Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Geh sterben, Opa

Frau­ke M. war eine intel­li­gen­te, ehr­gei­zi­ge Schü­le­rin. Wenn sie in man­chen Fächern, etwa in Che­mie, nur eine »Zwei« bekam, tra­ten ihr Trä­nen in die Augen. Spä­ter hat sie in die­sem Fach promoviert.

Ich war ihr Leh­rer, eine Zeit­lang in Reli­gi­on, vor allem aber in Lite­ra­tur. Sie konn­te fan­ta­sie­voll Erzäh­lun­gen schrei­ben. Nach dem Abi hei­ra­te­te sie einen ande­ren Schü­ler aus ihrer Jahr­gangs­stu­fe, Sven Petry, der heu­te ein exzel­len­ter Theo­lo­ge ist, und trat zur Über­ra­schung vie­ler in die AfD ein. Dort wur­de sie letzt­lich Vor­sit­zen­de. Das war nicht der Weg, den ich mir für mei­ne Schü­ler wünsche.

In einem Inter­view für die Zeit habe ich sie, neben mei­ner Kri­tik an ihrer Par­tei, den­noch gelobt als eine intel­li­gen­te Frau.

2016 kam es dann zu einer fol­gen­schwe­ren Pres­se­kon­fe­renz in Ber­lin. Die AfD hat­te bei zwei Land­tags­wah­len lei­der gut abge­schnit­ten und war mit vie­len Abge­ord­ne­ten in die Lan­des­par­la­men­te ein­ge­zo­gen. Frau­ke wur­de zu die­sem Erfolg und zur Poli­tik der AfD befragt und sag­te u. a., dass die Eth­ni­sie­rung der Gewalt in man­chen Städ­ten zu »No-Go-Are­as« geführt habe. Die Fra­ge eines Jour­na­li­sten, ob sie sol­che Berei­che ken­ne, bejah­te sie und nann­te als Bei­spiel die Städ­te Kamen (wo ich woh­ne) und Berg­ka­men (wo sie zur Schu­le gegan­gen ist). Das mach­te mich wütend, denn von »No-Go-Are­as« in mei­nem direk­ten Umfeld hat­te ich noch nie etwas bemerkt. Aber ich war vor­sich­tig und rief, bevor ich dar­auf reagier­te, zuerst mal mei­nen ehe­ma­li­gen Schü­ler Mike an, der Bezirks­po­li­zist in Berg­ka­men ist, und frag­te ihn, was dar­an sei. Mike, stell­te sich her­aus, war genau­so wütend wie ich.

»Herr Peuck­mann«, rief er, »ich gehe in Uni­form und allein in jede Ecke der Stadt, es ist mir noch nie etwas pas­siert. Kei­ne Gewalt, nicht mal beschimpft wer­de ich. Alles ist hier völ­lig unge­fähr­lich. Das ist eine üble Lüge.«

Sie hat­te also nicht nur mich pro­vo­ziert, son­dern auch noch den Berg­ka­me­ner Bezirks­po­li­zi­sten belei­digt. Sie hat­te so getan, als wür­de Mike sei­ne Arbeit nicht erle­di­gen können.

Ich setz­te mich an mei­nen Com­pu­ter und schrieb einen Text für Face­book, bestritt die Aus­sa­ge von den »No-Go-Are­as« und hielt ihr vor: ande­ren Leu­ten Lügen­pres­se vor­wer­fen und sel­ber lügen, wenn es dem eige­nen men­schen­ver­ach­ten­den Welt­bild nützt, das wür­de pas­sen. Frau­ke sei zwar eine intel­li­gen­te, aber nicht klu­ge Frau, denn zu Klug­heit gehö­re Moral, und die kön­ne ich bei ihr nicht erken­nen. Ich wür­de mich immer freu­en, wenn ich ehe­ma­li­ge Schü­ler tref­fen wür­de, auf eine Begeg­nung mit Frau­ke wür­de ich ver­zich­ten. Das sei nicht mein Niveau.

So, das war ein­deu­tig. Dann ging ich in die Stadt, in mein Lieb­lings­ca­fé, um das Hei­mat­blätt­chen zu lesen. Als ich nach gut einer Stun­de zurück­kam, emp­fing mich mein älte­ster Sohn stöh­nend mit dem Satz: »Es ist gut, dass du kommst, Papa. Hier tobt der Bär. Gera­de hat BBC Lon­don angerufen.«

Ich dach­te, er macht einen Spaß, aber nein, es war wirk­lich so, BBC hat­te ange­ru­fen. Und dann klin­gel­te pau­sen­los das Tele­fon, alle gro­ßen Zei­tun­gen rie­fen an, auch ver­schie­de­ne Radio­sen­der. Alle woll­ten ein State­ment von mir, aber ich gab kei­nes mehr. Ich hat­te mei­ne Mei­nung doch gesagt, man konn­te es nach­le­sen, es gab nichts hinzuzufügen.

