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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Mit Corona in Italien

Die ita­lie­ni­sche Coro­na-Erfah­rung der ersten Jah­res­hälf­te hat eine schwer­wie­gen­de Hypo­thek hin­ter­las­sen: über 35.000 Tote, dar­un­ter 176 Ärz­te und unge­zähl­tes Pfle­ge­per­so­nal, einen geschätz­ten Wirt­schafts­ein­bruch für 2020 von über zehn Pro­zent des Brut­to­so­zi­al­pro­dukts (weit höher als in der BRD) mit schon einer hal­ben Mil­li­on ver­lo­re­ner Arbeits­plät­ze und einer viel dün­ne­ren finan­zi­el­len Unter­stüt­zung der Betrof­fe­nen – neben wei­te­ren noch nicht abseh­ba­ren Fol­gen des drei­mo­na­ti­gen Lock­downs mit stren­ger Aus­gangs­sper­re im gan­zen Land. Erste Unter­su­chun­gen der Uni­ver­si­tät Turin stell­ten bei über zwei Drit­teln der Bevöl­ke­rung ver­mehr­te Angst­zu­stän­de und Depres­sio­nen fest, außer­dem weit mehr Suizide.

Dra­ma­tisch war im Febru­ar und März zuta­ge getre­ten, dass ein seit Jah­ren unter­fi­nan­zier­tes und geschwäch­tes staat­li­ches Gesund­heits­we­sen, des­sen Pri­va­ti­sie­rungs­maß­nah­men seit lan­gem zu Lasten der all­ge­mei­nen Brei­ten­ver­sor­gung der Bevöl­ke­rung gin­gen, sich vor allem in der beson­ders bela­ste­ten Lom­bar­dei gegen­über dem ersten Ansturm der Covid-Kran­ken als völ­lig über­for­dert erwie­sen hat. Mehr als 6280 Tote (davon etwa 4000 zu Hau­se Gestor­be­ne), die zum Bei­spiel in Ber­ga­mo im März die Ster­be­ra­te des glei­chen Zeit­raums im Vor­jahr um 370 Pro­zent erhöh­ten, unter ihnen gleich 60 Ärz­te und Kran­ken­pfle­ge­kräf­te, ste­hen für das, was die Hin­ter­blie­be­nen als »dis­astro uma­ni­ta­rio« (huma­ni­tä­res Desa­ster) anpran­gern. Lang­wie­ri­ge juri­sti­sche Aus­ein­an­der­set­zun­gen wer­den die Fol­ge sein.

Ande­re, bes­ser orga­ni­sier­te Regio­nen, wie Vene­ti­en, sind anders vor­ge­gan­gen. Der dort ver­ant­wort­li­che Medi­zi­ner Andrea Cri­san­ti aus Padua hat beim ersten Aus­bruch des Virus in dem klei­nen Ort Vo’ Eug­a­neo durch sofor­ti­ge Iso­lie­rung des Kran­ken­hau­ses und mas­si­ve Testung der Gesamt­be­völ­ke­rung in nur neun Tagen die Ver­brei­tung des Virus von zunächst drei Pro­zent Posi­ti­ven auf nur noch 0,25 Pro­zent ein­däm­men kön­nen. Dort war das not­wen­di­ge medi­zi­ni­sche Mate­ri­al vor­han­den, und die Epi­de­mie-Not­fall­plä­ne waren peri­odisch aktua­li­siert worden.

Den süd­li­chen Regio­nen Ita­li­ens blie­ben hohe Infek­ti­ons­zah­len wäh­rend der ersten Coro­na­pha­se erspart. Erst die ver­stärk­te Rei­se­tä­tig­keit wäh­rend der Som­mer­mo­na­te ver­teil­te das Virus dann gleich­mä­ßi­ger, klei­ne­re Infek­ti­ons­her­de wer­den inzwi­schen im gan­zen Land fest­ge­stellt, die täg­li­chen Zah­len über­schrei­ten seit Ende August auch wie­der die 1000er-Gren­ze – bei rela­tiv nied­ri­ger und lokal sehr unter­schied­li­cher Test-Tätigkeit.

