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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kann Europa abrüsten?

Vor knapp 130 Jah­ren, im März 1893, erschien im sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Vor­wärts eine acht­tei­li­ge Arti­kel­se­rie von Fried­rich Engels unter der Über­schrift »Kann Euro­pa abrü­sten?« (Marx Engels Wer­ke, Band 22, Ber­lin 1963, S. 369-399). Sie beglei­te­te die dama­li­ge Reichs­tags­de­bat­te über die Mili­tär­vor­la­ge, mit der der dama­li­ge Reichs­kanz­ler Gene­ral von Capri­vi die Auf­rü­stung Deutsch­lands vorantrieb.

Im ersten Teil der Serie, der am 1. März erschien, umriss Engels die Lage: »Seit fünf­und­zwan­zig Jah­ren rüstet ganz Euro­pa in bis­her uner­hör­tem Maß. Jeder Groß­staat sucht dem andern den Rang abzu­ge­win­nen in Kriegs­macht und Kriegs­be­reit­schaft. Deutsch­land, Frank­reich, Russ­land erschöp­fen sich in Anstren­gun­gen, eins das and­re zu über­bie­ten. Gera­de in die­sem Augen­blick mutet die deut­sche Regie­rung dem Volk eine neue, so gewalt­sa­me Kraft­an­span­nung zu, dass selbst der gegen­wär­ti­ge sanf­te Reichs­tag davor zurück­bebt. Ist es da nicht Tor­heit, von Abrü­stung zu reden?

Und doch rufen in allen Län­dern die Volks­klas­sen, die fast aus­schließ­lich die Mas­se der Sol­da­ten zu stel­len und die Mas­se der Steu­ern zu zah­len haben, nach Abrü­stung. Und doch hat über­all die Anstren­gung den Grad erreicht, wo die Kräf­te – hier die Rekru­ten, dort die Gel­der, am drit­ten Ort bei­de – zu ver­sa­gen begin­nen. Gibt es denn kei­nen Aus­weg aus die­ser Sack­gas­se außer durch einen Ver­wü­stungs­krieg, wie die Welt noch kei­nen gese­hen hat?

Ich behaup­te: Die Abrü­stung und damit die Garan­tie des Frie­dens ist mög­lich, sie ist sogar ver­hält­nis­mä­ßig leicht durch­führ­bar, und Deutsch­land mehr als ein and­rer zivi­li­sier­ter Staat, hat zu ihrer Durch­füh­rung die Macht wie den Beruf« (MEW, Bd. 22, S. 373).

Ange­sichts der damals durch­aus noch herr­schen­den revo­lu­tio­nä­ren Stim­mung inner­halb der Sozi­al­de­mo­kra­tie mag das auf den ersten Blick über­ra­schen, denn Engels kün­digt hier Vor­schlä­ge zur Siche­rung des Frie­dens an, die nicht gekop­pelt sind an die For­de­rung nach einem Sturz der kapi­ta­li­sti­schen Klas­sen­herr­schaft. Er begrün­det dies ange­sichts der Gefahr eines »Ver­wü­stungs­krie­ges, wie die Welt noch kei­nen gese­hen hat«.

Die Arti­kel­se­rie hat so viel Reso­nanz, dass Ende März dann ein soge­nann­ter »Sepa­rat­druck« der Serie in hoher Auf­la­ge erscheint und im gan­zen Reich ver­brei­tet wird. Dar­in wird er im Vor­wort noch deut­li­cher: »Ich ver­su­che, den Beweis zu füh­ren, dass die­se Umwand­lung (d.h. die Umwand­lung ste­hen­der Hee­re in Mili­zen, die auf all­ge­mei­ner Volks­be­waff­nung beru­hen, MS) schon jetzt mög­lich ist, auch für die heu­ti­gen Regie­run­gen und unter der heu­ti­gen poli­ti­schen Lage. Ich gehe also von die­ser Lage aus und schla­ge einst­wei­len nur sol­che Mit­tel vor, die jede heu­ti­ge Regie­rung ohne Gefahr der Lan­des­si­cher­heit anneh­men kann. Ich suche nur fest­zu­stel­len, dass vom rein mili­tä­ri­schen Stand­punkt der all­mäh­li­chen Abschaf­fung der ste­hen­den Hee­re abso­lut nichts im Wege steht; und dass, wenn trotz­dem die­se Hee­re auf­recht­erhal­ten wer­den, dies nicht aus mili­tä­ri­schen, son­dern aus poli­ti­schen Grün­den geschieht, dass also mit einem Wort die Armeen schüt­zen sol­len nicht so sehr gegen den äuße­ren wie gegen den inne­ren Feind.« Und im sel­ben Vor­wort wird die Gefahr beschwo­ren, dass die Auf­rü­stung ent­we­der getrie­ben wer­de zu einem »Grad, wo (…) die Völ­ker durch die Mili­tär­last öko­no­misch« rui­niert wür­den oder die Auf­rü­stung »in einen all­ge­mei­nen Ver­nich­tungs­krieg aus­ar­ten muss«.

