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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Macht der Sehnsucht

Gedan­ken über Gut und Böse, Gewalt und Har­mo­nie, Selbst­be­herr­schung und Frei­heit erschei­nen mir trost­los. Mei­ne Sehn­sucht nach einem qua­li­ta­ti­ven Urteil, das das Gute in kei­ner­lei Wei­se mit dem Bösen ver­wech­selt, son­dern ein­deu­tig davon trennt, wächst ohne Ende, befrie­digt mei­nen Geist nicht, ist stets schuld an allem, gera­de an die­sem Tag, als ich in fröh­li­cher Stim­mung durch die Stadt ging, mein Augen­merk viel­mehr ent­ge­gen­kom­men­den Augen­blicken gel­ten soll­te, mich bald antrieb, aus vie­ler­lei Grün­den an einer Kund­ge­bung gegen den Krieg teilzunehmen.

Vie­le demon­strie­ren­de Men­schen, die wahr­schein­lich wie ich zum Teil kei­ne Ahnung hat­ten, was sich tat­säch­lich abspiel­te, damit jedoch etwas Gutes tun woll­ten, ihrer Mei­nung nach für eine bes­se­re Welt ein­stan­den, waren auf dem Platz vor dem Gra­zer Rat­haus ver­sam­melt. Mein tie­fes Miss­trau­en blieb. Es war aller­dings lustig, pro­mi­nen­te Gesich­ter man­cher Par­tei­en und Ver­tre­ter eini­ger Orga­ni­sa­tio­nen am Ran­de zu beob­ach­ten und dar­über nach­zu­den­ken, wel­che Absich­ten und Zie­le sie dabei wohl verfolgten.

Die übli­chen Paro­len mach­ten rasch jede ande­re Rea­li­tät unsicht­bar. »Die Ukrai­ne braucht Hil­fe, wir müs­sen sie unbe­dingt unter­stüt­zen. Gerech­tig­keit muss sie­gen«, sag­te ein Poli­ti­ker mehr­mals, und schließ­lich sprach ein Exper­te zu den Men­schen. Ein Demon­strant rief gleich am Ende sei­ner Rede aus der Men­ge: »Wir wer­den den Dik­ta­tor Putin besie­gen.« – »Wir wer­den ihn bald zur Rechen­schaft zie­hen, wenn das ukrai­ni­sche Mili­tär die nöti­ge Unter­stüt­zung der Welt bekommt. Die­ses kämpft tap­fer an der Front gegen Putin für den Frie­den.« Alle ande­ren Demon­strie­ren­den lie­ßen dar­auf ihren Emo­tio­nen frei­en Lauf: »Ja, das kön­nen wir bestimmt gemein­sam schaffen.«

Es ging um Mili­tär, Macht und Sieg. Nie­mand schrie nach Frei­heit, Frie­den ohne Waf­fen und Krieg, rief: »Gewalt gab es schon mehr als genug, es ist höch­ste Zeit, dass die Mensch­heit end­lich etwas Neu­es erfin­det, Kon­flik­te fried­lich, nicht mit Gegen­ge­walt, zu lösen sucht und die Waf­fen nie­der­legt, auch wenn sie eini­gen viel Macht und Wohl­stand brin­gen. Sie erzeu­gen Gewalt und kran­ke Seelen.«

Aber wer wür­de so etwas Uner­füll­ba­res in sei­nem Däm­mer­zu­stand, stets mani­pu­liert durch die Gewalt der Poli­tik und die Macht der Wirt­schaft, wün­schen, die Wirk­lich­keit dann schlag­ar­tig von allen Sei­ten prü­fend betrachten?

Die Gedan­ken führ­ten mich zum Fluss, der fast am Haupt­platz vor­bei­fließt. Der Wind weh­te, die Son­ne wirk­te an die­sem März­tag trotz­dem warm.

