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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Propaganda gegen Kriegsmüdigkeit

Bald wird nicht nur die Raum­tem­pe­ra­tur sin­ken; das sozia­le und poli­ti­sche Kli­ma droht eisig zu wer­den. Im Land herrscht ein Hur­ra-Mili­ta­ris­mus (Hel­mut Sch­eben), und der Feind steht nicht nur im Osten, son­dern auch in der Hei­mat. Das Bun­des­amt für Ver­fas­sungs­schutz (BfV) warnt laut dpa vor ver­stärk­ter Pro­pa­gan­da. Russ­land nut­ze »Fra­gen der Ener­gie­ver­sor­gung Euro­pas als hybri­den Hebel«, schü­re Angst vor dro­hen­der Ener­gie- und Lebens­mit­tel­knapp­heit. Und: »Rus­si­sche Pro­pa­gan­da wird im extre­mi­sti­schen Milieu vor­aus­sicht­lich noch zuneh­men und Ver­schwö­rungs­nar­ra­ti­ve befeu­ern mit dem Ziel, einen Keil in unse­re Gesell­schaft zu trei­ben.« Die bedroh­li­che wirt­schaft­li­che Lage ber­ge, so das BfV, ein hohes Instru­men­ta­li­sie­rungs­po­ten­ti­al für Rechts- und Links­extre­mi­sten, aber auch für »Ver­fas­sungs­fein­de, die kei­ner der bei­den Kate­go­rien zuzu­rech­nen sind«.

Deutsch­land ist Kriegs­par­tei, und der Staat rüstet nicht nur die Bun­des­wehr und die Ukrai­ne mas­siv auf; er rüstet sich auch im Inne­ren gegen alle, die gegen die­se Poli­tik der Mili­ta­ri­sie­rung und syste­ma­ti­schen Ver­ar­mung pro­te­stie­ren. Für sie hält das BfV den Stem­pel »ver­fas­sungs­re­le­van­te Dele­gi­ti­mie­rung des Staa­tes« bereit. Nicht Armut und Ungleich­heit zer­stö­ren den gesell­schaft­li­chen Zusam­men­halt, nicht Auf­rü­stung und welt­wei­te Expan­si­on des Mili­tärs schaf­fen Miss­trau­en, Feind­schaft und Kon­flik­te, son­dern die Ver­rä­ter im Land. Ihnen gilt die Feind­er­klä­rung. Bun­des­in­nen­mi­ni­ste­rin Faeser: »Demo­kra­tie­fein­de war­ten nur dar­auf, Kri­sen zu miss­brau­chen, um Unter­gangs­fan­ta­sien, Angst und Ver­un­si­che­rung zu verbreiten.«

Der von Russ­land finan­zier­te Sen­der RT DE wur­de ver­bo­ten, die lin­ke Tages­zei­tung jun­ge Welt steht schon lan­ge unter Beob­ach­tung des Bun­des­am­tes für Ver­fas­sungs­schutz, und die kri­ti­sche Web­site Nach­Denk­Sei­ten (NDS) gerät unter Beschuss: Das Bun­des­fa­mi­li­en­mi­ni­ste­ri­um und die Bun­des­zen­tra­le für poli­ti­sche Bil­dung finan­zier­ten eine »Geg­ner­ana­ly­se« des »Zen­trums libe­ra­le Moder­ne«, das damit »system­op­po­si­tio­nel­le« Medi­en ana­ly­sie­ren und über­wa­chen will, zu denen die NDS gezählt wer­den (vgl. NDS, 1.7.22). Ihr Redak­teur Flo­ri­an War­weg wur­de nicht zur Bun­des­pres­se­kon­fe­renz zuge­las­sen. Soll hier eine kri­ti­sche Web­site in Miss­kre­dit und womög­lich zum Schwei­gen gebracht wer­den, die täg­lich mit zahl­rei­chen Links zu ver­schie­de­nen Medi­en einen umfas­sen­den Blick auf aktu­el­le The­men ermöglicht?

Das Bun­des­wirt­schafts­mi­ni­ste­ri­um dif­fa­miert Kri­ti­ker der Poli­tik des Mini­sters Habeck als Ver­schwö­rungs­theo­re­ti­ker und als »Putin-Trol­le«. Sie wer­den belehrt: »Faken­ews sind Teil des rus­si­schen Krie­ges« (NDS, 17.8.22). Medi­en nut­zen Metho­den des »Wor­ding« und »Framing« (»Die Ukrai­ne ver­tei­digt unse­re Frei­heit und Demo­kra­tie«) in stän­di­ger Wie­der­ho­lung, und ihrer mani­pu­la­ti­ven Ein­sei­tig­keit ent­kommt nur, wer »alter­na­ti­ve« Medi­en her­an­zieht. Der Mani­pu­la­ti­on dient auch das Weg­las­sen von Ereig­nis­sen, die die hege­mo­nia­le Deu­tung stö­ren könn­ten: Das »Ver­schwei­gen essen­ti­el­ler Fak­ten« (Chri­sti­an Mül­ler auf globalbridge.ch) dient dem Ziel, unse­re Rea­li­täts­wahr­neh­mung zu ver­en­gen. Kein Wun­der, dass die Nach­Denk­Sei­ten unter Beschuss gera­ten, ver­öf­fent­li­chen sie doch kon­ti­nu­ier­lich Bei­trä­ge wie »Nicht­be­richt­erstat­tung in Deutsch­land« oder »Die Ukrai­ne und die Rea­li­tät« (bei­de am 29.8.22). Über den Ein­fluss west­li­cher Poli­ti­ker auf den Putsch 2014, die Rol­le von Olig­ar­chen und inter­na­tio­na­len Kon­zer­nen, die ver­zwei­fel­te, deso­la­te Lage der rus­si­schen Bevöl­ke­rungs­tei­le, der Wirt­schaft und der Demo­kra­tie in der Ukrai­ne – nicht erst seit dem Krieg – erfah­ren die Men­schen hier­zu­lan­de fast nur aus alter­na­ti­ven Medi­en. Auch das syste­ma­ti­sche Ver­schwei­gen ist Propaganda.