Anfangs hat­te ich geglaubt, mit den Pres­se­an­fra­gen wür­de sich die Sache beru­hi­gen. Aber dem war nicht so. Als ich bei Face­book nach­schau­te, glaub­te ich mei­nen Augen nicht zu trau­en. Hun­der­te Kom­men­ta­re waren inzwi­schen abge­ge­ben wor­den, unglaub­lich vie­le Likes hat­te ich erhalten.

Am Ende, nach Wochen, hat­ten 1,2 Mil­lio­nen Men­schen mei­nen Face­book-Ein­trag gele­sen, ich hat­te 21.000 Likes, aber auch unglaub­lich vie­le Hass­kom­men­ta­re. Ich erleb­te einen Shits­torm, der sich gewa­schen hat­te und den ich nie­man­dem wün­sche. Es gibt kein Kör­per­teil an mir, an dem ich nicht auf­ge­hängt wer­den soll­te, ich sei ein Ver­sa­ger, der sei­ner ehe­ma­li­gen Schü­le­rin nicht den Erfolg gön­ne, über­haupt sei ich die­ses oder jenes. Vor allem mit Tie­ren wur­de ich verglichen.

Gedroht wur­de auch. Man wür­de mich schon erwi­schen und dann wür­de ich bezah­len müs­sen. Einer schrieb: Geh ster­ben, Opa. Ster­ben, dach­te ich, ist ja in Ord­nung, aber Opa ist eine Sauerei.

Ich hat­te von Shits­torms gele­sen, wie sie Leu­te äng­sti­gen, sel­ber einen zu erle­ben, ist aber noch was ande­res. Ich zöger­te tage­lang, ins Inter­net zu gehen. Was wür­de da jetzt wie­der an Het­ze ste­hen? Die Zei­tungs­ar­ti­kel waren ein­deu­tig. Frau­ke Petri, Rüge von ihrem Leh­rer, stand da. Aber auch in sogar seriö­sen Zei­tun­gen fand ich den Kom­men­tar, dass man als Leh­rer so etwas nicht machen dür­fe. Nie­mals dür­fe ein Leh­rer sei­ne Schü­le­rin der­ar­tig in aller Öffent­lich­keit kri­ti­sie­ren. Dabei hat­te ich ja nicht eine ehe­ma­li­ge Schü­le­rin kri­ti­siert, son­dern eine AfD-Poli­ti­ke­rin, die mal mei­ne Schü­le­rin gewe­sen war. Das ist ein Unterschied.

Als ich mei­nen jüng­sten Sohn nach eini­gen Tagen der Beschimp­fun­gen befrag­te, ob ich den Ein­trag löschen soll­te, wink­te der ab: »Aber Papa, tu das nicht. Das ist doch lustig.«

Das war ein guter Hin­weis, der mir half. Ich ent­wickel­te eine Stra­te­gie, wie ich damit fer­tig wer­den konn­te. Vie­les nahm ich mit Humor, ich las auch nicht alles, die Beschimp­fun­gen wie­der­hol­ten sich, das war lang­wei­lig. Vor allem bau­ten mich die zustim­men­den Kom­men­ta­re auf, dar­un­ter auch vie­le von mei­nen Schü­lern: »So ken­nen wir Sie, Herr Peuck­mann, sie haben immer mutig ihre Mei­nung gesagt.« Es tauch­te sogar der Satz auf, dass sie stolz sei­en, so einen Leh­rer gehabt zu haben. Das schmei­chel­te mir natür­lich und wog Hun­der­te an Hass­kom­men­ta­ren auf.

Trotz­dem, ab und an trat ich ans Fen­ster und schau­te, ob sich dort unten Men­schen ver­sam­mel­ten. Es kam aber kei­ner. Ich begriff das System. Die Anony­mi­tät macht vie­le schwa­che und dümm­li­che Cha­rak­te­re mutig, aber sich zei­gen wol­len sie nicht.

Ich wur­de ruhi­ger und am Ende dach­te ich wie mein jüng­ster Sohn: Das ist doch lustig.

Und der Zuspruch hat mich auf­ge­baut. Irgend­wann in die­ser Zeit traf ich Frau­kes ehe­mals beste Freun­din, mal hat Frau­ke zu Mit­tag bei ihren Eltern geges­sen, mal war es umge­kehrt. Als sie mich sah, kam sie, inzwi­schen Apo­the­ke­rin in Würz­burg, ange­lau­fen, nahm mich in den Arm und drück­te mich.

