ten die unge­zähl­ten Opfer der Desa­ster im Inne­ren die­ses Lan­des schrei­en: Für Bil­dungs­not­stand und Per­spek­tiv­lo­sig­keit von Mil­lio­nen armer Kin­der. Für obszö­ne Alters­ar­mut. Für Woh­nungs­po­li­tik, die immer mehr Men­schen in Not und Elend stürzt. Für Min­dest- als Hun­ger­lohn. Für mas­si­ves Sozi­al­dum­ping, damit Mil­li­ar­den­sum­men in Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne und immer wei­te­re Auf­stockung des Kriegs­etats gesteckt wer­den kön­nen. Für den »Asyl­kom­pro­miss«, der immer mehr Men­schen auf der Flucht oder in irgend­wel­chen Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern ster­ben lässt und ihre Depor­ta­ti­on, wenn sie nicht als Arbeits- oder Pfle­ge­kräf­te nutz­bar sind, beschleu­nigt. Für Kli­ma­po­li­tik mit kli­ma­zer­stö­ren­den und aso­zia­len Fol­gen. Für Ver­kehrs­po­li­tik, die den Öffent­li­chen Nah- und Fern­ver­kehr zugun­sten des indi­vi­du­el­len Auto­ver­kehrs rui­niert. Für Kom­mer­zia­li­sie­rung der Gesund­heits­ver­sor­gung, die vie­le kran­ke Men­schen das Leben kostet. Wir kla­gen euch an, weil ihr vor­sätz­lich Kol­la­te­ral­schä­den in unvor­stell­ba­rem Aus­maß in die­sen miss­ach­ten­den Affront gegen unzäh­li­ge Men­schen einwebt.

Wir kla­gen euch an, weil ihr als poli­ti­sche Klas­se vor allem gut für euch selbst sorgt. Weil ihr das Par­la­ment bei fol­gen­schwe­ren Ent­schei­dun­gen, die alle Men­schen bedro­hen, wie Kriegs­be­tei­li­gung und Rüstungs­pro­duk­ti­on und Waf­fen­lie­fe­run­gen, igno­riert. Weil ihr, über demo­kra­ti­sche Rou­ti­nen oder per Geburt oder Ver­mö­gen mäch­tig gewor­den, gern von Frei­heit und Wehr­haf­tig­keit »unse­rer« Demo­kra­tie, von Men­schen­rech­ten und west­li­chen Wer­ten wie Mei­nungs­frei­heit, von Wohl­stand und Wachs­tum, von sozia­ler Gerech­tig­keit und Armuts­be­kämp­fung heu­chelt: Eure Abwick­lung der Reste sozia­ler Poli­tik, der ent­de­mo­kra­ti­sie­ren­de Umbau der Gesell­schaft und die offen­si­ve Mili­ta­ri­sie­rung der poli­ti­schen Agen­da sind nichts weni­ger als die Auf­kün­di­gung des Gesell­schafts­ver­tra­ges, des­sen ver­fas­sungs­fi­xier­te Basis die Wür­de aller Men­schen und der sozia­le Aus­gleich inner­halb der Gesell­schaft sind.

Mit euren Flos­kel­schwa­den habt ihr schon immer demo­kra­tie­zer­mür­ben­de Ein­grif­fe zuge­deckt: Als die »Sozi­al­klau­sel« des Ahle­ner Pro­gramms der CDU gestri­chen wur­de – und die SPD eini­ge Jah­re spä­ter mit dem Godes­ber­ger Pro­gramm nach­zog –, als der Mar­shall-Plan die kapi­ta­li­sti­schen Pro­duk­ti­ons­ver­hält­nis­se in West­deutsch­land zemen­tier­te, als Wie­der­auf­rü­stung und ato­ma­re Teil­ha­be der Bun­des­re­pu­blik beschlos­sen waren, als Deutsch­land sei­ne Sou­ve­rä­ni­tät auf unab­seh­ba­re Zeit an die USA abtrat und als schon 1956 mit dem Ver­bot der KPD die Mei­nungs­frei­heit ihr Siech­tum begann, das sich ein Jahr­zehnt spä­ter mit den »Maul­korb­ge­set­zen« und einem für vie­le Men­schen exi­stenz­zer­stö­ren­den Radi­ka­len­er­lass fort­setz­te. Wer, fak­tisch unter­legt und argu­men­ta­tiv fun­diert, nach­weist, dass eure Nar­ra­ti­ve lügen und betrü­gen, dass eure Poli­tik ver­nich­tet und tötet, dass ihr jahr­zehn­te­lang ein mehr und mehr obrig­keits­staat­lich funk­tio­nie­ren­des System geschaf­fen habt, wird von euch als ver­schwö­rungs­theo­re­tisch, als demo­kra­tie­feind­lich oder ter­ro­ris­mus­ver­däch­tig denun­ziert. Den nach 1945 von vie­len Men­schen ersehn­ten demo­kra­ti­schen und sozia­li­sti­schen Auf­bruch haben macht­po­li­ti­sche und öko­no­mi­sche Inter­es­sen in die­sem Land längst erle­digt. Ihr macht euch mit­schul­dig an einer Zukunft unse­rer Kin­der, die unge­recht, krie­ge­risch, kli­ma­tisch uner­träg­lich sein wird.

