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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Fuchs, Wolf, Bär, Löwe, Floh

Es gibt ein Mär­chen vom Hähn­chen, das ein Hühn­chen begra­ben muss­te. Es leg­te die­ses auf einen Wagen, und der wird über einen Sumpf zum Fried­hof gezo­gen. Unter­wegs bit­ten ein Fuchs, ein Wolf, ein Bär und ein Löwe dar­um, auf­sit­zen und mit­fah­ren zu dür­fen. Das wird ihnen erlaubt, eben­so am Ende auch noch einem Floh. Der aber war zu viel: Der Wagen versinkt.

Auf den ersten Blick sieht es so aus, als sei der Floh die Vor­aus­set­zung der Kata­stro­phe gewe­sen. Ohne ihn wäre der Wagen ans Ziel gekom­men. Ande­rer­seits: Erst die Last von Fuchs, Wolf, Löwe und Bär war die Ursa­che dafür, dass am Ende das win­zi­ge Insekt nicht mehr trag­bar gewe­sen ist.

Was hat das mit dem Coro­na­vi­rus zu tun? Natür­lich nichts, es sei denn, man nimmt die Geschich­te vom Hähn­chen, das das Hühn­chen begra­ben woll­te, als Metapher.

Öko­no­men spre­chen manch­mal von »exter­nen Schocks«. Das sind Ereig­nis­se jen­seits des Wirt­schafts­le­bens, die über die Märk­te her­fal­len und sie durch­ein­an­der­brin­gen. Ein Bei­spiel könn­te der Beginn des Ersten Welt­kriegs sein. Wäre er nicht aus­ge­bro­chen, hät­te es mit der (angeb­lich) Guten Alten Zeit so wei­ter­ge­hen kön­nen wie davor. Dumm gelaufen.

Zwei­fel an die­ser Ver­si­on sind ange­bracht. Auch 1914 waren Fuchs, Wolf, Löwe und Bär schon vor­her da. Die impe­ria­li­sti­schen Mäch­te hat­ten sich längst inein­an­der ver­keilt. Ohne ihren per­ma­nen­ten Kon­flikt hät­ten die Schüs­se von Sara­je­wo nicht zu welt­po­li­ti­schen Kon­se­quen­zen geführt. Der Schock war wohl gar nicht extern, son­dern hat­te inter­ne Voraussetzungen.

Zurück in die Gegen­wart. Spä­te­stens seit dem Amts­an­tritt von Donald Trump mit sei­ner Poli­tik des »Ame­ri­ca first« wird immer neu kon­sta­tiert, die Ära der welt­wei­ten Frei­zü­gig­keit für Waren, Kapi­tal und Arbeits­kräf­te, die in den 1990er Jah­ren nach dem Ende der Block­kon­fron­ta­ti­on ein­setz­te, sei vor­bei. Damit zer­fiel die ange­streb­te libe­ra­le Glo­ba­li­sie­rung in neue Abschot­tun­gen, Han­dels­krie­ge, Behin­de­rung von Migra­ti­on. Alle Aus­ein­an­der­set­zun­gen dar­über wur­den mit öko­no­mi­schen, poli­ti­schen und mora­li­schen Argu­men­ten geführt. Auch das ist jetzt zumin­dest für ein paar Mona­te, wenn nicht län­ger, pas­sé. Aber man hat jetzt eine ande­re Aus­re­de: Der Kampf gegen die Aus­brei­tung des Virus mache – das ist die offi­zi­el­le Mei­nung – aus tech­ni­schen Grün­den rigo­ro­se Grenz­schlie­ßun­gen alter­na­tiv­los. So wird ein Trend fort­ge­setzt und ver­schärft, der sich bereits vor­her ange­bahnt hatte.

Das gilt auch für die Kon­junk­tur­ent­wick­lung: Dass die wirt­schaft­li­che Erho­lung, die nach der Kri­se von 2008/​09 ein­ge­setzt hat­te und durch die Geld­po­li­tik der Euro­päi­schen Zen­tral­bank ab 2012 am Ver­puf­fen gehin­dert wur­de, irgend­wann einer der übli­chen peri­odi­schen Rezes­sio­nen wei­chen müs­se, ist nach cir­ca zehn Jah­ren erwar­tet wor­den, ab 2018 häuf­ten sich die Crash-Pro­gno­sen. Der Schwar­ze Don­ners­tag – die Bör­sen­pa­nik vom 12. März 2020 – wur­de zwar durch die Furcht vor dem Coro­na­vi­rus aus­ge­löst. Aber sonst hät­te ein ande­res Ereig­nis irgend­wann dazu geführt.

Bei den nun gebo­te­nen Qua­ran­tä­ne- und ande­ren Vor­sichts­maß­nah­men bemer­ken Unter­neh­men und Behör­den, dass kör­per­li­che Prä­senz der Beschäf­tig­ten am Arbeits­platz nicht immer zwin­gend erfor­der­lich ist. Statt­des­sen: Home­of­fice. Indu­strie­ar­bei­ter haben die­se Mög­lich­keit nicht, hier soll es Kurz­ar­bei­ter­geld geben. Für den Teil des Kul­tur­pre­ka­ri­ats, das auf Life-Auf­trit­te ange­wie­sen ist, sieht es trü­be aus.

