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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Hannibal kommt

Wenn sie denn kom­men wür­den. Die Ele­fan­ten Han­ni­bals. Über die Süd­spit­ze Spa­ni­ens – und dann nach Euro­pa hin­ein. Ins Herz der Län­der der Gleich­gül­ti­gen. Statt der 27 Ele­fan­ten Han­ni­bals die 170.000 Saha­r­au­is, die seit 40 Jah­ren im Süden Alge­ri­ens in Zel­ten fest­ge­hal­ten wer­den. Die wir ver­ges­sen haben, weil sie (noch) ruhig und beson­nen blei­ben, und weil die Fren­te Poli­sa­rio, ihre poli­ti­sche und mili­tä­ri­sche Orga­ni­sa­ti­on, (noch) stillhält.

Wenn sie denn kom­men wür­den, weil sie es end­gül­tig leid sind, dahin­ve­ge­tie­ren zu müs­sen am klei­ner wer­den­den Topf oder Tropf der UNO mit ihren Men­schen­rech­ten. Sie kämen, alle, in einem unüber­seh­ba­ren Zug, lang­sam schrei­tend, trom­melnd, dumpf trom­melnd, mit dem hel­len Pfei­fen ihrer Flö­ten, Män­ner, Frau­en und Kin­der. Von Süden zögen sie her­auf, durch die Wüste, durch Alge­ri­en, dann hin­über nach Marok­ko, dem Land, das ihnen ihr Land weg­ge­nom­men hat, wei­ter nach Nor­den, bis zum Meer bei Tan­ger und Ceu­ta, bei der Fels­spit­ze vom Jebel Musa, der Stra­ße von Gibral­tar, den Säu­len des Hera­kles. In Ceu­ta hät­ten sie bereits Spa­ni­en erreicht, ohne über die Mee­res­en­ge gelangt zu sein. Dort, auf der ande­ren Sei­te, in Gibral­tar, lockt Groß­bri­tan­ni­en. Das Land müss­te sie viel­leicht hin­ein­las­sen. Doch wir sehen: in Nord­frank­reich, bei Calais, leben Flücht­lin­ge, die nach Eng­land wol­len, in men­schen­un­wür­di­gen Hüt­ten und Zel­ten, die von der fran­zö­si­schen Poli­zei auf Geheiß der Regie­rung Macron und mit Dul­dung eines gro­ßen Teils der Bevöl­ke­rung ein­fach immer wie­der abge­räumt wer­den. Wohin die Leu­te sol­len und wo sie blei­ben, inter­es­siert nicht. Die Fäh­ren zu benut­zen, ist kaum mög­lich, mit Last­wa­gen und mit der Kanal­ei­sen­bahn ist es äußerst schwie­rig. Jetzt ver­su­chen es eini­ge mit pri­mi­ti­ven Schlauch­boo­ten von Urlau­bern. Als Pad­del benut­zen sie Spa­ten. 30 Kilo­me­ter mit dem Spa­ten und bil­li­gen Pla­stik­boo­ten – das gelingt kaum. Frank­reich und Groß­bri­tan­ni­en wol­len sie nicht, die­se Men­schen, die schon da sind, aus Afri­ka, aus Syri­en, aus Afgha­ni­stan und werweißwoher.

Wei­ter wür­den sie zie­hen, die­se Saha­ra-Men­schen, die viel­leicht, wenn sie es schaf­fen, bei den Säu­len des Her­ku­les schon Euro­pa erreicht hät­ten, sogar Groß­bri­tan­ni­en. Män­ner, Frau­en, Kin­der, trom­melnd, pfei­fend, sin­gend, mit den schril­len Gesän­gen der Rohr­pfei­fen und Dudel­säcke und viel­leicht auch mit man­cher orgue de bar­ba­rie, mit dump­fen Schrit­ten, wei­ter nach Nor­den, dort ent­lang, wo schon der Sage nach Hera­kles nach dem Raub der Rin­der­her­de des Rie­sen Gery­on bei Gibral­tar auf dem Heim­weg nach Grie­chen­land ent­lang­ge­zo­gen war, durch Spa­ni­en, Süd­frank­reich, Nord­ita­li­en, Jugo­sla­wi­en und Nordgriechenland.