Die­ser Bank­rott eines neo­li­be­ral-mili­tä­risch ver­seuch­ten Systems muss mit intel­lek­tu­el­ler Red­lich­keit und Kon­se­quenz laut, unüber­hör­bar, pene­trant und hart­näckig demas­kiert wer­den. Die dafür zustän­di­ge frie­dens- und men­schen­rechts­af­fi­ne Intel­li­genz aber han­delt zwar wort­reich und wort­ge­wandt, bleibt jedoch system­im­ma­nent gelähmt. Fran­co Basa­glia wirft Intel­lek­tu­el­len »Befrie­dungs­ver­bre­chen« vor. Sie ver­fü­gen über das Wis­sen, so unmensch­li­che wie bigot­te gesell­schaft­li­che Zustän­de, deren prak­ti­sches Fun­da­ment seit fünf­hun­dert Jah­ren kolo­nia­li­stisch und deren ideo­lo­gi­sche Basis ras­si­stisch ist, zu durch­schau­en und zu ver­än­dern, die­nen aber tat­säch­lich als eine ihrer wich­tig­sten Stüt­zen: Ihre »Dome­sti­zie­rungs- und Ent­mün­di­gungs­pro­jek­te« als Anwäl­te, Medi­zi­ne­rin­nen, Psy­cho­the­ra­peu­ten, Sozi­al­ar­bei­te­rin­nen, Hoch­schul-Leh­rer und nicht zuletzt Poli­ti­ke­rin­nen sichern die Funk­ti­ons­fä­hig­keit des Systems. Sie recht­fer­ti­gen sich mit einem gesell­schaft­li­chen Kon­sens über Ver­fas­sung, demo­kra­ti­sche Spiel­re­geln, Men­schen­rech­te und Sozi­al­staat, den es noch nie gab, und mit dem demo­kra­tie­af­fi­nen Gebot, nur über den argu­men­ta­ti­ven Aus­tausch sei Ver­än­de­rung mög­lich. Aus die­ser von Jür­gen Haber­mas pro­pa­gier­ten dis­kur­si­ven Maxi­me ist ein ideel­les Seda­tiv­um für das Gros der links-libe­ra­len Intel­lek­tu­el­len gewor­den, eine Fal­le für kom­pro­miss­lo­se radi­ka­le Kri­tik an macht- und wohl­stands­si­chern­den Mecha­nis­men. Der rüde exkom­mu­ni­zie­ren­de Umgang mit den – besorg­ten und qua­li­fi­zier­ten – Beden­ken gegen­über Maß­nah­men im Rah­men der Coro­na-Pan­de­mie hat den Dis­kurs als Basis des gesell­schaft­li­chen Mit­ein­an­ders ohne­hin entsorgt.

Die Befrie­dung von lei­den­den und unter­drück­ten Men­schen in Ver­hält­nis­sen, von denen Ador­no mein­te, »es gibt kein rich­ti­ges Leben im fal­schen«, ist so hin­ter­häl­tig wie zynisch, weil dem vor­geb­lich mit­füh­len­den Wort in der Regel die an- und ein­pas­sen­de Hand­lung folgt, sie begrün­det eine Mit-Ver­ant­wor­tung der Intel­lek­tu­el­len für das Elend vie­ler Men­schen. Ihr Hand­lungs­mu­ster ähnelt bis heu­te dem der Hof­nar­ren: Deren Frei­heit bestand dar­in, Selbst­be­trug, Obszö­ni­tät und sogar Unta­ten der fürst­li­chen Damen und Her­ren zu ihrem Plä­sir bloß­zu­le­gen, aber ihre Nar­re­tei blieb fol­gen­los, für sie wie für die Herrschenden.

