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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kultur als Überlebenselixier

Klaus Nili­us   Kul­tur als Überlebenselixier

 

Mei­ne sämt­li­chen Nach­schla­ge­wer­ke ver­wei­ger­ten sich eben­so wie Wiki­pe­dia. Nir­gend­wo konn­te ich fin­den, wer wann das Ver­ei­nig­te König­reich von Groß­bri­tan­ni­en und Nord­ir­land zum ersten Mal »Mut­ter­land der Demo­kra­tie« genannt hat. Wenig­stens akti­vier­te die Suche längst ver­schüt­te­tes Wis­sen: dass schon im Dezem­ber 1689 mit der nach dem Macht­kampf zwi­schen der abso­lu­ti­sti­schen Mon­ar­chie und ihren am Ende erfolg­rei­chen Geg­nern vom eng­li­schen Par­la­ment ver­ab­schie­de­ten Geset­zes­vor­la­ge, der Bill of Rights, grund­le­gen­de Rech­te des Par­la­ments gegen­über dem König­tum fest­ge­legt wur­den. Die­ses Ur-Doku­ment des Par­la­men­ta­ris­mus war ein histo­ri­scher Schritt, für den Groß­bri­tan­ni­en irgend­wann in den fol­gen­den Jahr­hun­der­ten mit dem noch heu­te gebräuch­li­chen Epi­the­ton »Mut­ter­land der Demo­kra­tie« geschmückt wurde.

War­um die­se Recher­che? Weil ich nicht fas­sen konn­te, was der bri­ti­sche Jour­na­list Simon Par­kin in sei­nem 2022 auf Eng­lisch, 2023 auf Deutsch erschie­ne­nen erzäh­len­den Sach­buch mit dem Titel »Die Insel der außer­ge­wöhn­li­chen Gefan­ge­nen« berich­te­te: dass Pre­mier­mi­ni­ster Win­s­ton Chur­chill in der aller­er­sten Kabi­nett­sit­zung sei­ner Regie­rung am 11. Mai 1940 dem Beschluss zustimm­te, alle männ­li­chen Deut­schen und Öster­rei­cher zwi­schen 16 und 60 Jah­ren, »die gegen­wär­tig in den bri­ti­schen Küsten­re­gio­nen leb­ten«, als »feind­li­che Aus­län­der« inter­nie­ren zu las­sen. Sie wur­den unter den Gene­ral­ver­dacht gestellt, bei einer Anlan­dung deut­scher Aggres­so­ren mit die­sen even­tu­ell zusam­men­ar­bei­ten zu wol­len, sozu­sa­gen als Fünf­te Kolon­ne der Nazis.

Die Betrof­fe­nen wur­den so plötz­lich ver­haf­tet und inter­niert, »dass sie kei­ne Gele­gen­heit hat­ten, Vor­keh­run­gen zu tref­fen«. 73500 Flücht­lin­ge leb­ten zu der Zeit in Groß­bri­tan­ni­en. Bei der ersten Mas­sen­ver­haf­tung durch Scot­land Yard am Tag nach dem Kabi­netts­be­schluss, einem Sonn­tag, »wur­den zwei­tau­send Flücht­lin­ge in Gewahr­sam genom­men und den Mili­tär­be­hör­den zur Inter­nie­rung übergeben«.

Die Eva­ku­ie­rung der bri­ti­schen Trup­pen aus Frank­reich und Bel­gi­en über den nord­fran­zö­si­schen Hafen Dün­kir­chen ab dem 26. Mai 1940 und die kurz danach erfolg­te Kapi­tu­la­ti­on Bel­gi­ens ver­stärk­ten die Hyste­rie in Groß­bri­tan­ni­en und führ­ten schließ­lich zur Ver­haf­tung und Mas­sen­in­ter­nie­rung aller Deut­schen und Öster­rei­cher auf der Insel.

»Nach­dem die Regie­rung zuge­las­sen hat­te, dass die Bou­le­vard­pres­se Hur­ra­pa­trio­tis­mus und Hass schür­te, anstatt eine auf­ge­klär­te Hal­tung ein­zu­neh­men, nutz­te sie nun die ›öffent­li­che Mei­nung‹ als Recht­fer­ti­gung ihrer Maß­nah­men.« Die Hyste­rie hat­te die Ver­nunft zer­stört: »Nie­mand in Groß­bri­tan­ni­en war mehr sicher vor einer sofor­ti­gen Ver­haf­tung und unbe­fri­ste­ten Inhaf­tie­rung auf­grund von Natio­na­li­tät, eth­ni­scher Zuge­hö­rig­keit, Reli­gi­on oder poli­ti­scher Überzeugung.«