Des­halb wür­den sie kom­men, die Bar­ba­ren, wie Edu­ar­do Gale­a­no schreibt, die Bar­ba­ren kom­men zu den Zivi­li­sier­ten – und sie wür­den ihnen bei­brin­gen, was Mensch­lich­keit heißt. Doch die Zivi­li­sier­ten wür­den sich weh­ren, wie sie sich seit Jahr­zehn­ten weh­ren gegen die Men­schen aus dem Süden, die sie jahr­hun­der­te­lang als Kolo­ni­al­her­ren aus­ge­beu­tet haben, denen sie heu­te mit Krie­gen und ihrem mör­de­ri­schen Wirt­schafts­sy­stem die Lebens­mög­lich­kei­ten nehmen.

Ob die 170.000 Men­schen aus der Süd­sa­ha­ra heil nach Nor­den kom­men wür­den? Wie breit ist die Stra­ße von Gibral­tar, die Tan­ker­au­to­bahn genannt wird, weil dort das hei­li­ge Öl aus dem Mor­gen­land unun­ter­bro­chen durch­ge­schifft wird? An der schmal­sten Stel­le sind es knapp fünf­zehn Kilo­me­ter, das wäre zu über­brücken, das ist viel weni­ger als von Liby­en nach Sizi­li­en, Mal­ta oder Lam­pe­du­sa. Und auch kür­zer als von Les­bos zum grie­chi­schen Festland.

170.000 Men­schen, die Bevöl­ke­rung einer mit­tel­gro­ßen deut­schen Stadt, zum Bei­spiel Hagen. Wohin wür­den sie wol­len? Sie könn­ten nicht dar­auf war­ten, bis büro­kra­ti­sche Insti­tu­tio­nen der euro­päi­schen Län­der sich auf eine gerech­te Ver­tei­lung geei­nigt hät­ten. Nein, dar­auf kann man nicht war­ten, da nimmt auch jedes Land höch­stens ein­tau­send und kommt sich gene­rös vor. Sie müss­ten sich ein­fach Län­de­rei­en neh­men zum Leben, wie die West­go­ten es ihrer­zeit mit Erfolg taten.

Doch eigent­lich möch­ten sie wie­der zurück in ihr eige­nes Land, wür­den lie­ber ihr eige­nes Land besie­deln wol­len, wo noch im öst­li­chen Teil des von Marok­ko völ­ker­rechts­wid­rig annek­tier­ten Lan­des ihre Lands­leu­te woh­nen. Sie wür­den gern wie­der auch den west­li­chen Teil die­ses Lan­des bis zum Atlan­tik bewoh­nen. Woher ein Teil der lecke­ren Ölsar­di­nen kommt, die Sar­di­na pil­char­dus, für die im Fang­ge­biet FAQ 34 als Her­kunfts­ge­biet Marok­ko ange­ge­ben wird. Gefan­gen im mitt­le­ren Ost­at­lan­tik mit Umschlie­ßungs­net­zen und Hebe­net­zen, so genann­ten Ring­wa­den. Das muss alles auf den Dosen ange­ge­ben sein, so will es die FAO, die inter­na­tio­na­le Orga­ni­sa­ti­on. Doch auf eini­gen müss­te ste­hen »West­sa­ha­ra«. Und man­che Fir­ma nimmt es nicht so genau mit den Char­gen­an­ga­ben, die Num­mer fehlt auf den Dosen, ein Ver­se­hen natür­lich, und das Fang­ge­biet FAQ 34 ist groß. Kom­men die Fische nun aus 1.11, 1.12 oder 1.13, das näm­lich wäre uns wich­tig. Aber es geht nicht nur um Fische, nur des­halb allein hät­te Marok­ko sich das ehe­ma­li­ge spa­ni­sche Kolo­ni­al­ge­biet sicher nicht wider­recht­lich ange­eig­net. Das Gebiet ver­fügt über wich­ti­ge Was­ser­res­sour­cen und über die welt­weit größ­ten Phos­phat­vor­kom­men. Phos­pha­te und Phos­phor braucht man für Dün­gung und Spreng­stoff­her­stel­lung. Neu­er­dings auch zur Her­stel­lung von Lithi­um-Ionen-Akku­mu­la­to­ren für die heiß­ge­lieb­ten Elek­tro­au­tos, mit denen wir den Kli­ma­wan­del bekämp­fen. Aber so, dass die Aktio­nä­re wei­ter­hin ihr beque­mes Geld ver­die­nen kön­nen. Oh ja, da wird die Sache heiß. Das kann und will man nicht den Saha­r­au­is über­las­sen, die kön­nen doch damit nichts anfan­gen. Doch, könn­ten sie, sie könn­ten die Res­sour­cen an die Euro­pä­er teu­er ver­kau­fen und einen Teil ihrer Wirt­schaft damit auf­bau­en. Das wäre den Euro­pä­ern aber zu teu­er, und außer­dem will der König von Marok­ko damit das Geld ver­die­nen. Und mit dem hat die EU ein Asso­zi­ie­rungs­ab­kom­men abge­schlos­sen, das hat­te schon die EWG, ja, da war man schnell am Ball. Die Marok­ka­ner sind unse­re Freun­de, ob dort eine Qua­si­dik­ta­tur herrscht oder nicht, ist egal.

