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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kriegspropaganda

Arthur Pon­son­bys »Kri­ti­sche Betrach­tun­gen« unter dem Titel »Lügen in Kriegs­zei­ten« sind im Jah­re 2022 in deut­scher Über­set­zung mit der Bemer­kung »Aktu­el­le Neu­aus­ga­be des Klas­si­kers zur Kriegs­pro­pa­gan­da« (Cover) wie­der­ver­öf­fent­licht wor­den. Die Ver­dien­ste Pon­son­bys auf dem Gebiet der anti­mi­li­ta­ri­sti­schen Ideo­lo­gie­kri­tik sind auch in die­ser Zeit­schrift in den letz­ten Jah­ren (Georg Ram­mer: 18/​2022, Her­mann Thei­sen: 1/​2023) erwähnt worden.

Vor­an­ge­stellt wird die­ser Aus­ga­be aus guten Grün­den – das eng­li­sche Ori­gi­nal erschien bereits 1928 – eine aktu­el­le Zusam­men­stel­lung der »Zehn Prin­zi­pi­en der Kriegs­pro­pa­gan­da«, die der Histo­ri­ke­rin Anne Morel­li zu ver­dan­ken ist (Die Prin­zi­pi­en der Kriegs­pro­pa­gan­da, 2004). So lässt sich nach der Lek­tü­re von Pon­son­bys Buch fest­stel­len, dass die von ihm her­aus­ge­ar­bei­te­ten Prin­zi­pi­en auch nach fast einem vol­len Jahr­hun­dert noch in Betrieb sind; ande­rer­seits wird die Lek­tü­re sei­nes Buches durch Anne Morel­lis Liste fokussiert.

Die­se Lek­tü­re ist für das deut­sche Publi­kum aller­dings schwie­ri­ger als für das eng­li­sche. Die­ses dürf­te es aller­dings sei­ner­seits auch nicht leicht haben, sei­ne Dar­stel­lung im Detail nach­zu­voll­zie­hen. Denn Pon­son­by argu­men­tiert bis­wei­len sehr klein­tei­lig, auf Grund von Zei­tungs­be­rich­ten und Poli­ti­ker­re­den, so dass vie­le Namen und Ereig­nis­se erwähnt wer­den, die heu­te auch in Eng­land kaum noch bekannt sein wer­den. Sei­ne Metho­de war jedoch not­wen­dig, um die jeweils ange­wand­ten Pro­pa­gan­da­tricks als sol­che nachzuweisen.

Er ist sehr kri­tisch gegen­über der Infor­ma­ti­ons­po­li­tik der bri­ti­schen Regie­rung im Zusam­men­hang mit dem Ersten Welt­krieg, den er wie eine Fall­stu­die behan­delt. »Aus­län­di­sche Lügen« neh­men ca. ein Ach­tel des Tex­tes ein, das sich auf das Deutsch­land, die USA, Frank­reich und Ita­li­en ver­teilt. (Öster­reich taucht bezeich­nen­der­wei­se nicht geson­dert auf.)

Im Fol­gen­den muss berück­sich­tigt wer­den, dass Pon­son­by bestimm­te Quel­len, Fak­ten, Zusam­men­hän­ge nicht oder nur in ver­fälsch­ter Form bekannt waren. Es wäre ahi­sto­risch, ihm dar­aus ent­stan­de­ne Feh­ler geson­dert vor­zu­hal­ten. Es ist aber nötig, sie zu erwähnen.

Anders zu beur­tei­len sind aller­dings Fehl­ur­tei­le, die sich als Kehr­sei­te sei­nes – grund­sätz­lich nicht nur berech­tig­ten, son­dern auch not­wen­di­gen – Miss­trau­ens gegen die eige­ne Regie­rung erge­ben: Sie lau­fen auf die Ten­denz hin­aus, die Schuld des dama­li­gen Kriegs­geg­ners (die »Mit­tel­mäch­te«, unter Füh­rung des Deut­schen Kai­ser­reichs) zu ver­klei­nern oder gar zu ver­schie­ben. Hier­für sol­len im Fol­gen­den zwei Bei­spie­le ange­führt werden.

Im 2. Kapi­tel (»Ser­bi­en und die Ermor­dung des Erz­her­zogs«) steht für Pon­son­by das Pro­blem der bri­ti­schen Regie­rung im Vor­der­grund, »den ser­bi­schen Vor­fall popu­lär zu machen«, um in den zu erwar­ten­den Krieg ein­grei­fen zu kön­nen: »Daher muss­te der ser­bi­sche Fall auf­be­rei­tet und das ›arme klei­ne Ser­bi­en‹ als unschul­di­ge schwa­che Nati­on dar­ge­stellt wer­den, die der bru­ta­len Grau­sam­keit der Öster­rei­cher aus­ge­setzt war.« Dage­gen setzt Pon­son­by »Ent­hül­lun­gen über die Mit­schuld (Her­vor­he­bung: L.Z.) der ser­bi­schen Regie­rung« aus dem Jah­re 1924, wonach »das gesam­te (ser­bi­sche) Kabi­nett bereits eini­ge Zeit vor dem Mord von der Ver­schwö­rung wusste«.