Wenn irgend­wann die Kri­se vor­bei ist, kann sor­tiert wer­den: Wer wird noch gebraucht, wer nicht? Fra­gen, die vor­her ver­drängt wur­den, sind zu beant­wor­ten. Dann wird man wis­sen: Es war mal wie­der eine soge­nann­te Reinigungskrise.

In ihrer Zuspit­zung wur­de also eine Ent­wick­lung deut­li­cher sicht­bar, die schon da war. Wer übrig bleibt, wird nicht allein Muße haben, auf den Floh zu star­ren, son­dern hof­fent­lich auch Gele­gen­heit, über Fuchs, Wolf, Bär und Löwe nach­zu­den­ken: alle­samt Raubtiere.

Sie haben ihren Scha­den lan­ge vor der aku­ten Kri­se ange­rich­tet. Im Juli 2019 gab die Ber­tels­mann-Stif­tung bekannt, eine bes­se­re Kran­ken­ver­sor­gung sei mit der Hälf­te der bestehen­den Kli­ni­ken mög­lich. Damit stieß sie, was ohne­hin schon fiel: Betriebs- und Fis­kal­wirt­schaft ent­schie­den dar­über, was gebraucht wer­de und was ent­behr­lich sei – wäh­rend auf ande­ren Gebie­ten über Nach­hal­tig­keit geschwatzt wur­de. Als Resul­tat wird in der aktu­el­len Not­fall­si­tua­ti­on die Kran­ken­haus-Infra­struk­tur knapp, die aus­rei­chend vor­zu­hal­ten man für über­flüs­sig gehal­ten hatte.

Das kalt erwisch­te poli­ti­sche Per­so­nal sieht sich Knall auf Fall genö­tigt, den Aus­nah­me­zu­stand aus­zu­ru­fen, und wirft sich wich­tig­tue­risch in Posi­tur. Plötz­lich spielt Geld kei­ne Rol­le mehr, die schwar­ze Null zumin­dest kurz­fri­stig auch nicht. Die Auf­wen­dun­gen in Mil­li­ar­den­hö­he, die zur Scha­dens­be­gren­zung ver­spro­chen wer­den, könn­ten – viel­leicht – die fäl­li­ge Wirt­schafts­kri­se noch ein­mal sus­pen­die­ren oder dämp­fen. Denn nicht jeder Bör­sen­krach muss zwin­gend zum Zusam­men­bruch der Real­wirt­schaft füh­ren, auch nicht die Panik vom 12. März.

Doch die Dino­sau­ri­er sind eben­falls nicht faul. Zum Bei­spiel der Öko­nom Tho­mas Straub­haar. Er schlägt vor, die Alten, Kran­ken und Schwa­chen von den Jun­gen und Kräf­ti­gen zu iso­lie­ren. Letz­te­re sol­len in Kon­takt zuein­an­der blei­ben, sich unter ärzt­li­cher Kon­trol­le infi­zie­ren und geheilt wer­den. Die Untüch­ti­gen dür­fen aussterben.

In schlei­chen­der Form könn­te das jetzt schon begin­nen. Seit Mit­te März machen Knei­pen, Dis­cos, Clubs dicht. Fuß­ball­spie­le fin­den nicht mehr statt und kön­nen des­halb nicht im Fern­se­hen ver­folgt wer­den. Zu Hau­se dürf­te es Ehe­paa­ren lang­wei­lig wer­den. Ab Dezem­ber mag es mehr Babys geben. Zusam­men mit dem schnel­le­ren Abster­ben der Alten ändert sich die demo­gra­fi­sche Bilanz. Die ist seit Jahr­zehn­ten schon ein hei­ßes Thema.

Wei­ter: Die unge­heu­re Geld­ver­meh­rung und -ent­wer­tung durch die Zen­tral­ban­ken rui­niert die Spar­kon­ten und lässt die Eigentümer(innen) von Sach­ver­mö­gen (Immo­bi­li­en!) gut daste­hen. Auch da beschleu­nigt sich etwas, was schon lan­ge auf dem Weg ist.

Wei­ter so? Viel­leicht. Denk­bar ist aber auch, dass – wie nach der Welt­wirt­schafts­kri­se von 1929 – jetzt eine von der Not erzwun­ge­ne keyne­sia­ni­sche Wen­de ein­tritt: mehr nach­hal­ti­ge staat­li­che Kon­junk­tur­stüt­zung sowie nach­fra­ge­ori­en­tier­te Ein­kom­mens-, Ver­tei­lungs- und Beschäf­ti­gungs­po­li­tik. Dass die unver­meid­lich sei, hat­ten schon vor der Coro­na­kri­se eini­ge Spat­zen von den Dächern gepfif­fen. Es drängt etwas an die Ober­flä­che, was längst gebo­ten war. Falls es sich durch­set­zen soll­te, wäre der Floh, öko­no­misch gese­hen, sogar eher nütz­lich als schäd­lich gewesen.