Wir wan­dern, wir wan­dern, wei­ter müs­sen die 170.000 Men­schen, Män­ner, Frau­en und Kin­der, wan­dern, sie sind Aus­wan­de­rer und noch kei­ne Ein­wan­de­rer, und vie­le euro­päi­sche Län­der behaup­ten, sie sei­en kein Ein­wan­de­rungs­land. Viel­leicht kön­nen sich die süd­li­chen Wan­de­rer ver­bün­den mit den Gelb­we­sten in Frank­reich und mit den Zadi­sten, die sich ein Stück Land in der Bre­ta­gne erkämpft haben, nach über drei­ßig Jah­ren. Viel­leicht müs­sen die Saha­r­au­is doch wie­der kämp­fen, muss die Fren­te Poli­sa­rio, die Volks­front zur Befrei­ung von Saguía el Ham­ra und Río del Oro, doch die Waf­fen erneut ergrei­fen. Die Poli­sa­rio wur­de 1973 gegrün­det, um gegen die noch bis 1975 bestehen­de spa­ni­sche Kolo­nie West­sa­ha­ra zu kämp­fen. Die Regi­on wur­de nach der »Ent­las­sung des Gebie­tes in die Frei­heit« 1975 von Marok­ko besetzt, bevor die Saha­r­au­is eine eige­ne Staats­struk­tur auf­bau­en konnten.

Nach einem Frie­dens­ver­trag im Jahr 1979 mit Mau­re­ta­ni­en, das süd­lich der West­sa­ha­ra liegt, gab es mili­tä­ri­sche Kämp­fe bis zu einem Waf­fen­still­stands­ab­kom­men im Jahr 1991. Damit ver­bun­den war die Zusa­ge eines umge­hen­den Refe­ren­dums, mit dem die Saha­r­au­is über die Zukunft der West­sa­ha­ra abstim­men soll­ten. Marok­ko ver­wei­ger­te die­ses Refe­ren­dum und bau­te statt­des­sen eine 2.700 Kilo­me­ter lan­ge Mau­er um die beset­ze West­sa­ha­ra. Es erfolg­te aus Deutsch­land, das angeb­lich etwas gegen sol­che Mau­ern hat, kein Pro­test und kei­ne Hilfe.

Das pro­vi­so­ri­sche Haupt­quar­tier der Poli­sa­rio-Regie­rung der Demo­kra­ti­schen Ara­bi­schen Repu­blik Saha­ra liegt in Tin­douf, im Süd­we­sten Alge­ri­ens. In der Wüste, wo nach vier­zig Jah­ren im Zelt­dorf die Hoff­nung gestor­ben ist. Die Alten haben resi­gniert oder sind nicht mehr da, die jun­gen Men­schen aber geben sich nicht zufrie­den. Eini­ge arbei­ten in Spa­ni­en und schicken Geld. Aber für sie hat Euro­pa, wie üblich, nur die pre­kär­sten und unan­ge­nehm­sten Arbei­ten vor­rä­tig. Was waren das noch für Zei­ten, als die süd­län­di­schen Arbei­ter, die man drin­gend brauch­te, »Gast­ar­bei­ter« bei uns genannt wur­den. Immer­hin. Obwohl sie eben nur Gäste sein und nach drei Jah­ren wie­der nach Hau­se gehen soll­ten. So war es abge­macht, doch es kam anders.

Wenn Han­ni­bal käme, mit nur 27 Ele­fan­ten, die Angst und Schrecken ver­brei­ten, doch auch das kam anders. Jetzt wür­den 170.000 Men­schen kom­men, eine Zahl, die der Bevöl­ke­rung einer mit­tel­gro­ßen deut­schen Stadt ent­spre­chen wür­de. Oder einer hol­län­di­schen, oder einer fran­zö­si­schen, einer spa­ni­schen. Vie­le Orte in Euro­pa lei­den an Bevöl­ke­rungs­schwund, über­all ver­sucht man, die jun­gen Men­schen zu hal­ten, bis hin zum Ver­bot leer­ste­hen­der Feri­en­häu­ser. Sogar die Häu­ser wären da!