Die lang­sa­me Locke­rung nach dem rigi­den Lock­down wur­de medi­al von Pes­si­mi­sten wie von Opti­mi­sten beglei­tet. Letz­te­re sahen das Virus schon im Juni als nicht mehr oder kaum noch infek­ti­ös an und ermög­lich­ten damit vie­len Ita­lie­nern zumin­dest den Kurz­trip an den Wochen­en­den ans ersehn­te Meer – ohne Gewis­sens­bis­se. Die Strän­de waren von Ein­hei­mi­schen bevöl­kert, aus­län­di­sche Tou­ri­sten feh­len dort eben­so wie in den Städten.

Die Pes­si­mi­sten, die seit Beginn vor Unter­schät­zung und Leicht­sinn warn­ten, tre­ten nun im Medi­en-Dis­kurs wie­der in den Vor­der­grund – vor allem wäh­rend der End­los-Debat­ten um die best­mög­li­chen Bedin­gun­gen für die bevor­ste­hen­de Öff­nung der Schu­len am 14. Sep­tem­ber, nach immer­hin sechs Mona­ten Pause!

Damit tut sich ein wei­te­res gro­ßes Pro­blem­feld auf, das weni­ger von Coro­na als von dem schon vor­her unter­fi­nan­zier­ten Schul­sy­stem bedingt ist. Seit Jahr­zehn­ten ver­fällt sogar die Bau­sub­stanz vie­ler Schul­ge­bäu­de, und ein gro­ßer Teil des Lehr­per­so­nals arbei­tet jah­re­lang pre­kär. Neue Plan­stel­len kön­nen nur über ein büro­kra­tisch schwer­fäl­li­ges Wett­be­werbs­sy­stem ver­ge­ben wer­den – der Beginn eines näch­sten »Con­cor­so« für 35.000 Plan­stel­len ist für den kom­men­den Okto­ber vor­ge­se­hen, aber zur­zeit sind etwa 200.000 Stel­len für Lehr­kräf­te und Mit­ar­bei­ter noch unbe­setzt. Kin­der und Jugend­li­che, die bis­her zu den am stärk­sten bela­ste­ten Grup­pen der letz­ten Mona­te gehö­ren, ste­hen vor gro­ßen Unge­wiss­hei­ten und mit ihnen ihre Familien.

All die vie­len nun zu lösen­den Pro­ble­me, die durch Coro­na zwar nicht völ­lig neu ent­stan­den sind, aber mas­siv ver­stärkt wer­den, haben die gesell­schaft­li­chen Wider­sprü­che noch grel­ler ans Licht gebracht als zuvor. Eine Erkennt­nis, zu der man nicht nur in Ita­li­en kommt und mit der die Men­schen unter­schied­lich umge­hen. Ver­drän­gungs­me­cha­nis­men set­zen vor allem dort ein, wo uner­freu­li­che Rea­li­tä­ten nicht akzep­tiert und also negiert wer­den. Dazu trägt die Tat­sa­che bei, dass für Coro­na nicht ein­zel­ne Brun­nen­ver­gif­ter ver­ant­wort­lich gemacht wer­den kön­nen (auch wenn das immer wie­der ver­sucht wird: zum Bei­spiel die Migran­ten, die Rei­sen­den oder tout court Chi­na), son­dern dass es sich letzt­lich um ein Pro­dukt unse­res Lebens- und Wirt­schafts­sy­stems han­delt. Das und des­sen Prä­mis­sen müss­te man also radi­kal ändern, um sol­che Viren und ähn­li­che Phä­no­me­ne in Zukunft ver­hin­dern zu kön­nen. Eine sol­che Ver­än­de­rung steht aber nir­gends auf dem Pro­gramm (nicht nur) der Rech­ten, deren Eli­ten ja gera­de die bestehen­de inter­na­tio­na­le Aus­beu­tungs­pra­xis bei­be­hal­ten wol­len. Da es also kei­nen klar erkenn­ba­ren Ver­ur­sa­cher gibt, ist es am ein­fach­sten, das Pro­blem zu leug­nen oder her­un­ter­zu­spie­len und die (durch­aus oft dis­ku­ta­blen) Maß­nah­men der viel­fach unge­lieb­ten staat­li­chen oder poli­ti­schen Auto­ri­tä­ten abzu­leh­nen. Dabei kommt der Pro­test von rechts gegen die ver­meint­li­che Ein­schrän­kung unse­rer indi­vi­du­el­len Frei­hei­ten gera­de von denen, die sonst immer nach Law and Order rufen bezie­hungs­wei­se eine der­ar­ti­ge Poli­tik dort prak­ti­zie­ren, wo sie an der Macht sind.