»Empört euch«, hat­te Sté­pha­ne Hes­sel 2014 die­se haupt­be­ruf­lich loya­len Intel­lek­tu­el­len laut und nach­drück­lich auf­ge­for­dert, Noam Chom­sky hat sie die »neu­en Man­da­ri­ne« genannt und ihnen Gleich­gül­tig­keit gegen­über Unrecht und Gewalt vor­ge­wor­fen, Jean Zieg­ler wird nicht müde, sie zum Wider­stand gegen Kolo­nia­lis­mus und Aus­beu­tung und zur Auf­ga­be ihrer Dop­pel­mo­ral auf­zu­ru­fen. Nicht befrie­den, also loy­al einem men­schen- und natur­ver­nich­ten­den System die­nen, son­dern es aus den Angeln heben, nicht die Tasten der Lap­tops mal­trä­tie­ren, son­dern Sand ins Getrie­be der Macht-Maschi­ne­rie streu­en – eine Alter­na­ti­ve dazu gibt es nicht, wenn aus dome­sti­zie­ren­den Hand­lungs­an­sät­zen befrei­en­de Pra­xis wer­den soll. »Wir kön­nen uns die Moti­ve für Wider­stand bei unse­ren Kli­en­ten nicht aus­lei­hen, wir brau­chen eige­ne, um mit ihnen gemein­sam zu kämp­fen«, hat­te Basa­glia an sei­ne Kol­le­gen appel­liert. Ver­wei­ge­rung, Agi­ta­ti­on und dann die Herr­schen­den davon­ja­gen, um ihr immer maß­lo­ser wer­den­des zer­stö­re­ri­sches Wüten zu been­den – oder auf der Ankla­ge­bank neben ihnen landen.

Radi­ka­le For­de­run­gen nach revo­lu­tio­nä­rer poli­ti­scher Pra­xis stel­len nicht zuletzt die mit den beschä­dig­ten See­len Kon­fron­tier­ten: Fran­co Basa­glia hat als Psych­ia­ter das vom kapi­ta­li­sti­schen System ver­ur­sach­te mensch­li­che Elend ganz prak­tisch zu ver­än­dern ver­sucht, sein ita­lie­ni­scher Kol­le­ge Gio­van­ni Jer­vis hat auf­ge­zeigt, dass Iso­la­ti­on und Pas­si­vi­tät als Ergeb­nis­se ent­mün­di­gen­der Ein­grif­fe durch Exper­tIn­nen Men­schen ver­rückt machen und see­lisch ver­stüm­meln, Klaus Dör­ner wies nach, dass Dia­gno­sen krän­ken und töten kön­nen. Basa­glia resü­miert sei­nen jahr­zehn­te­lan­gen Spa­gat zwi­schen Befrei­ung und Anpas­sung der Irren mit Hin­weis auf den zwei­glei­si­gen Weg, den Frantz Fanon gegan­gen ist: Die fach­li­chen Fähig­kei­ten nut­zen, um den Lei­den­den bei­zu­ste­hen, und poli­tisch revo­lu­tio­när han­deln, um die See­len und Kör­per zer­stö­ren­den Bedin­gun­gen zu besei­ti­gen. Zu ähn­li­chen Über­le­gun­gen kom­pri­miert Igor Caru­so die Erfah­run­gen sei­ner psy­cho­ana­ly­ti­schen Pra­xis: »Die geschicht­li­che Auf­ga­be des Men­schen kann wie folgt zusam­men­ge­fasst wer­den: Sowohl die Zustän­de als auch das Bewusst­sein in dia­lek­ti­scher Wech­sel­wir­kung zu ändern. (…). Die Kluft zwi­schen die­sen bei­den Ebe­nen kann, wie Marx erkann­te, letzt­lich nur durch Ver­än­de­rung der gesell­schaft­li­chen Zustän­de erreicht wer­den, jedoch nicht ohne indi­vi­du­el­le Anstrengung.«

J’accuse … Wir kla­gen euch an. In Frank­reich rebel­lier­ten Mil­lio­nen gegen eine aso­zia­le Ren­ten­re­form, nach dem Todes­schuss eines Poli­zi­sten auf einen far­bi­gen Jugend­li­chen folg­ten Auf­stän­de in vie­len Städ­ten. In Isra­el gehen Hun­dert­tau­sen­de gegen eine ultra­rech­te Regie­rung auf die Stra­ße, die den demo­kra­ti­schen Grund­kon­sens der Gewal­ten­tei­lung auf­kün­digt, »wir wer­den so lan­ge auf der Stra­ße blei­ben, bis die­se Justiz­re­form vom Tisch ist«, so eine israe­li­sche Demon­stran­tin im Inter­view in der Tages­schau vom 11. Juli 2023. Wis­sen um den »Aus­gang aus der unver­schul­de­ten Unmün­dig­keit« macht Auf­klä­rung zu schein­hei­li­ger Kol­la­bo­ra­ti­on, wenn es nicht in prak­ti­schem Wider­stand mün­det – und erstickt die zag­haf­te­sten Zwei­fel am eige­nen Han­deln und Mei­nen als Bei­trag zu gesell­schaft­li­cher Rechts­la­stig­keit als exi­sten­zi­el­ler Basis der AfD.