»Dass Sie das gemacht haben, Herr Peuck­mann, wir haben uns alle gefreut.« Ja, an unse­rer Schu­le hat­te Frau­ke kei­ne Freun­de mehr. Wir sei­en, schrieb die Zeit, ein »sozi­al­de­mo­kra­ti­sches Gym­na­si­um«. Naja, so ein­fach ist es nicht, aber in der Ten­denz ist schon etwas daran.

Ich ging irgend­wann sonn­tags in einen Got­tes­dienst, der Pfar­rer pre­dig­te über Mit­mensch­lich­keit und sah plötz­lich mich an. »Hein­rich, was du da gera­de erlebst«, sag­te er mit­ten in sei­ner Pre­digt, »das ist unge­heu­er­lich. Schreck­lich, was du aus­hal­ten musst. Aber glau­be mir, alle in unse­rer Gemein­de ste­hen hin­ter dir.« Die Got­tes­dienst­be­su­cher dreh­ten sich um zu mir, nick­ten, und es gab wirk­lich Applaus.

Des­halb bin ich im Rück­blick gar nicht mehr so sicher, was ich damals erlebt habe. Einen Shits­torm mit Tau­sen­den an Beschimp­fun­gen, mit Dro­hun­gen, Belei­di­gun­gen sowie­so, mit Tief­punk­ten mensch­li­chen Ver­hal­tens, so dass man sich für die­se Leu­te schä­men muss.

Oder habe ich eine Wel­le an Zustim­mung, an Bestä­ti­gung mei­nes Weges erfah­ren, den ich immer gegan­gen bin. Je mehr Zeit ver­strich, desto mehr neig­te ich die­ser Bewer­tung zu.

Trotz­dem, ich will es nicht klein­re­den. Was ich erlebt habe, ging schon an die Sub­stanz. Ein Dau­er­bom­bar­de­ment gegen mei­ne Per­son! Ich hat­te zu jener Zeit eine Lesung in einem Kul­tur­ca­fé in Leip­zig und gebe zu, dass ich mich vor Beginn in eini­ger Ent­fer­nung auf­ge­stellt und beob­ach­tet habe, wer dort hin­ein­ging oder sich davor ver­sam­mel­te. Es kam aber nur das fran­zö­si­sche Fern­se­hen, und ich begrüß­te sie, indem ich mei­ne Freu­de aus­drück­te, dass sie über mei­nen neu­en Roman berich­ten wollten.

Die bei­den Repor­ter waren etwas irri­tiert, dann lach­ten sie. Nein, sie woll­ten ein State­ment zu Frau­ke Petry. Ja, wer hät­te das gedacht? Gut, es waren Wochen ver­stri­chen seit mei­nem Post und ich gab einen Kom­men­tar ab, in dem ich Frau­ke und die AfD deut­lich kri­ti­sier­te, in dem ich aber auch sag­te, dass es wohl doch noch einen Unter­schied zwi­schen Frau­ke und Mari­ne Le Pen gebe. Gut, dass war viel­leicht der alten, längst ver­flo­ge­nen Zunei­gung zu mei­ner ehe­ma­li­gen Schü­le­rin geschul­det. Ich bin nach­tra­gend, das stimmt, aber nur, wenn ich sel­ber übel belei­digt und in mei­nem Stolz ver­letzt wer­de. Dann bin ich ein Ele­fant. Bei Frau­ke war es etwas anders.

Irgend­wann, dar­über habe ich mich gefreut, rief Frau­kes Mann Sven an, von dem sie sich damals schon getrennt hat­te. Nein, die Wen­de sei­ner Ex-Frau konn­te auch Sven nicht rich­tig erklären.

Ich weiß noch, dass wir nur kurz über mei­nen Face­book-Ein­trag gere­det haben, den er rich­tig fand, dann trat wie­der nach vorn, was uns in der Schu­le bewegt hat­te. Das gei­sti­ge Leben. Sven ist inzwi­schen Super­in­ten­dent der evan­ge­li­schen Kir­che in der Nähe von Dres­den, sei­ne Dok­tor­ar­beit hat er über die Ent­wick­lung des Got­tes­be­grif­fes wäh­rend der Land­nah­me, also zur Mose-Zeit, geschrie­ben. Ein viel beach­te­tes Werk, ich bin stolz auf die­sen ehe­ma­li­gen Schüler.

Frau­ke sel­ber hat sich übri­gens nie­mals bei mir gemel­det. Muss auch nicht sein.