Und selbst die sonst eher Unpo­li­ti­schen fühl­ten sich doch in unse­ren west­li­chen Gesell­schaf­ten bis­her vor den Kata­stro­phen der wei­ten Welt noch geschützt und möch­ten die­se ver­meint­li­che »Sicher­heit« nicht ein­bü­ßen! Auch nicht durch eine tem­po­rä­re Ein­schrän­kung unse­rer bis­her üppi­gen indi­vi­du­el­len Frei­räu­me, in denen ein soli­da­ri­scher Gemein­sinn längst nicht mehr im Zen­trum unse­rer gesell­schaft­li­chen Pra­xis stand. Durch Inter­net ver­brei­ten sich all die­se Stim­men über­all. Sie schei­nen beson­ders vie­le Anhän­ger dort zu fin­den, wo die Zahl der Opfer nicht erschreckend hoch ist (wie zum Bei­spiel in Deutsch­land). In Ita­li­en ist die Zahl der soge­nann­ten nega­zio­ni­sti erheb­lich klei­ner. Am 5. Sep­tem­ber demon­strier­ten in Rom gera­de mal 2000 Men­schen, orga­ni­siert von der extrem rech­ten For­za Nuo­va, zusam­men mit den Impf­geg­nern der No Vax und ver­schie­de­nen Regie­rungs­geg­nern. Deren Spruch­bän­der lob­ten unter ande­rem Trump, und ein gro­ßes Trans­pa­rent trug die aus Deutsch­land ent­lehn­te Auf­schrift: Noi sia­mo il popo­lo /​ Wir sind das Volk. Ach ja.

Die ita­lie­ni­sche Rea­li­tät, die über­all star­ke sozia­le und loka­le Dif­fe­ren­zen auf­weist, beweg­te sich in all den Mona­ten nicht sel­ten zwi­schen Dra­ma und Far­ce. Denn hier steht vor all dem eine höchst fra­gi­le Regie­rung, die aus zwei im Wesent­li­chen schwer zu ver­ein­ba­ren­den poli­ti­schen Frak­tio­nen besteht, wel­che von einem nicht-gewähl­ten Regie­rungs­chef zusam­men­ge­hal­ten wer­den. Dabei hat Giu­sep­pe Con­te bis­her ein von der Mehr­heit aner­kann­tes, erstaun­li­ches Talent bewie­sen. Jeden­falls in der aku­ten Pha­se, als auch das Par­la­ment weit­ge­hend vom Lock­down beschränkt war und rasche Ent­schei­dun­gen erfor­der­lich waren. Dass vie­le der Ent­schei­dun­gen und Maß­nah­men im Ein­zel­nen dis­kus­si­ons­wür­dig sind, ver­steht sich von selbst.

Inzwi­schen ist aber erneut der alte, erbit­ter­te Kampf um die Regie­rungs­macht aus­ge­bro­chen, denn ent­schei­den­de Ter­mi­ne ste­hen an: Am 20. Sep­tem­ber Regio­nal- und Kom­mu­nal­wah­len in acht Regio­nen von Apu­li­en bis Vene­ti­en, bei denen Sal­vi­nis Lega mit allen Mit­teln ver­sucht, letz­te Bastio­nen der Demo­kra­ti­schen Par­tei zu schlei­fen. Damit will er sei­nen im Lock­down etwas ver­blass­ten Anspruch auf die natio­na­le Regie­rung ver­stär­ken und Neu­wah­len erzwin­gen. Aber nicht nur die Lega setzt dar­auf im Bund mit den übri­gen Rech­ten, auch im Regie­rungs­la­ger gibt es trans­ver­sa­le Ver­su­che, sich neu zu for­mie­ren. Denn die Fünf-Ster­ne-Bewe­gung sieht die Zahl ihrer Sit­ze nach Neu­wah­len hal­biert, vie­le Ver­tre­ter suchen schon jetzt ein neu­es Dach. Und Matteo Ren­zi macht kei­nen Hehl dar­aus, die Demo­kra­ti­sche Par­tei, die er nach der letz­ten Regie­rungs­bil­dung ver­las­sen hat, mit Hil­fe sei­ner dort ver­blie­be­nen Man­nen neu kapern zu wol­len und wei­ter nach rechts zu schie­ben. Par­tei­chef Nico­la Zin­ga­ret­ti, der damit zur Dis­po­si­ti­on stün­de, hat soeben ver­langt, alle mögen ihre Kar­ten auf den Tisch legen, damit klar wür­de, wer die Regie­rung zu Fall brin­gen will.