Ich setz­te mich hin, sprach, wie schon immer, zu ihm: »Schö­ner Fluss: Ich will dein Sein. Du kannst flie­ßen, wohin du willst. Du bist stets und über­all frei, ohne Gren­zen und Gewalt. Sprich doch nur ein­mal zu mir, ich ste­he oft hier, nichts ist so klar wie du. Ich will von dir hören, wie ich leben, los­las­sen, weni­ger den­ken und lei­den kann. Du bist leicht, fein und sicher über­aus rein, ohne Schuld, Kum­mer und die­se gro­ßen, grund­lo­sen Sor­gen, die mich bedrücken. Bring mir etwas von dei­ner Weis­heit bei. Der Mensch kennt nur die Gel­tung von Geld, Macht und Waf­fen und glaubt tat­säch­lich, er wäre daher über­aus wich­tig. Neben dir bin ich doch nur eine arm­se­li­ge Figur. Das erken­ne ich, wenn ich lan­ge unter den Men­schen stehe.«

Der Fluss: »Was ist los mit dir? Glaubst du wirk­lich, ich wäre frei? Ich bin eben­so im stän­di­gen Krieg. Ein­mal wer­de ich umge­lei­tet oder aus poli­ti­schen Grün­den gestoppt, ein ander­mal wird mein Tem­po ver­lang­samt und ich wer­de andau­ernd mit dem Müll der Mensch­heit gefüllt. Das mensch­li­che Ver­hal­ten ver­wirrt mich. Wer will die­se gan­ze mensch­li­che Gewalt?«

»Du schaust aber gesund und glän­zend aus.«

»Das ist der Schein, es lässt sich leicht himm­lisch aus­se­hen. Der Mensch will nichts lie­ber als das.«

»Wie gut, dass du sonst nicht sprichst, nur dein schö­nes Sein zeigst und des­halb viel nütz­li­cher sein kannst. Mensch­li­che Wor­te, Blicke kön­nen grau­sam sein, See­len ver­let­zen, gute Ener­gie in der Mensch­heit ver­nich­ten. Dei­ne Töne sind nicht so schwer wie Blei auf dem Her­zen, sie sind die Ruhe in sich. Ich lie­be dein hei­len­des Rau­schen. Dies ist für mich genug Frei­heit und Frieden.«

»Anschei­nend denkst du zu viel.«

»Ich kann nichts dafür, möch­te aber kei­nen Krieg mehr. Sein bru­ta­les Gesicht macht mich stets trau­rig. Ich will die Frei­heit, die lei­der nir­gends exi­stiert, möch­te die­se Lie­be, die sich ohne Erwar­tung erhält, die es allem Anschein nach nicht gibt, trach­te nach Gleich­heit, Gerech­tig­keit, die sel­ten jemand unbe­wusst akzep­tiert, mag die Wild­heit der Natur, die kaum Beach­tung erhält. Bist du tat­säch­lich nicht friedvoll?«

»Bist du tat­säch­lich so naiv? Wie soll­te mir das gelin­gen, wenn ich nicht ein­mal mich selbst im Griff habe, die Tie­re und Fische in mei­nen Gewäs­sern hart um ihren Bestand kämp­fen? Dies stört jeg­li­che Har­mo­nie in mir. Wofür aber die Mühe, das gan­ze Kopf­zer­bre­chen, wenn sel­ten jemand ande­re Wirk­lich­keit außer die­ser hier akzep­tiert, sel­ten jemand, der ein biss­chen Ein­fluss hat, etwas ande­res auf die­ser Erde will?

Sogar die Luft ist nicht gewalt­frei. Die Vögel wer­den zum Ver­gnü­gen oft vom Him­mel geschos­sen. Wenn sie flie­hen, weit weg­flie­gen, wer­den sie ent­we­der ver­folgt oder sie ver­hun­gern, weil ihnen die Natur nicht mehr aus­rei­chend Fut­ter bie­ten kann. Die Dür­re brei­tet sich aus, die Wäl­der wer­den ver­baut, die Flüs­se und Bäche trock­nen aus, weil man damit über­flüs­si­ge Ener­gie erzeu­gen will. So sind die Vögel auch abhän­gig, gar nicht frei, andau­ernd im Krieg. Und du willst in die­sem Sein, mit dei­nem win­zi­gen Gehirn, das dir nicht ganz gehört und über das du des­halb kei­ne Kon­trol­le hast, zwi­schen Gut und Böse, Krieg und Frie­den unterscheiden.«