Aus dem Bett oder aus der Vor­le­sung, von der Werk­bank oder aus der Back­stu­be wur­den die in ihrer Mehr­heit ras­si­stisch Ver­folg­ten und Nazi-Geg­ner in Gefäng­nis­se oder Lager ver­frach­tet und dort ein­ge­pfercht. Par­kin hat die­sen Her­gang mei­nes Wis­sens zum ersten Mal umfas­send dar­ge­stellt. Bis­her wur­de »die bri­ti­sche Inter­nie­rung (…) sorg­fäl­tig vom vor­herr­schen­den Nar­ra­tiv getrennt gehal­ten, das sich Groß­bri­tan­ni­en über die eige­ne Hal­tung im Krieg erzählt: dem von einer geein­ten, muti­gen Nati­on, die einen gerech­ten Krieg führt, um die Ver­folg­ten zu ver­tei­di­gen« (Par­kin). Sel­ten klaff­ten Schein und Wirk­lich­keit so weit aus­ein­an­der: »In Groß­bri­tan­ni­en waren Juden zwar nicht gezwun­gen, in Ghet­tos zu leben oder ras­si­sti­sche Erken­nungs­zei­chen an ihrer Klei­dung zu tra­gen, doch waren sie Gegen­stand einer Viel­zahl von Vor­ur­tei­len, die von Frem­den­feind­lich­keit und Sor­ge um Arbeits­lo­sig­keit bei der Arbei­ter­klas­se bis hin zu Äng­sten vor kul­tu­rel­ler Über­frem­dung inner­halb der Intel­li­genz reichten.«

Die jeg­li­chem Geist von Mensch­lich­keit und Demo­kra­tie spot­ten­de Vor­ge­hens­wei­se schil­dert Par­kin am Bei­spiel von Peter Fleisch­mann. Die­ser hat­te in Deutsch­land die letz­ten Jah­re im Auerbach’schen Wai­sen­haus in Ber­lin ver­bracht. Das Wai­sen­haus beher­berg­te auch eine klei­ne, libe­ra­le Syn­ago­ge und hat­te lan­ge den Ruf, »einer der sicher­sten Orte für jun­ge jüdi­sche Kin­der zu sein« – bis zum Abend des 9. Novem­ber 1938, als ein Mob von Nazi-Anhän­gern auch zu die­ser Syn­ago­ge zog, um sie zu brand­schat­zen, und die Gesta­po sich auf den Weg mach­te, um den damals 16-jäh­ri­gen Peter Fleisch­mann zu holen. Von einem Poli­zei­be­am­ten(!) in Zivil gewarnt, gelang Peter die Flucht in ein vor­erst siche­res Versteck.

In einem »Mei­ster­stück inter­na­tio­na­ler Koope­ra­ti­on und Orga­ni­sa­ti­on« gelang es einem von Quä­kern domi­nier­ten Komi­tee, gefähr­de­te deut­sche Kin­der bis zum Alter von 17 Jah­ren am 1. Dezem­ber 1938 mit einem Zug aus Deutsch­land her­aus­zu­ho­len und von den Nie­der­lan­den aus mit einer Fäh­re nach Groß­bri­tan­ni­en zu brin­gen. Peter Fleisch­manns Name stand auf der Liste, am 2. Dezem­ber traf er mit dem Kin­der­trans­port in Eng­land ein. Ein Foto zeigt ihn bei sei­ner Ankunft, mit einer Künst­ler­map­pe unterm Arm, denn schon damals woll­te er Künst­ler werden.

Am 5. Juli 1940 stand sein Name wie­der auf einer Liste, als es bei Nacht an der Tür des Hau­ses klin­gel­te, in dem er wohn­te. Als er öff­ne­te, kam »knapp und barsch« die Anwei­sung eines Poli­zei­be­am­ten: »Zie­hen Sie sich an. Kom­men Sie mit uns.«

Par­kin: »Peter, weder Sol­dat noch Ver­bre­cher, war einer von 90 Aus­län­dern und Flücht­lin­gen, die an die­sem Mor­gen von der Poli­zei in Sal­ford ver­haf­tet wur­den; ihm wur­den die Bür­ger­rech­te ver­wei­gert, die selbst Ver­ur­teil­te genos­sen: kei­ne Ankla­ge, kein Pro­zess, kei­ne Kau­ti­on. Sei­ne Geschich­te spiel­te über­haupt kei­ne Rol­le – nicht die Tat­sa­che, dass ihn das Nazi­re­gime zum Wai­sen und Obdach­lo­sen gemacht hat­te. Auch nicht, dass er als mit­tel­lo­ses Kind nach Eng­land gebracht wor­den war oder dass ihn einer der ober­sten Rich­ter des Lan­des ein­ge­hend befragt hat­te und zu dem Schluss gelangt war, dass er kein Sicher­heits­ri­si­ko für sein Gast­land darstelle.«