Gleich­zei­tig mit den Wah­len soll ein wei­te­res »zustim­men­des« Refe­ren­dum statt­fin­den, in dem mit ein­fa­cher Mehr­heit (Ja/​Nein) eine Ver­fas­sungs­än­de­rung bestä­tigt wer­den soll, die im Par­la­ment kei­ne not­wen­di­ge Mehr­heit erreicht hat­te (ähn­lich wie die von Ren­zi ver­such­te und ver­lo­re­ne Ver­fas­sungs­re­form 2018). Es geht hier­bei um die vom M5S gefor­der­te Begren­zung der Par­la­men­tes: Die Zahl der Abge­ord­ne­ten soll von 630 auf 400 im Par­la­ment und im Senat von 315 auf 200 redu­ziert wer­den. Die For­de­rung gehör­te zu den Bedin­gun­gen des M5S für die Regie­rungs­bil­dung, Kabi­nett Con­te II, vor einem Jahr. Die Demo­kra­ten muss­ten das schlucken, obwohl sie frü­he­re Ver­su­che die­ser Art immer abge­lehnt hat­ten. Sie konn­ten dar­an zwar ihre alte For­de­rung nach einer not­wen­di­gen Wahl­rechts­re­form im Sin­ne des Ver­hält­nis­wahl­rechts knüp­fen, doch die steht noch aus. Wich­ti­ge Expo­nen­ten der PD distan­zie­ren sich bereits von der Wahl­emp­feh­lung ihres Par­tei­chefs Zin­ga­ret­ti, der inner­par­tei­lich sowie­so in einer Klem­me steckt. Alle Pro­gno­sen sehen die Ja-Stim­men über­wie­gen, zumal es kein Quo­rum gibt, denn das Anse­hen der Poli­ti­ker könn­te tie­fer kaum sin­ken in dem kri­sen­ge­beu­tel­ten Land.

Maß­geb­li­che Ver­fas­sungs­ju­ri­sten sehen für die­sen Fall eine wei­te­re Schwä­chung der demo­kra­ti­schen Insti­tu­tio­nen vor­aus, die vor gut 25 Jah­ren unter Ber­lus­co­ni begann. Der hat sich jetzt in sei­nem Sar­di­ni­en-Som­mer mit Coro­na infi­ziert und liegt im Kran­ken­haus – die Fern­seh­nach­rich­ten berich­ten täg­lich mehr­fach über sei­nen Zustand. Der nun fast 85-Jäh­ri­ge war zuvor schon wie­der so prä­sent im poli­ti­schen Fern­seh­all­tag, als sei er nie zu einer viel­jäh­ri­gen Haft­stra­fe wegen schwe­rer Ver­bre­chen ver­ur­teilt worden.

Aber im Fern­se­hen beherrscht Coro­na noch den Dis­kurs, der dem Publi­kum klar­zu­ma­chen ver­sucht, dass es noch auf nicht abseh­ba­re Zeit mit dem Virus wird leben muss. Viel weni­ger hört man über die Erar­bei­tung der kom­ple­xen Sanie­rungs­pro­jek­te, die Ita­li­en bis zum 15. Okto­ber in Brüs­sel ein­rei­chen muss, um an die ange­sag­ten Mil­li­ar­den zu kom­men, die frü­he­stens im Som­mer 2021 flie­ßen kön­nen. Vor­aus­set­zung dafür ist, dass das Pro­gramm von allen 27 euro­päi­schen Par­la­men­ten bestä­tigt wird, eine gro­ße Unbe­kann­te! Noch pro­ble­ma­ti­scher ist, dass der Regie­rung ein gro­ßer, alter­na­ti­ver Zukunfts­ent­wurf für das gan­ze Land fehlt.

»Man kann der neu­en Regie­rung nur wün­schen, dass sie nicht an den vie­len vor ihr lie­gen­den Klip­pen zer­schel­le. Denn soll­te sie schei­tern, wird Ita­li­en für lan­ge Zeit nach rechts abdriften.«

Mit die­sen Wor­ten ende­te im Sep­tem­ber 2019 mein letz­ter Bericht über die poli­ti­sche Situa­ti­on in Ita­li­en vor der Coro­na-Epi­de­mie. Schlim­mer hät­te es kaum kom­men können.