»Es ist gar nicht leicht, wenn der Kopf sich am besten miss­brau­chen lässt. Könn­te sein, dass das mensch­li­che Wesen zu selbst­ge­recht, zu gefühl­los gewor­den ist und des­halb nicht in der Lage sein kann, ande­re Fak­ten zu ver­ste­hen, um mensch­lich, nach­hal­tig zu handeln?«

»Du bist eben ein Mensch! Ver­geu­de dein Leben nicht damit. Ein Fluss will, muss immer wei­ter­flie­ßen, hier und jetzt dies trotz allem genie­ßen. Außer­dem glau­be ich dir nicht, kaum gehst du eben­falls in die Poli­tik, willst du nur Macht und Krieg. Ich habe eini­ge Men­schen wie dich gekannt, die zuerst hef­tig gegen die selbst­süch­ti­ge Welt­ord­nung kämpf­ten, dann an der Macht waren, uns und dies alles ver­ga­ßen und ›brav‹ viel Geld mach­ten. Die Herr­schen­den die­ser Welt lie­ben anschei­nend den Krieg.

Übri­gens bin ich längst nicht so rein und fein, wie du glaubst. An mei­nen schön­sten Ufern kämpft man, tötet man Men­schen und Tie­re. Mei­ne See­le ist mit deren Blut befleckt. In mei­nem Abgrund fin­det man jede Men­ge Patro­nen­hül­sen, Bom­ben und son­sti­ge Reste des Kriegs. Ich tra­ge sei­nen grau­sa­men Geist in mir, er ist über­all mit mir, man trinkt all­seits aus mir. Wo ich nicht bin, bringt die Luft ihn mit sich, man atmet ihn ein, die­sen Geist des Krie­ges, somit sind wir weit und breit im Krieg und haben ihn end­los in uns. Du glaubst wirk­lich, du bist der ein­zi­ge Pazi­fist? Jeden Tag bete ich, dass dies alles end­lich auf­hört. Ich bin inzwi­schen alt und wei­se gewor­den, die Waf­fen wer­den wei­ter­pro­du­ziert, Krie­ge wer­den wei­ter­ge­führt, und ich ersticke im Müll.«

»Des­halb bin ich hier, möch­te etwas dage­gen, gegen die­se Rea­li­tät des Men­schen tun. Das kann doch nicht alles in die­sem Leben sein.«

»Das ist aber offen­sicht­lich alles. Wir sind im Lau­fe der Evo­lu­ti­on Mit­tä­ter die­ses Unfrie­dens gewor­den. Die gewohn­ten Wer­te blen­den, regen doch immer die höch­sten Gefüh­le in der Mensch­heit an, und wenn sie eben­falls oft das Böse in sich ver­ber­gen, wir­ken sie trotz­dem immer befrie­di­gend auf uns. Selbst­be­trug ist wahr­schein­lich das wah­re Gut und die ein­zi­ge Rea­li­tät hier. Dei­ne Sehn­sucht ist jen­seits die­ser mensch­li­chen Wirk­lich­keit ein­fach lächer­lich. Wer bist du über­haupt, dass du dich gegen den gewohn­ten Wil­len der Mensch­heit auf­lehnst? Hör am besten gleich damit auf. Lass uns jetzt lie­ber tan­zen und lachen.«

Als ich aus dem Traum auf­wach­te, hör­te ich die Natur, das Was­ser rausch­te, die Vögel zwit­scher­ten über mir. Sie spra­chen ver­mut­lich laut zu mir. Mein Geist war doch wie­der in dem klei­nen Raum mei­nes Kopfs ein­ge­sperrt, gefes­selt, nicht fähig zu etwas ande­rem: »Ich will flie­ßen, wehen, flie­gen, um die­ser mensch­li­chen Star­re end­lich zu entfliehen.«

Dilan Can­baz wur­de 1973 in Sulai­ma­ni­yya im ira­ki­schen Kur­di­stan gebo­ren, kam mit 22 Jah­ren nach Graz, schreibt und ver­öf­fent­licht seit 2018.