Selbst wenn die nach­träg­li­chen Ent­hül­lun­gen auf Wahr­heit beruh­ten, so bleibt doch fest­zu­hal­ten, dass damit die Schuld am Aus­bruch des Ersten Welt­kriegs nicht bei Ser­bi­en lag (für das es nur um eine Fra­ge des Ver­hält­nis­ses zu Öster­reich-Ungarn gehen konn­te,) son­dern beim Deut­schen Reich und bei Öster­reich-Ungarn, die aus einem loka­len Fun­ken einen Wel­ten­brand entfachten.

So aber schließt Pon­son­by aus der »Wei­ge­rung der ser­bi­schen Regie­rung, (einen gewis­sen) Cig­a­no­vic (des­sen Her­aus­ga­be die Donau­mon­ar­chie, u. a., in ihrem Ulti­ma­tum an Ser­bi­en gefor­dert hat­te) zu fin­den oder ande­ren zu erlau­ben, nach ihm zu suchen«, auf eine Mit­schuld der ser­bi­schen Regie­rung. Dar­aus zieht er den (zu) weit­rei­chen­den Schluss: Dass die öster­rei­chi­sche Regie­rung »des­halb zum Mit­tel des Krie­ges griff, ist nicht über­ra­schend«. Dass Pon­son­by noch nach einem Jahr­zehnt nach Ende des Ersten Welt­kriegs ein so kras­ses Fehl­ur­teil fällt, ist bedenk­lich. Die gemein­sa­me Kriegs­trei­be­rei des füh­ren­den Deut­schen Rei­ches und Öster­reich-Ungarns wird hier­bei ausgeblendet.

Dass die Fixie­rung auf die Kri­tik an der pro­pa­gan­di­sti­schen Tätig­keit des eige­nen Lan­des den Blick ver­engt, zeigt sich auch im näch­sten Kapi­tel (3). Die­ses trägt die schwer ver­ständ­li­che Über­schrift: »Der Ein­marsch in Bel­gi­en als Ursa­che des Ersten Welt­kriegs«. Allein aus die­ser For­mu­lie­rung wird deut­lich, dass sei­ne Optik ver­rutscht ist: Nie­mand wür­de im Ernst die Fra­ge stel­len, ob der Ein­marsch der deut­schen Trup­pen in das neu­tra­le Bel­gi­en eine Ursa­che die­ses Krie­ges gewe­sen sei. Und so kon­sta­tiert Pon­son­by auch schon nach weni­gen Zei­len zutref­fen­der­wei­se: »Es war eine der ersten Aus­wir­kun­gen des Krie­ges. Es war nicht ein­mal der Grund für unse­ren Kriegseintritt. «

Es zeigt sich: Pon­son­by stellt die Fra­ge der Begrün­dung der bri­ti­schen Regie­rung für einen Kriegs­ein­tritt in den Vor­der­grund. Er spricht ver­harm­lo­send von einem »ver­häng­nis­vol­len Feh­ler von Deutsch­land« und bewer­tet den völ­ker­rechts­wid­ri­gen Ein­marsch als »ein Geschenk des Him­mels« »für die Regie­rung und die Pres­se« Den deut­schen Ein­marsch nach Bel­gi­en bewer­tet er, eini­ge Sei­ten spä­ter, mit beschwich­ti­gen­den Wor­ten: »Es gibt kei­ne Nati­on, die sich nicht eines Ver­trags­bru­ches schul­dig gemacht hat. Nach der Erklä­rung eines Krie­ges wer­den stän­dig Ver­trä­ge gebrochen.«

Die­se histo­ri­schen Fehl­ur­tei­le zei­gen die Schat­ten­sei­ten die­ses Klas­si­kers der Kriegs­pro­pa­gan­da: So ver­dienst­voll die Her­aus­ar­bei­tung der pro­pa­gan­di­sti­schen Mecha­nis­men vor bzw. in Krie­gen, so gefähr­lich ist der Ver­such, auf die­ser Grund­la­ge ein alter­na­ti­ves Geschichts­bild zu entwerfen.

Pon­son­bys Lei­stung im Bereich der Ent­lar­vung von Kriegs­pro­pa­gan­da ist unbe­streit­bar. Aber sie muss »vom Kopf auf die Füße« gestellt wer­den. Das ahn­te er wohl selbst, indem er Lord Cecil von Chel­wood zitier­te; die­ser hat­te 1927 in einer Rede geäu­ßert: »Nie­mand kann leug­nen, dass die durch die Rüstungs­wett­läu­fe (Her­vor­he­bung: L.Z.) erzeug­te Gei­stes­hal­tung den Boden berei­te­te, auf dem die schreck­li­che Pflan­ze wuchs, die schließ­lich im Krieg Früch­te trug.«

Arthur Pon­son­by: Lügen in Kriegs­zei­ten /​ Kri­ti­sche Betrach­tun­gen (Neu­aus­ga­be des Klas­si­kers zur Kriegs­pro­pa­gan­da), West­end Ver­lag 2022 (Orig.: 1928), 175 S., 24 €.