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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Industriegeschichte

Manch­mal ist es wohl­tu­end, einen Roman zu lesen, der ganz nach »alter Art und Wei­se« geschrie­ben ist. Wer Bernd Siko­ras »Sie­ben­hö­fen« zur Hand nimmt, wird sich erin­nert füh­len an umfäng­li­che Roma­ne, wel­che die Ent­wick­lung und Bil­dung eines Men­schen vor­füh­ren. Das ist hier die fik­ti­ve Gestalt Carl Stei­ner, Stein­metz­lehr­ling. Es ist reiz­voll, die­se erfun­de­ne Figur mit Men­schen kon­fron­tiert zu sehen, die es wirk­lich gege­ben hat. Stei­ner wird hin­ein­ge­stellt in den Beginn des Indu­strie­zeit­al­ters im Erz­ge­bir­ge, im Jah­re 1813, erlebt den Bau eines palast­ar­tig en Spin­ne­rei­be­trie­bes in Sie­ben­hö­fen, errich­tet von Bau­mei­ster Loh­se für den aus Eng­land stam­men­den Maschi­nen­bau­er Evan Evans. Der künst­le­risch begab­te Carl Stei­ner ver­lässt das ihm eng wer­den­de Erz­ge­bir­ge, geht nach Leip­zig an die Kunst­aka­de­mie, gerät spä­ter in die Kunst­sze­ne in Rom. Der Autor wei­tet so die Geschich­te sei­nes Hel­den und der Anfän­ge des Indu­strie­zeit­al­ters zum Pan­ora­ma von Kunst und Poli­tik jener Jah­re. Das ist gewiss fas­zi­nie­rend, mar­kiert aber auch eine Schwä­che des Romans. Denn die fes­seln­de und unge­mein viel Neu­es bie­ten­de Erzäh­lung von der Indu­stria­li­sie­rung Sach­sens ver­liert sich im zwei­ten Teil in Schil­de­run­gen, wie man sie bereits zu ken­nen meint, bis hin zur Räu­ber­pi­sto­le. Da wird mit­un­ter über­zo­gen, der span­nen­de Ansatz »Sie­ben­hö­fen« gerät etwas aus dem Blick.

Es ist zu bewun­dern, wie viel histo­ri­schen Hin­ter­grund der Autor auf­zu­bie­ten ver­mag. Auch Wis­sen über Archi­tek­tur, Male­rei, Musik und Regio­nal­ge­schich­te. Zuwei­len jedoch hät­te etwas mehr Mut zur Kür­ze dem Roman gut­ge­tan, man­che Schil­de­run­gen ufern aus, die Dar­stel­lun­gen sexu­el­ler Erfah­run­gen des Prot­ago­ni­sten wir­ken mit­un­ter wenig sou­ve­rän, beim Gebrauch und bei der Schrei­bung von Anre­de­pro­no­mi­na geht es drun­ter und drüber.

Lese­emp­feh­lung? Ja, unbe­dingt für den, der wis­sen will, wie Anfang des 19. Jahr­hun­derts die Indu­strie­welt ent­stand, in der wir heu­te leben. Und lei­der ver­schwin­den deren Anfangs­zeug­nis­se immer mehr, weil der mit ihr in die Welt gekom­me­ne Gedan­ke aus­schließ­li­cher Nütz­lich­keit deren Erhal­tung ver­hin­dert. Ein Schreib­an­lass für Siko­ra war der Abriss des letz­ten im Erz­ge­bir­ge kom­plett erhal­te­nen Fabrik­ge­bäu­des, das einst in »Palast­ar­chi­tek­tur« gebaut wor­den war. So wird wenig­stens mit Wor­ten etwas erhal­ten, das aus unse­ren Augen verschwindet.

Bernd Siko­ra: »Sie­ben­hö­fen«, Mit­tel­deut­scher Ver­lag, 303 Sei­ten, 20 €