Wenn sie denn kom­men wür­den, weil sie es end­gül­tig leid sind, dahin­ve­ge­tie­ren zu müs­sen am klei­ner wer­den­den Topf oder Tropf der UNO mit ihren Menschenrechten.

Sie kämen, alle, in einem unüber­seh­ba­ren Zug, lang­sam schrei­tend, trom­melnd, dumpf trom­melnd, mit dem hel­len Pfei­fen ihrer Flö­ten, Män­ner, Frau­en und Kin­der, mit kla­ren, lang­sa­men Schrit­ten, alle hin­ter­ein­an­der. Von Süden zögen sie her­auf, durch die Wüste, durch Alge­ri­en, dann hin­über nach Marok­ko, dem Land, das ihnen ihr Land weg­ge­nom­men hat, wei­ter nach Nor­den, bis zum Meer bei Tan­ger und Ceu­ta, bei der Fels­spit­ze vom Jebel Musa, der Stra­ße von Gibral­tar, den Säu­len des Hera­kles. In Ceu­ta wären sie bereits in Spa­ni­en, noch ohne über die Mee­res­en­ge gelangt zu sein. Dort, auf der ande­ren Sei­te, in Gibral­tar, hät­ten sie Groß­bri­tan­ni­en erreicht.

Män­ner, Frau­en und Kin­der, trom­melnd, pfei­fend, sin­gend, mit den schril­len Gesän­gen der Rohr­pfei­fen und Dudel­säcke und viel­leicht auch mit man­cher orgue de bar­ba­rie, mit dump­fen Schrit­ten, wei­ter nach Nor­den, dort ent­lang, wo schon der Sage nach Hera­kles nach dem Raub der Rin­der­her­de des Rie­sen Gery­on bei Gibral­tar auf dem Heim­weg nach Grie­chen­land ent­lang­ge­zo­gen war. Daher wür­den sie kom­men, die Barbaren.

Sogar im Jahr 2007 noch behaup­te­te der US-Ame­ri­ka­ner James Wat­son, ein Nobel­preis­trä­ger für Medi­zin, es sei wis­sen­schaft­lich erwie­sen, dass die Schwar­zen weni­ger intel­li­gent sei­en als Wei­ße. Nicht nur vie­le Schwar­ze, auch der der­zei­ti­ge US-ame­ri­ka­ni­sche Prä­si­dent und der »Wis­sen­schaft­ler« selbst bewei­sen das Gegen­teil. In der West­sa­ha­ra hin­ter­ließ die glor­rei­che spa­ni­sche Nati­on, ein angeb­lich zivi­li­sier­tes Land, einen Arzt, einen Rechts­an­walt und einen Han­dels­exper­ten. Das war schon viel, in ande­ren ehe­ma­li­gen Kolo­nien hin­ter­lie­ßen die zivi­li­sier­ten Euro­pä­er weni­ger oder nichts. Ach, das stimmt so nicht: Sie hin­ter­lie­ßen Zer­stö­run­gen, Tote und aus­ge­raub­tes Land.

Zitat: »Klei­ne, zer­brech­li­che Boo­te, die das Meer ver­schlingt, sind die Nach­fah­ren der frü­he­re Skla­ven­schif­fe. Die Skla­ven von heu­te fah­ren nicht frei­wil­lig. Sie wer­den dazu gedrängt. Nie­mand ver­lässt sein Land, weil er es will. Von Afri­ka und vie­len ande­ren Orten aus flie­hen die Ver­zwei­fel­ten vor den Krie­gen und der Dür­re und den aus­ge­laug­ten Fel­dern und den ver­gif­te­ten Flüs­sen und den lee­ren Mägen. Der Ver­kauf von Men­schen­fleisch ist auch heu­te das erfolg­reich­ste Export­ge­schäft des Südens der Welt« (Edu­ar­do Galeano).

War­um, war­um nur zieht es die­se Men­schen zu den Bar­ba­ren im Nor­den? Hof­fent­lich ver­hal­ten sie sich mensch­lich, wenn sie hier sind, las­sen Gna­de wal­ten, wenn sie kom­men. Die mit ihrem dump­fen Trom­meln, tage­lang, näch­te­lang, im Her­zen der Fin­ster­nis. Noch brennt Tin­douf nicht.