Pro­pa­gan­da will mit­nich­ten infor­mie­ren, auf­klä­ren und ein abwä­gen­des Urteil erleich­tern, viel­mehr Stim­mung erzeu­gen, Wahr­neh­mung und Gefüh­le mani­pu­lie­ren. Nicht nur Hoch­rü­stung (Baer­bock: Die Ukrai­ne braucht »auch im näch­sten Som­mer noch neue schwe­re Waf­fen von ihren Freun­den«), auch die Ästhe­ti­sie­rung des Mili­ta­ris­mus soll gegen die »Kriegs­mü­dig­keit« (Baer­bock) hel­fen, etwa in der Foto­strecke der best­be­zahl­ten US-Foto­gra­fin Annie Lei­bo­vitz über den Kriegs­herrn Selen­skyj für die Mode­zeit­schrift Vogue: Durch die Ästhe­ti­sie­rung der Pro­pa­gan­da zur Anäs­t­hä­ti­sie­rung der Mas­sen (Sieg­fried Kra­cau­er), wie Susann Witt-Stahl in jun­ge Welt die­se »Mani­pu­la­ti­on der Sin­ne und der Emo­tio­nen« beschreibt (27.8.22).

Staat­li­che Pro­pa­gan­da auch dies: Gene­ral­bun­des­an­walt Peter Frank hat ein Struk­tur­er­mitt­lungs­ver­fah­ren gegen rus­si­sche Mili­tärs ange­kün­digt, die Kriegs­ver­bre­chen oder Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit began­gen haben; ermit­telt wer­de auch gegen die poli­ti­schen Ver­ant­wort­li­chen. Auf die Anfra­ge des Autors an die Bun­des­an­walt­schaft (BA), wie sie bei sol­chen Ver­bre­chen sei­tens Nato-Staa­ten tätig wur­de, (vgl. der Frei­tag, 19.7.22), gab sich die Behör­de ver­schlos­sen und ver­wies auf ande­re Ermitt­lun­gen. Auf Nach­fra­ge (»Bei wel­chen Kriegs­ver­bre­chen und Ver­bre­chen gegen die Mensch­lich­keit, die den USA, den Nato-Staa­ten oder Isra­el anzu­la­sten sind, hat die BA Ermitt­lun­gen durch­ge­führt?«), hieß es: »Auch auf Ihre erneu­te Anfra­ge kann ich Ihnen lei­der kei­ne Aus­künf­te ertei­len.« So lässt sich die BA für inter­es­sen­ge­lei­te­te geo­po­li­ti­sche Stra­te­gien oder gar krie­ge­ri­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen instru­men­ta­li­sie­ren und ver­liert ihre Glaub­wür­dig­keit. Den Ver­weis auf den Jour­na­li­sten Juli­an Assan­ge, der wegen Auf­deckung von Kriegs­ver­bre­chen in west­li­chen Demo­kra­tien ver­folgt, gefan­gen gehal­ten und sei­nes Lebens bedroht wird, über­ging die BA ganz.

Prin­zi­pi­en der Kriegs­pro­pa­gan­da, die der Pazi­fist Arthur Pon­son­by bereits 1928 beschrie­ben hat­te, las­sen sich der­zeit täg­lich beob­ach­ten: Schuld am Krieg hat nur der Feind, wir sind die Guten und haben heh­re Zie­le im Gegen­satz zum teuf­li­schen Feind. Poli­ti­ker und Medi­en haben es geschafft, der Bevöl­ke­rung den mili­tä­ri­schen Sieg und den wirt­schaft­li­chen Ruin Russ­lands als Ziel nahe­zu­brin­gen und nicht einen Waf­fen­still­stand und Ver­hand­lun­gen über gegen­sei­ti­ge Sicher­heits­ga­ran­tien. Die­se Bel­li­zi­sten ver­en­gen die Rea­li­tät und blen­den Vor­ge­schich­te, Hin­ter­grün­de und die Inter­es­sen ande­rer Betei­lig­ter voll­stän­dig aus. Die Geschich­te des Krie­ges beginnt für sie am 24. Febru­ar, und der ein­zig rele­van­te Tat­be­stand ist der rus­si­sche Angriff. Auf sie trifft die Fest­stel­lung von Anne Morel­li zu (»Die Prin­zi­pi­en der Kriegs­pro­pa­gan­da«, 2001): »Die Schaf­fung eines gera­de­zu hyp­no­ti­schen Zustan­des, in dem sich die gesam­te Bevöl­ke­rung im tugend­haf­ten Lager des gekränk­ten Gut­men­schen wähnt, ent­spricht wahr­schein­lich einem patho­lo­gi­schen Bedürfnis.«

