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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Anni Ruggenti

Er ist wie­der da. Auf dem Buch­um­schlag genügt ein zwölf Zen­ti­me­ter hohes und sie­ben Zen­ti­me­ter brei­tes über­di­men­sio­na­les »M«, um den »Sohn des Jahr­hun­derts« – so der Unter­ti­tel – zu iden­ti­fi­zie­ren. »M«. Mussolini.

Der Duce hat es erneut in die ita­lie­ni­schen Bücher­re­ga­le und Best­sel­ler­li­sten geschafft: als Prot­ago­nist eines auf drei Bän­de ange­leg­ten doku­men­ta­ri­schen Romans, des­sen erster Teil 2018 in Ita­li­en und in die­sem Früh­jahr auf Deutsch erschie­nen ist. Sein Autor, der 1969 in Nea­pel gebo­re­ne und an der Uni­ver­si­tät Mai­land leh­ren­de Medi­en­wis­sen­schaft­ler Anto­nio Scu­ra­ti, will damit die Geschich­te des ita­lie­ni­schen Faschis­mus erzählen.

Und dies mit hohem Anspruch: Ereig­nis­se und Per­so­nen sei­en nicht der Fan­ta­sie des Autors ent­sprun­gen. Sämt­li­che Bege­ben­hei­ten, Per­so­nen, Dia­lo­ge oder Reden sei­en histo­risch belegt oder bezeugt. Der Roman blei­be den­noch »eine Erfin­dung, die sich aus dem Fun­dus der Wirk­lich­keit bedient. Aller­dings nicht willkürlich«.

Für den vor­lie­gen­den ersten Teil der geplan­ten Tri­lo­gie erhielt Scu­ra­ti 2019 den wich­tig­sten Lite­ra­tur­preis Ita­li­ens, den Pre­mio Stre­ga. Zu den frü­he­ren Preis­trä­gern die­ser 1947 erst­mals ver­lie­he­nen Aus­zeich­nung gehö­ren solch nam­haf­te Autorin­nen und Autoren wie Cesa­re Pave­se, Alber­to Mora­via, Elsa Moran­te, Toma­si di Lam­pe­du­sa, Nata­lia Ginz­burg und Umber­to Eco.

Die Hand­lung setzt im Jahr 1919 ein. Ita­li­en gleicht einem poli­ti­schen Trüm­mer­feld, wie so vie­le Staa­ten nach dem Ersten Welt­krieg. Sozia­li­sti­sche und rechts­na­tio­na­le Grup­pen erhal­ten Zulauf. Fru­strier­te Kriegs­heim­keh­rer zie­hen durchs Land auf der Suche nach Auto­ri­tät und Füh­rer­tum und Gefolg­schaft, die ihnen die vom Krieg geschwäch­te Regie­rung nicht bie­ten kann: eine »Ansamm­lung Kopf­lo­ser und Entwurzelter«.

Der Roman beginnt mit einem inne­ren Mono­log Beni­to Mus­so­li­nis, eine Erzähl­tech­nik in Ich-Form, die Scu­ra­ti spä­ter häu­fig ein­setzt, um Ein­blicke in die Denk- und Gefühls­welt sei­ner Haupt­fi­gur zu geben.

Es ist der 23. März 1919, die Grün­dung der Kampf­bün­de steht bevor, M. soll im Saal des Indu­strie- und Han­dels­ver­ban­des eine Rede hal­ten und reflek­tiert die Situa­ti­on. Euro­pa ist eine lee­re Büh­ne, die bis­he­ri­gen Leit­fi­gu­ren haben ver­spielt: »Die alten Män­ner wer­den von jener rie­si­gen Mas­se über­rollt, vier Mil­lio­nen Kämp­fer, die gegen die Lan­des­gren­zen drän­gen, vier Mil­lio­nen Heim­keh­rer. Man muss mit­ge­hen, vor­an­schrei­ten… Eine Ära ist zu Ende, und eine neue ist ange­bro­chen. Ich bin der Mann des ›Danach‹. Die Zukunft gehört uns … Ich bin wie ein Tier: Ich wit­te­re die kom­men­de Zeit.«

Zehn Jah­re zuvor stand Mus­so­li­ni noch auf der ande­ren Sei­te, begann in sei­ner Hei­mat­pro­vinz For­lì-Cese­na in Ober­ita­li­en den Par­ti­to Socia­li­sta Ita­lia­no (PSI) zu orga­ni­sie­ren. 1912 über­nahm er die Chef­re­dak­ti­on des Zen­tral­or­gans »Avan­ti!«, des­sen Auf­la­ge unter sei­ner Lei­tung von 20.000 auf 100.000 anstieg.

»Manch alter Weg­ge­fähr­te und Bewun­de­rer gesteht noch heu­te, dass kei­ner die See­le des Pro­le­ta­ri­ats bes­ser ver­stand und zu deu­ten wuss­te als er«, heißt es sie­ben Jah­re spä­ter in einem Bericht des Gene­ral­inspek­teurs für öffent­li­che Sicher­heit. Eines von vie­len histo­ri­schen Doku­men­ten, mit denen Scu­ra­ti immer wie­der die Hand­lung unterfüttert.

