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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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In Memoriam Dieter S. Lutz

Die­ter S. Lutz hat die Frie­dens­for­schung in Deutsch­land maß­geb­lich geprägt. Sein inter­dis­zi­pli­nä­res Ver­ständ­nis war und ist bei­spiel­ge­bend. Medi­en­prä­sen­te Frie­dens- und Konfliktforscher/​innen heu­te igno­rie­ren sei­ne Erkennt­nis­se. Neben sol­cher Miss­ach­tung hat der Gene­ra­tio­nen­wan­del den zuneh­men­den Ein­fluss von Ideo­lo­gien auf deut­sche Frie­dens­for­schungs­in­sti­tu­te erleich­tert, »Sicher­heit« auf Mili­ta­ri­sie­rung, Abschreckung und Auf­rü­stung zu stüt­zen. Umso wich­ti­ger ist es, sich an Die­ter S. Lutz und sei­ne Über­le­gun­gen zu erin­nern und sie fortzuschreiben.

Am 5. Okto­ber 2001 hielt Die­ter S. Lutz, Lei­ter des Insti­tuts für Frie­dens­for­schung und Sicher­heits­po­li­tik an der Ham­bur­ger Uni­ver­si­tät, einen weg­wei­sen­den Vor­trag über »Die ver­wund­ba­re Zivi­li­sa­ti­on – Frie­dens­per­spek­ti­ven nach den Ter­ror­ak­ten in den USA von 9/​11«. Er zeigt auf, wozu der Mensch in der Lage ist, wenn er nicht mit Ver­nunft auf Gewalt­ein­satz reagiert, und vor allem, wenn er zuvor nicht mit vor­beu­gen­den Maß­nah­men ver­hin­dert, Kon­flikt­lö­sun­gen krie­ge­risch, statt in Ver­hand­lun­gen her­bei­zu­füh­ren, oder gar die Kon­flik­te vor­sätz­lich in Kauf genom­men hat. Dar­über haben Kanz­ler Scholz und die Medi­en zuletzt ein Rede- und Sen­de­ver­bot ver­ord­net. Die Krie­ge um die Ukrai­ne, Isra­el und Gaza, Liba­non und Jor­da­ni­en sind nur letz­te Bei­spie­le. Und vor allem zeigt er, was nötig ist, um eine Frie­densord­nung aufzubauen.

Gera­de in den schlim­men Zei­ten, die unse­re Welt aktu­ell schwer erschüt­tern, wo Kriegs­trei­ber und Kriegs­wil­li­ge die mul­ti­plem Kri­sen­la­gen noch ver­schär­fen, zum gewal­ti­gen Zurück­schla­gen auf­ru­fen, sind Ver­nunft, Beson­nen­heit und ein Den­ken vom Frie­den her für das Über­le­ben der Mensch­heit nötig – und nicht mili­ta­ri­sti­sches Gei­fern à la Strack-Zim­mer­mann. Es gibt ande­re Ant­wor­ten als uns die heu­te als »Sicher­heits­exper­ten« aus­ge­ge­be­nen Per­so­nen geben, die der mas­si­ven Auf­rü­stung, der Rüstungs­in­du­strie und end­lo­sen Kriegs­füh­rung das Wort reden.

Wäh­rend plu­ra­le Mei­nungs­bil­dung durch den Auf­marsch der »Exper­ten« für Sicher­heit stark ein­ge­schränkt ist, hat Die­ter S. Lutz unter­schied­li­che Per­sön­lich­kei­ten zu Wort kom­men las­sen. Von Lanz, Strack-Zim­mer­mann, von Anton Ger­hard »Toni« Hof­rei­ter, oder dem dau­er­haft per­sön­lich-betrof­fen reagie­ren­den Micha­el Roth wür­den selbst Per­so­nen wie der kon­ser­va­ti­ve »Ruck­red­ner« Bun­des­prä­si­dent Roman Her­zog abge­kan­zelt. Her­zog äußer­te sich am 18. Sep­tem­ber 1996 zum 25-jäh­ri­gen Bestehen des Ham­bur­ger Frie­dens­for­schungs­in­sti­tuts: »Der Krieg, der in der Geschich­te der Mensch­heit immer ein Unglück war, ist in den ver­gan­ge­nen Jahr­zehn­ten (…) ein immer grö­ße­res Unglück geworden.«

Und er mein­te nicht nur die Jah­re des Kal­ten Kriegs, des nuklea­ren Abschreckungs­sy­stems, son­dern auch die Jah­re nach der soge­nann­ten »Zei­ten­wen­de« von 1989/​90 – ein Jahr nach Day­ton, dem Abkom­men, das den Krieg in Jugo­sla­wi­en been­den soll­te. Der Ver­trag liegt zwei­ein­halb Jah­re vor dem Koso­vo-Krieg der Nato, der Völ­ker­mord und huma­ni­tä­re Kata­stro­phe ver­hin­dern soll­te, fünf Jah­re von dem Ein­grei­fen der Nato in Maze­do­ni­en und den Ter­ror­an­schlä­gen vom 11. Sep­tem­ber in den USA, hob Lutz hervor.