Das ist eine hoch­ak­tu­el­le Über­le­gung: Wenn ein »Ver­nich­tungs­krieg« droht, dann gilt es bis zum offe­nen Kriegs­aus­bruch alle Anstren­gun­gen zu unter­neh­men, um die­se Gefahr abzu­wen­den – auch ohne den per­spek­ti­visch zwin­gend not­wen­di­gen System­bruch zur Vor­aus­set­zung der Samm­lung der Kräf­te gegen die­sen Ver­nich­tungs­krieg zu machen.

Folg­lich ent­wickelt Engels mit der gan­zen ihm eige­nen mili­tä­ri­schen Sach­kun­de ein detail­lier­tes Pro­gramm, wie Euro­pa abrü­sten könn­te, um die­sen Ver­nich­tungs­krieg abzu­wen­den. Von die­sem Pro­gramm ist vie­les auf unse­re Zeit nicht über­trag­bar. Damals gab es weder Pan­zer noch Flug­zeu­ge, geschwei­ge denn Atom­waf­fen. Miliz­hee­re wer­den für fort­schritt­li­che Bewe­gun­gen des­halb natür­lich heu­te wenig von Nut­zen sein. Am ehe­sten käme dem Bild eines bewaff­ne­ten Vol­kes zur­zeit die Bevöl­ke­rung der USA nahe, wo nahe­zu jeder eine Knar­re im Schrank hat. Die Zukunft lässt sich so sicher nicht erkämp­fen. Aber das Wesen der Gedan­ken von Engels ist geblie­ben: Ohne Abrü­stung gibt es kei­nen Pfad in eine huma­ne Zukunft.

Die Kern­fra­ge, die Engels beschäf­tigt, ist die Mög­lich­keit der Abschaf­fung der Mas­sen­hee­re, deren Ver­nich­tungs­po­ten­ti­al durch Ver­än­de­run­gen der Mili­tär­tech­nik sich ver­viel­facht habe. Aus­führ­lich beschreibt er die­se gewal­ti­gen Veränderungen:

»Es ist ein son­der­ba­rer Kon­trast: Unse­re höhe­ren Mili­tärs sind gera­de in ihrem Fach so ent­setz­lich kon­ser­va­tiv, und doch gibt es heu­te kaum ein and­res Gebiet, das so revo­lu­tio­när ist wie das mili­tä­ri­sche. Zwi­schen dem glat­ten Sechs­pfün­der und der sie­ben­pfün­di­gen Hau­bit­ze (…) und den heu­ti­gen gezo­ge­nen Hin­ter­la­dungs­ge­schüt­zen (…) schei­nen Jahr­hun­der­te zu lie­gen.« Wir leb­ten, ana­ly­siert er, »inmit­ten die­ser unun­ter­bro­che­nen Revo­lu­tio­nie­rung der tech­ni­schen Grund­la­gen der Kriegs­füh­rung«. Dies ist bei allen skiz­zier­ten Unter­schie­den zwi­schen der dama­li­gen und der heu­ti­gen Kriegs­ge­fahr hoch aktu­ell: Gera­de die Revo­lu­tio­nie­rung der Waf­fen­tech­nik, die ja mit dem 6. August 1945 nicht zum Abschluss gekom­men ist, bringt erstens eine so gro­ße Labi­li­sie­rung der mili­tä­ri­schen Gleich­ge­wich­te, dass ein ver­meint­li­cher, vor­über­ge­hen­der Vor­sprung des einen Lan­des dazu füh­ren kann, dass die­ses Land einen sol­chen Vor­sprung für einen schnel­len Sieg im Prä­ven­tiv­krieg nut­zen will, bevor er vom ande­ren nivel­liert wird. Zwei­tens führ­te damals die Kom­bi­na­ti­on von Mas­sen­heer und tech­ni­scher Revo­lu­tio­nie­rung des Mili­tär­we­sens zu der Gefahr öko­no­mi­scher Erschöp­fung selbst ohne Krieg – wie heu­te die immer mehr Res­sour­cen ver­schlin­gen­de Ent­wick­lung und War­tung hoch­kom­ple­xer Waffensysteme.