Hat man in Deutsch­land bis vor 20 Jah­ren noch eine zurück­hal­ten­de Ein­stel­lung gegen­über mili­tä­ri­scher Expan­si­on und Kon­flikt­lö­sung beob­ach­ten kön­nen, domi­niert inzwi­schen eine Ein­schrän­kung des Denk- und Seh­fel­des. Wil­helm Kempf (»Kriegs­pro­pa­gan­da ver­sus Frie­dens-Jour­na­lis­mus«) beschrieb lan­ge vor dem Ukrai­ne­krieg die­se Ver­en­gung auf mili­ta­ri­sti­sche Logik, die zwangs­läu­fig zu einer Eska­la­ti­on führt. Die Men­schen empö­ren sich in einer sol­chen Zeit nicht über den Krieg, son­dern über den Feind; sie neh­men nicht mehr das Leid der Opfer und den Nut­zen einer fried­li­chen Lösung wahr. Es fin­det eine psy­chi­sche Desta­bi­li­sie­rung der Öffent­lich­keit statt, die die Urteils­fä­hig­keit aus­schal­tet. Davon ist gegen­wär­tig die öffent­li­che Mei­nungs­bil­dung geprägt, die durch Dämo­ni­sie­rung, Auf­rü­stung und Waf­fen­lie­fe­run­gen den Feind zu ver­nich­ten trach­tet (und der neue ist schon im Visier) – und dabei nicht die hohen wirt­schaft­li­chen und mensch­li­chen Kosten wahr­zu­neh­men bereit ist. Und übri­gens auch nicht die Pro­fi­teu­re die­ses wie aller Krie­ge, die kein Inter­es­se an fried­li­chen Kon­flikt­lö­sun­gen haben.

Angst brei­tet sich aus, denn die­se vor­herr­schen­de mili­ta­ri­sti­sche Logik zer­stört das fried­li­che Zusam­men­le­ben, die Demo­kra­tie und die sozia­le Sicher­heit. Gegen­wär­tig wer­den zwar alle gesell­schaft­li­chen und glo­ba­len Pro­ble­me und Kata-stro­phen, die wie immer pri­mär die Benach­tei­lig­ten tref­fen, mit dem Ukrai­ne­krieg ent­schul­digt, obwohl der nur zuspitzt, was schon lan­ge gärt und jedes Ver­trau­en in eine gerech­te Poli­tik und eine gute Zukunft zer­stört. Rea­li­sti­sche Kon­zep­te ver­schie­de­ner Insti­tu­tio­nen zu fried­li­chen Lösun­gen wur­den und wer­den nicht ein­mal ver­öf­fent­licht, geschwei­ge denn poli­tisch diskutiert.

Ohne die »Infra­ge­stel­lung des Krie­ges und der mili­tä­ri­schen Logik, die Respek­tie­rung der Rech­te des Geg­ners und eine unver­zerr­te Dar­stel­lung sei­ner Inten­ti­on« (Kempf) kann es kei­nen Frie­den geben. Auch der Geg­ner fühlt sich bedroht, betont Kempf; das such­te Putin dem Westen seit 20 Jah­ren ver­ständ­lich zu machen, zuletzt noch in einem Bei­trag für die Zeit zum 80. Jah­res­tag des deut­schen Über­falls auf die Sowjet­uni­on (vgl. Leo Ensel, Nach­Denk­Sei­ten, 29.6.21) – ein Ver­nich­tungs­krieg, dem 27 Mil­lio­nen Men­schen zum Opfer fie­len. Wel­cher Preis ist in der Ukrai­ne für einen mili­tä­ri­schen Sieg oder den wirt­schaft­li­chen Ruin Russ­lands (Baer­bock) zu zah­len? Wel­che fried­li­chen Alter­na­ti­ven und Per­spek­ti­ven der Ver­söh­nung müs­sen wir gegen die vor­herr­schen­de Kriegs­pro­pa­gan­da for­dern? Die Bemer­kung des Frie­dens­no­bel­preis­trä­gers Carl von Ossietzky gilt nach wie vor: »Der Krieg ist ein bes­se­res Geschäft als der Frie­de. Ich habe noch nie­man­den gekannt, der sich zur Stil­lung sei­ner Geld­gier auf Erhal­tung und För­de­rung des Frie­dens gewor­fen hät­te.« For­dern wir also: Waf­fen­still­stand! Ver­hand­lun­gen! Abrü­stung und gegen­sei­ti­ge Sicherheitsgarantien!