Krieg und Gewalt lagen schon damals im »Trend« – in Euro­pa und jen­seits sei­ner Gren­zen. Mit­ten in Euro­pa herrsch­te Krieg, er kommt in ver­schie­den­sten For­men wie­der zurück, und er wird blu­tig und bar­ba­risch geführt, wie es »für Euro­pa nicht mehr vor­stell­bar schien«. Lutz ver­weist auf David Rieffs bereits 1995 erschie­ne­nes Buch mit dem Titel »Schlacht­haus. Bos­ni­en und das Ver­sa­gen des Westens«. Rieff schil­dert dar­in sei­ne Erleb­nis­se in den bos­ni­schen Kriegs­zen­tren. Bos­ni­en war ein Schlacht­haus gewor­den. »Wenn Euro­pa, die USA und die Ver­ein­ten Natio­nen es wirk­lich gewollt hät­ten, wäre der Ver­nich­tungs­krieg zu ver­hin­dern gewe­sen«, stellt der Ham­bur­ger Frie­dens­for­scher fest. Für sei­ne Aus­sa­gen wür­de er heu­te nie­der­ge­macht. Der Kal­te Krieg, der meh­re­re Male in einer Tra­gö­die zu enden droh­te, wird heu­te von Anhän­gern der neu­en Abschreckungs­dok­trin, wie damals, täu­schend mit dem Wort »Sicher­heit« ver­se­hen, erneut her­auf­be­schwo­ren und der Öffent­lich­keit eingeredet.

Der Krieg im ehe­ma­li­gen Jugo­sla­wi­en wäre zu ver­hin­dern gewe­sen, glaub­te der Frie­dens­for­scher, wenn nur, ja, wenn die Erklä­rung der Char­ta von Paris vom Novem­ber 1990 umge­setzt wor­den wäre, die fei­er­lich ver­kün­de­te: »Nun ist die Zeit gekom­men, (…) Hoff­nun­gen und Erwar­tun­gen zu erfül­len: Wohl­stand und sozia­le Gerech­tig­keit und glei­che Sicher­heit für alle unse­re Län­der.« Heu­te, elf Jah­re spä­ter, so Lutz, sei­en sie ver­flo­gen, weil die Poli­ti­ker sich scheu­en, sich den lang­fri­stig dro­hen­den Trends ent­ge­gen­zu­stel­len. Man habe sub­stan­zi­ell von den Beschlüs­sen der Welt­um­welt­kon­fe­renz in Rio 1992 nichts gelernt. Die­se Trends waren schon zur Zeit sei­nes Vor­trags, 2001, seit Jah­ren bekannt, wur­den aber nicht oder nicht aus­rei­chend bekämpft.

Die Fol­gen und Kri­sen wür­den seit Jahr­zehn­ten nicht mehr line­ar ver­lau­fen, son­dern expo­nen­ti­ell, und zur expo­nen­ti­el­len Ent­wick­lung kom­me die mul­ti­di­men­sio­na­le Kom­ple­xi­tät. Die Erde aber zer­bre­che allein unter dem Gewicht der Über­be­völ­ke­rung, ver­hun­gert, ver­dur­stet, Men­schen ersticken im Müll, an Abfall- und Schad­stof­fen, ertrin­ken in Sint­flu­ten. »Der mög­li­che Welt­un­ter­gang schließ­lich ist nicht nur das immer schon in Kauf genom­me­ne nuklea­re Infer­no.« Ergo, aus all dem hier nur Ange­deu­te­ten schluss­fol­ger­te Die­ter S. Lutz, dass Ame­ri­ka und Deutsch­land grund­sätz­lich ver­wund­bar sei­en, wes­halb die Prio­ri­tät bei recht­li­chen und poli­ti­schen Mit­teln lie­gen müs­se und nicht bei Ter­ror und Krieg, Destruk­ti­on und Ver­nich­tung. Um den mili­tä­ri­schen Kon­fron­ta­tio­nen mit kata­stro­pha­len Aus­gän­gen zu ent­ge­hen, habe man sich eini­gen kön­nen, Ent­span­nungs­po­li­tik, Abrü­stungs­ver­trä­ge und Kon­flikt­bei­le­gung durch recht­li­che Rege­lun­gen zuneh­mend als Kon­zep­ti­on Gemein­sa­mer Sicher­heit zu ver­ste­hen. Die Kul­tur des Dia­logs und der Part­ner­schaft zu eta­blie­ren, mit dem glück­li­chen Aus­gang des Ost-West-Kon­flik­tes 1989/​90. Doch der »sieg­rei­che ›Westen‹ ließ die­se Chan­ce unge­nutzt ver­strei­chen. (…) Die ›mäch­tig­ste Mili­tär­al­li­anz aller Zei­ten‹ fing an, nach und nach ihre zivi­le Kon­kur­renz, die OSZE, ›weg­zu­bei­ßen‹ und (…) auch die Ver­ein­ten Natio­nen zurück­zu­drän­gen. Kriegs­ver­hü­tung als Dok­trin wur­de auf­ge­ge­ben, und die Ver­tei­di­gungs­kräf­te, ein­schließ­lich Bun­des­wehr, wur­den bzw. wer­den zu Ein­satz­ar­meen umgebaut.«

Weil die Poli­tik ihre Ver­ant­wor­tung nicht wahr­ge­nom­men hat, soll heu­te wie­der ver­tei­digt und auf­ge­rü­stet wer­den? Ob es für den Zukunfts­rat, einem von Lutz geplan­ten Exper­ten­par­la­ment, noch eine Chan­ce gibt, scheint ange­sichts auto­ri­tä­rer Ver­här­tung der Bun­des­re­pu­blik und star­kem rech­ten und völ­ki­schem Gegen­wind lei­der mehr als fraglich.