Durch­aus kon­kret und nicht nur metho­disch aktu­ell ist sein Hin­weis auf die Bedeu­tung der Offi­zie­re für die schnel­le Mobi­li­sie­rung neu­er Trup­pen im Kriegs­fall: »In allen frü­he­ren Krie­gen fehl­ten nach ein paar Mona­ten Feld­zug die Offi­zie­re.« Dies sei ein beson­ders aus­ge­präg­tes Pro­blem für Russ­land, das er wie die ande­ren an der dama­li­gen Auf­rü­stungs­spi­ra­le betei­lig­ten Natio­nen sehr detail­liert ana­ly­siert: »Zu einer Armee gehö­ren nicht nur Rekru­ten, son­dern auch Offi­zie­re. Und damit sieht es in Russ­land sch­ofel aus.«

Schließ­lich heizt er in der Arti­kel­se­rie dem selbst­ge­fäl­li­gen deut­schen Phi­li­ster kräf­tig ein, der sich im Bewusst­sein sei­ner seit 1866 schein­bar unge­bro­che­nen und auch in Zukunft unbrech­ba­ren Sie­ges­se­rie einen Dreck um ein­mal abge­schlos­se­ne Ver­trä­ge küm­mer­te: »Wir dür­fen nicht ver­ges­sen: Die sie­ben­und­zwan­zig Jah­re Bis­marck­wirt­schaft haben Deutsch­land – nicht mit Unrecht – im gan­zen Aus­land ver­hasst gemacht. Weder die Anne­xi­on der nord­schles­wig­schen Dänen noch die (…) Anne­xi­on Elsass-Loth­rin­gens (…) hat­ten mit der Her­stel­lung der ›natio­na­len Ein­heit‹ das Gering­ste zu tun. Bis­marck hat es ver­stan­den, Deutsch­land in den Ruf der Län­der­gi­er zu brin­gen.« Ange­sichts des­sen und wegen des Wie­der­auf­le­bens fin­ster­ster deut­scher Groß­machträu­me­rei­en wäre es nicht schlecht, die über­all noch vor­han­de­nen Bis­marck­denk­mä­ler ins Visier zu nehmen.

Das alles aber muss heu­te, in Anbe­tracht der gegen­über der Lage von vor 130 Jah­ren noch viel grö­ße­ren Gefahr eines auch Deutsch­land ver­schlin­gen­den »Ver­nich­tungs­krie­ges« zurück­tre­ten. Es muss ent­lang der Grund­ge­dan­ken die­ser Arti­kel­se­rie gelin­gen, »Euro­pa abrü­sten« zu las­sen. Zur nüch­ter­nen Bestands­auf­nah­me gehört aller­dings auch dies: So ver­nünf­tig Engels Vor­schlä­ge im Grund­sätz­li­chen wie auch im Kon­kre­ten waren – sie blie­ben ohne prak­ti­sche Wir­kung in der poli­ti­schen Land­schaft. Den Preis die­ser Igno­ranz der Ver­nunft gegen­über zahl­ten gut 20 Jah­re spä­ter genau die­je­ni­gen jun­gen Män­ner aus den unte­ren Volks­klas­sen, deren Strö­me von Blut der alte Engels schon kom­men sah und die zu ver­mei­den er ver­zwei­felt versuchte.

 Die­ser Text erschien zuerst am 1. Febru­ar 2023 auf der Web­site der Marx-Engels-Stif­tung in Wup­per­tal, zu deren 1. Vor­sit­zen­der unser Autor am 28. Janu­ar gewählt wur­de. Auf die­ser Web­site fin­den sich ein­mal im Monat unter der Rubrik »Marx Engels aktu­ell« aus­ge­wähl­te Text­hin­wei­se auf Gedan­ken von Karl Marx und Fried­rich Engels, die auch heu­te noch aktu­ell sind.