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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kriegspartei für den Frieden

»Die Grü­nen-Spit­ze holt sich auf dem Bun­des­par­tei­tag in Bonn die Zustim­mung für Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne. Die ver­ein­zel­ten Gegen­stim­men sind nur noch eine Min­der­hei­ten­po­si­ti­on in einer Par­tei, die von einer neu­en Gene­ra­ti­on getra­gen wird«, schreibt Seba­sti­an Hold für NTV. Die Grü­nen sei­en jetzt eine »Kriegs­par­tei für den Frie­den«. Wenn eine aus der Frie­dens- und Umwelt­be­we­gung der 1980er Jah­re ent­stan­de­ne Par­tei zu einer kriegs­be­für­wor­ten­den Par­tei mutiert, so erin­nert das unwei­ger­lich an Geor­ge Orwells Neu­sprech aus sei­nem dys­to­pi­schen Roman »1984«, der seit gerau­mer Zeit in mehr­fa­cher Hin­sicht eine erschreckend-beäng­sti­gen­de Aktua­li­tät erfährt. 20 Jah­re nach Grün­dung der Par­tei gab es für die Grü­nen mit ihrer kriegs­be­für­wor­ten­den Hal­tung zum Krieg im Koso­vo eine unge­mein schwie­ri­ge­re Zer­reiß­pro­be, die fast zu ihrer Spal­tung geführt hätte.

Ein Rück­blick lohnt sich: Am 24. März 1999 fand mit der Betei­li­gung der Bun­des­wehr am Krieg im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en eine Zäsur in der Außen- und Ver­tei­di­gungs­po­li­tik der Bun­des­re­pu­blik statt. Erst­mals seit dem Zwei­ten Welt­krieg nah­men deut­sche Sol­da­ten aktiv kämp­fend an einem Krieg teil. Die Wei­chen dafür wur­den am 12. Okto­ber 1998 im Deut­schen Bun­des­tag gestellt, als 500 Abge­ord­ne­te der Betei­li­gung der Bun­des­wehr am Nato-Luft­krieg gegen Jugo­sla­wi­en zustimm­ten, wäh­rend 62 Abge­ord­ne­te das ablehn­ten und 18 sich ent­hiel­ten. Zwei Jah­re danach wur­den alle Abge­ord­ne­ten schrift­lich zu ihrem Abstim­mungs­ver­hal­ten befragt und um Beant­wor­tung fol­gen­der Fra­gen gebe­ten: »1. Wie haben Sie sich damals ent­schie­den und von wel­chen Erwä­gun­gen haben Sie die­se Ent­schei­dung abhän­gig gemacht? 2. Wie bewer­ten Sie zurück­blickend Ihre Ent­schei­dung bzw. wür­den Sie sich auch im Nach­hin­ein so ent­schei­den? 3. Sind Sie der Auf­fas­sung, dass der The­men­kom­plex – gemes­sen an sei­ner Bedeu­tung – in der Öffent­lich­keit aus­rei­chend the­ma­ti­siert wor­den ist bzw. wel­che Rol­le spielt er in Ihrer aktu­el­len poli­ti­schen Arbeit?«

130 Abge­ord­ne­te nah­men an der Befra­gung teil und begrün­de­ten teil­wei­se sehr per­sön­lich und aus­führ­lich ihre dies­be­züg­li­che Hal­tung, eini­ge von ihnen mel­de­ten sich tele­fo­nisch, wor­aus län­ge­re Tele­fo­na­te ent­stan­den und deut­lich wur­de, dass die Befra­gung in gewis­ser Wei­se den Nerv vie­ler Abge­ord­ne­ter getrof­fen zu haben schien. Die Befür­wor­ter begrün­de­ten ihre Hal­tung mit dem not­wen­di­gen bünd­nis­po­li­ti­schen Enga­ge­ment der Bun­des­re­pu­blik als Mit­glieds­staat der Nato und mit der aus ihrer Sicht feh­len­den Alter­na­ti­ve zum mili­tä­ri­schen Ein­satz. Die Geg­ner begrün­de­ten ihre Hal­tung mit den feh­len­den völ­ker­recht­li­chen Vor­aus­set­zun­gen des Krie­ges und mit einer pazi­fi­sti­schen Hal­tung, wonach jeg­li­che Betei­li­gung an einem Krieg strikt abzu­leh­nen sei. Dar­aus ist eine schrift­li­che Doku­men­ta­ti­on ent­stan­den, die in der Kurz­fas­sung hier: https://www.friedenskooperative.de/friedensforum/artikel/ich-habe-an-der-seinerzeitigen-beschlussfassung und in der Lang­fas­sung hier abge­ru­fen wer­den kann: https://www.antimilitarismus-information.de/extra/kosovo/mdbs.htm.