»Der Alp­traum von Warth Mills«, so über­schrieb Par­kin das fol­gen­de Kapi­tel. Warth Mills war eine rie­si­ge, zehn Jah­re zuvor von den Eigen­tü­mern still­ge­leg­te und seit­dem ver­fal­len­de ehe­ma­li­ge Baum­woll­spin­ne­rei in Nord­eng­land in der Nähe von Lan­cashire am Ufer des Flus­ses Irwell. Der Boden der Fabrik war »schmie­rig und glit­schig von altem Maschi­nen­öl. (…) Zahl­lo­se Schei­ben waren zer­bro­chen und lie­ßen den Nie­sel­re­gen ins Inne­re. (…) 2000 Inter­nier­te teil­ten sich eine ein­zi­ge Bade­wan­ne und 18 Was­ser­häh­ne. Die Toi­let­ten bestan­den aus 60 Eimern«. Die Män­ner muss­ten nach ihrer Ankunft vom ört­li­chen Bahn­hof aus sie­ben Kilo­me­ter weit zum Gelän­de mar­schie­ren, unter den Augen einer feind­se­li­gen Bevöl­ke­rung. Als Peter Fleisch­mann ein­traf, war das Gebäu­de schon vol­ler Inter­nier­ter. Er erhielt wie die ande­ren eine Ross­haar­decke, »ver­laust und von Unge­zie­fer zer­fres­sen«. Geschla­fen wur­de auf alten Holzdielen.

Unter den Gefan­ge­nen war auch Rudolf Olden, frü­her Poli­ti­scher Redak­teur des Ber­li­ner Tage­blatts. Par­kin: »Nie­mand in Warth Mills ver­kör­per­te die Absur­di­tät und Impuls­haf­tig­keit von Mas­sen­in­ter­nie­run­gen bes­ser. Olden hat­te nicht nur der­art vehe­ment gegen die Nazis gewet­tert, dass die Par­tei ihm die deut­sche Staats­bür­ger­schaft ent­zo­gen hat­te, son­dern war zudem vor Aus­bruch des Krie­ges vom bri­ti­schen Geheim­dienst ange­wor­ben wor­den, um Pro­pa­gan­daskrip­te zur Aus­strah­lung in Deutsch­land zu verfassen.«

In der zwei­ten Juli-Woche kam Peter Fleisch­mann in ein wei­te­res pro­vi­so­ri­sches Auf­fang­la­ger, wäh­rend ande­re Inter­nier­te, Künst­ler ihres Zei­chens, unter­wegs waren zur Isle of Man, wo sie die ersten Insas­sen des neue­sten Lagers auf der Insel wur­den. Peter soll­te ihnen schon bald nachfolgen.

Auf Man waren schon wäh­rend des Ersten Welt­kriegs »Ene­my Ali­ens« inter­niert wor­den. So wur­den Ange­hö­ri­ge eines Staa­tes genannt, mit dem sich Groß­bri­tan­ni­en in einem Kon­flikt befand. Die­se »Feind­staa­ten­aus­län­der« wur­den als gefähr­lich betrach­tet, zumin­dest als Risi­ko für die eige­ne Sicher­heit. Ins­ge­samt gab es im Zwei­ten Welt­krieg sechs Inter­nie­rungs­la­ger, wobei das Hut­chin­son Camp in der Haupt­stadt Dou­glas auf der Ost­sei­te der Insel Man mit sei­nen vie­len Intel­lek­tu­el­len und Künst­lern schon außer­ge­wöhn­lich war. Man hät­te es nach den Beru­fen der Fest­ge­setz­ten auch Autoren-, Schrift­stel­ler-, Jour­na­li­sten-, Anwalts- oder Pro­fes­so­ren­la­ger nen­nen kön­nen. Doch es wur­de als »Lager der Künst­ler« bekannt, denn Kul­tur und Kunst hiel­ten die Män­ner auf­recht, waren ihr Über­le­bens­eli­xier und lie­ßen sie ihre Wür­de als Men­schen bewahren.