Der Bruch mit der sozia­li­sti­schen Par­tei kam abrupt: »Als er im Zuge sei­nes mili­tan­ten revo­lu­tio­nä­ren Aktio­nis­mus im Okto­ber 1914 den Krieg als Mög­lich­keit zur Revo­lu­ti­on bezeich­ne­te und den Ein­tritt Ita­li­ens in den Krieg for­der­te, schloss ihn der PSI, der für die strik­te Neu­tra­li­tät Ita­li­ens ein­trat, aus sei­nen Rei­hen aus« (Zitat aus: Brock­haus, Enzy­klo­pä­die, Bd. 15).

Zurück zum 23. März 1919. An die­sem Tag wur­de in Mai­land die Bewe­gung Fascio di com­bat­ti­men­to gegrün­det, die zwei Jah­re spä­ter zum Par­ti­to Nazio­na­le Fasci­s­ta umbe­nannt wur­de. Die natio­na­li­sti­schen und anti­de­mo­kra­ti­schen Kräf­te, aber auch das Bür­ger­tum hat­ten eine neue Leit­fi­gur, und im Bünd­nis mit den Libe­ra­len (sic!) gelang­te M. an der Spit­ze von 21 faschi­sti­schen Abge­ord­ne­ten ins Parlament.

All dies schil­dert Scu­ra­ti minu­ti­ös in einer bild­haf­ten Spra­che, eben­so wie den fol­gen­den anti­so­zia­li­sti­schen Ter­ror faschi­sti­scher Gewalt­tä­ter sowie den »Marsch auf Rom«, in des­sen Tagen der ita­lie­ni­sche König Mus­so­li­ni zum Mini­ster­prä­si­den­ten ernann­te. In der neu­en Regie­rung hat­te zwar das kon­ser­va­ti­ve Lager die Mehr­heit, die Schlüs­sel­mi­ni­ste­ri­en jedoch lagen in der Hand der Faschisten.

Das Buch schließt mit dem 3. Janu­ar 1925: In der Abge­ord­ne­ten­kam­mer des Par­la­ments des Rei­ches steht Mini­ster­prä­si­dent Mus­so­li­ni unter Druck. Zu schlimm hat­ten es die faschi­sti­schen Ter­ror­grup­pen getrie­ben. »Seit zwei Tagen hat das Land Herz­kam­mer­flim­mern, die Gerüch­te über den Rück­tritt des Prä­si­den­ten rei­ßen nicht ab, die Stra­ßen hal­len von anti­fa­schi­sti­schem Getö­se wider.«

Doch alle haben M. unter­schätzt. Die­ser zückt das Hand­buch der Abge­ord­ne­ten, zitiert aus dem Sta­tut, das es den Abge­ord­ne­ten ermög­li­chen könn­te, die könig­li­chen Mini­ster anzu­kla­gen und sie dem Ober­sten Gericht zu über­stel­len, und fragt, wer davon Gebrauch machen möch­te. Schweigen.

Mus­so­li­ni hebt an zur schein­ba­ren Selbst­an­kla­ge: »Wenn der Faschis­mus nur Rizi­nus­öl und Schlag­stock war und nicht heh­re Lei­den­schaft der besten ita­lie­ni­schen Jugend, dann ist das mei­ne Schuld! Wenn der Faschis­mus eine kri­mi­nel­le Ban­de war, dann bin ich der Anführer!«

Nie­mand steht zur Ankla­ge auf, und Mus­so­li­ni »hebt das Kinn zum Hori­zont, schwellt die Brust und zieht sei­ne Schlüs­se … Er, der star­ke Mann, ver­spricht, die Situa­ti­on in den acht­und­vier­zig Stun­den, die sei­ner Rede fol­gen, ›flä­chen­deckend zu klären«.

830 Sei­ten sind pas­sé. Und ich bin mir sehr unsi­cher, ob der Autor, der sich, mono­lo­gi­sie­rend, im Kopf sei­nes Prot­ago­ni­sten beweg­te, bei die­ser Bewusst­seins-Nähe es stets geschafft hat, Distanz zu wah­ren, oder, wie es der Lite­ra­tur­kri­ti­ker Tho­mas Stein­feld in der Süd­deut­schen Zei­tung for­mu­lier­te, »der Leser am Ende nicht recht weiß, ob er ein Werk der Kri­tik oder ein Werk der Fas­zi­na­ti­on gele­sen hat«.

Trotz die­ser Anmer­kung, die dem Autor viel­leicht Unrecht tut, ist der Roman als Stu­die über das Wer­den einer poli­ti­schen gewalt­tä­ti­gen Bewe­gung unter Mit­hil­fe oder Dul­dung von König, Kir­che und Armee, von Wirt­schaft und staat­li­cher Ver­wal­tung lesens­wert, denn er zeigt bei­spiel­haft die schlei­chen­de Durch­drin­gung einer Gesell­schaft in den »Anni Rug­gen­ti«, den »Brül­len­den Jah­ren«, durch rech­tes Gift und völ­kisch-natio­na­li­sti­sche Ideologie.

 

Anto­nio Scu­ra­ti: »M. Der Sohn des Jahr­hun­derts«, aus dem Ita­lie­ni­schen von Vere­na von Kos­kull, Klett-Cot­ta, 830 Sei­ten, 32 €. Anmer­kung: »Anni Rug­gen­ti« ist in Ita­li­en das Pen­dant für die hier­zu­lan­de bekann­te­re Bezeich­nung »Die Gol­de­nen Zwan­zi­ger« und außer­dem der Titel einer ita­lie­ni­schen Film­ko­mö­die aus dem Jahr 1962, die wäh­rend der faschi­sti­schen Peri­ode unter Mus­so­li­ni spielt.