Die bedeu­tend­ste Ant­wort kam von Prof. Dr. Edzard Schmidt-Jor­t­zig, dem damals amtie­ren­den Bun­des­ju­stiz­mi­ni­ster: »1. Ich habe an der sei­ner­zei­ti­gen Beschluss­fas­sung im Bun­des­tag extra nicht teil­ge­nom­men (und dafür auch die betref­fen­de Ord­nungs­geld­zah­lung gern in Kauf genom­men). Ich war sei­ner­zeit noch der amtie­ren­de Bun­des­ju­stiz­mi­ni­ster und hat­te mich bei dem vor­an­ge­gan­ge­nen Kabi­netts­be­schluss, der die Par­la­ments­vor­la­ge lie­fer­te, aus­drück­lich gegen die in Rede ste­hen­de Ein­satz­ent­schei­dung aus­ge­spro­chen. Eine ent­spre­chen­de Pro­to­kol­lerklä­rung von mir liegt in den Kabi­netts­ak­ten. Da ich mich außer­halb des Kabi­netts nicht gegen die Regie­rungs­ent­schei­dung stel­len woll­te (und durf­te: § 28 II GeschO­BRreg), aber auch von mei­ner Mei­nung nicht abwei­chen woll­te, kam nur eine Nicht­teil­nah­me in Betracht. Maß­geb­lich war in der Sache für mich vor allem das Feh­len eines ent­spre­chen­den Sicher­heits­rats-Beschlus­ses. Denn abge­se­hen von der schlich­ten recht­li­chen Not­wen­dig­keit einer sol­chen Vor­aus­set­zung schien (und scheint) mir nur durch einen sol­chen Beschluss die Gefahr ver­mie­den, dass ein­zel­ne Staats- oder Bünd­nis­in­ter­es­sen den Aus­schlag geben. Immer­hin hat­te man in ganz ähn­li­chen Fäl­len mit ver­gleich­ba­ren huma­ni­tä­ren Kata­stro­phen eben von einer mili­tä­ri­schen Inter­ven­ti­on abge­se­hen, offen­bar weil bestimm­te Macht­in­ter­es­sen nicht so ein­deu­tig dafür strit­ten. Schließ­lich schien mir auch die mili­tä­ri­sche, stra­te­gi­sche Rich­tig­keit des Waf­fen­ein­sat­zes nicht ein­leuch­tend, weil durch die Luft­ope­ra­tio­nen vor­aus­seh­bar die zu schüt­zen­de Bevöl­ke­rung sel­ber in Mit­lei­den­schaft gezo­gen wür­de. 2. Nach wie vor hal­te ich mei­ne Ent­schei­dung von damals für rich­tig und glau­be auch, dass es heu­te zu einer ent­spre­chen­den Initia­ti­ve der Nato-Staa­ten nicht mehr kom­men würde.«

Im Ste­no­gra­phi­schen Bericht der Bun­des­tags­sit­zung vom 16. Okto­ber 1998 fin­det sich kein ein­zi­ges Wort dar­über, dass der amtie­ren­de Bun­des­ju­stiz­mi­ni­ster den Krieg im Koso­vo als völ­ker­rechts­wid­rig bewer­tet hat, was schon seit vie­len Jah­ren der herr­schen­den Völ­ker­rechts­mei­nung ent­spricht. Doch zu wel­chem Abstim­mungs­er­geb­nis wäre es wohl gekom­men, wenn die Hal­tung von Schmidt-Jor­t­zig den Abge­ord­ne­ten nicht bewusst vor­ent­hal­ten wor­den wäre? Ver­mut­lich hät­te es kei­ne Mehr­heit für eine Betei­li­gung der Bun­des­wehr am Koso­vo-Krieg gege­ben! Inzwi­schen sind wie­der 20 Jah­re ver­gan­gen, und Deutsch­land betei­ligt sich an dem Krieg in der Ukrai­ne mit Waf­fen­lie­fe­run­gen, finan­zi­el­len Mit­teln und der Aus­bil­dung ukrai­ni­scher Sol­da­ten. Und schon wie­der wird alles dafür getan, dass das Wort Kriegsbe­tei­li­gung unaus­ge­spro­chen bleibt, so als hät­te es die Leh­ren aus dem Koso­vo-Krieg nie gege­ben. Gre­gor Gysi ant­wor­te­te damals: »Die Vor­stel­lung, mit­tels Krie­ges Men­schen­rech­te durch­set­zen zu kön­nen, schien mir in jeder Hin­sicht völ­lig absurd.« Dem ist eigent­lich nichts hin­zu­zu­fü­gen, oder doch? »Lasst uns das tau­send­mal Gesag­te immer wie­der sagen, damit es nicht ein­mal zu wenig gesagt wur­de! Lasst uns die War­nun­gen erneu­ern, und wenn sie schon wie Asche in unse­rem Mund sind! Denn der Mensch­heit dro­hen Krie­ge, gegen wel­che die ver­gan­ge­nen wie arm­se­li­ge Ver­su­che sind, und sie wer­den kom­men ohne jeden Zwei­fel, wenn denen, die sie in aller Öffent­lich­keit vor­be­rei­ten, nicht die Hän­de zer­schla­gen wer­den« (Ber­tolt Brecht).