Die­ses Lager, schreibt Par­kin, »offen­bar­te nicht nur die Unbe­zwing­bar­keit des mensch­li­chen Geists, son­dern auch den künst­le­ri­schen Aus­drucks­drang unter allen Umstän­den. Bis Ende 1941 hat­ten die Inter­nier­ten aus Hut­chin­son Kunst­wer­ke pro­du­ziert, mit denen sich gan­ze Gale­rien hät­ten fül­len las­sen.« Berg­bau­in­ge­nieur, Che­mi­ker, Kürsch­ner, Archi­tekt, Prie­ster, Stu­dent, Anwalt, Tor­ten­bäcker, Chir­urg, Elek­tri­ker, Haus­die­ner, Fri­sör, Pro­fes­sor, Mode­de­si­gner, Bal­lett­tän­zer, Schnaps­bren­ner, Arzt, Eng­lisch­leh­rer, Jurist, Archäo­lo­ge, Pia­nist, Jour­na­list, Bild­hau­er, Kunst­hi­sto­ri­ker, Zei­tungs­her­aus­ge­ber, Künst­ler, Autor, Ver­lags­lek­tor, Musi­ker … Schier end­los ist die Liste der Beru­fe der Inhaf­tier­ten. Rund 55 eng bedruck­te Sei­ten umfasst die Namens­li­ste des Buches ein­schließ­lich Geburts­da­tum, Beruf und Ent­las­sungs­da­tum all der Män­ner, die nach­weis­lich im Hut­chin­son Camp auf der Isle of Man inter­niert waren, der im Buch­ti­tel genann­ten, in der Iri­schen See gele­ge­nen 572 Qua­drat­ki­lo­me­ter gro­ßen »Insel der außer­ge­wöhn­li­chen Gefangenen«.

Außer­ge­wöhn­lich war das Camp auch des­we­gen, weil die­se Men­schen »ein Gefäng­nis zu einer Uni­ver­si­tät gemacht haben, ein Lager zu einem Kul­tur­zen­trum, eine Pen­si­on zu einer Kunst­ga­le­rie, ein Kabel­wirr­warr zu einer Sen­de­sta­ti­on, ein Feld zu einem Fit­ness­club, eine Wie­se zu einer Frei­licht­büh­ne«. Vor­trä­ge und Vor­le­sun­gen wur­den ver­an­stal­tet, wie in einem Hör­saal, Fach­re­fe­ra­te ein­zel­ner Berufs­grup­pen wur­den vor­ge­tra­gen, Schau­spie­le wur­den insze­niert, Musi­ker gaben Kon­zer­te – dies alles unter den wohl­wol­len­den Augen von Major Dani­el, dem Lei­ter des Lagers.

Ihnen allen hat Simon Par­kin in sei­nem Sach­buch ein »mit Hil­fe des Dich­te­ri­schen gestal­te­tes Memo­ri­al« errich­tet. (Die­se For­mu­lie­rung habe ich bei Albert Vogel­eis The­len gefun­den, in »Die Insel des zwei­ten Gesichts«, sei­nem gewal­ti­gen, 1953 erschie­ne­nen Zeit­ge­mäl­de der Jah­re 1931 bis 1936.)

Peter Fleisch­mann durf­te das Lager am 7. Okto­ber 1941 ver­las­sen. Eta­blier­te Künst­ler wie der deut­sche Maler und Dada­ist Kurt Schwit­ters hat­ten ihn wäh­rend der Lager­zeit unter ihre Fit­ti­che genom­men, ihn künst­le­risch aus­ge­bil­det, so dass er sogar in einem lager­in­ter­nen Kunst­wett­be­werb sieg­te. Sie hat­ten schließ­lich auch sei­ne Frei­las­sung erreicht. Kurz nach dem Ver­las­sen des Camps nahm Fleisch­mann den Nach­na­men eines Freun­des und Künst­ler­kol­le­gen an. Als Peter Mid­gley trat er in die eng­li­sche Armee ein und kehr­te 1945 als eng­li­scher Sol­dat nach Ber­lin zurück. 1976 stell­te er auf Ein­la­dung des Ber­lin Arts Festi­vals in der Neu­köll­ner Rat­haus­ga­le­rie sein künst­le­ri­sches Werk aus. Er starb im Jahr 1991.

Simon Par­kin: Die Insel der außer­ge­wöhn­li­chen Gefan­ge­nen – Deut­sche Künst­ler in Chur­chills Lagern, aus dem Eng­li­schen von Hen­ning Dede­kind und Els­beth Ran­ke, Auf­bau Ver­lag, Ber­lin 2023, mit Fotos, 560 S., 30 €.