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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Kunstfreiheit unter Beschuss

Der Krieg in der Ukrai­ne tobt seit mehr als einem Jahr erbar­mungs­los auf den Schlacht­fel­dern in der Ukrai­ne, und er bestimmt seit­dem nicht min­der unbarm­her­zig die Debat­te inner­halb unse­rer Talk­shows und Feuil­le­tons um das Für und Wider wei­te­rer Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne. Und wäh­rend der ober­ste chi­ne­si­sche Außen­po­li­ti­ker, Wang Yi, auf der Münch­ner Sicher­heits­kon­fe­renz eine »poli­ti­sche Bei­le­gung der Ukrai­ne-Kri­se« for­dert, ver­langt der ukrai­ni­sche Vize­re­gie­rungs­chef Olex­an­der Kubra­kow zeit­gleich ganz unver­hoh­len nach der Lie­fe­rung von Streu­mu­ni­ti­on und Phos­phor-Brand­waf­fen. Auch wenn es sich dabei um völ­ker­recht­lich teils geäch­te­tes Kriegs­ge­rät han­delt. Zur glei­chen Zeit mahnt der ukrai­ni­sche Prä­si­dent Wolo­do­myr Selen­skyj in einer Live-Schal­te zur Eröff­nung der 73. Ber­li­na­le, dass auch Kunst und Kul­tur eine Ent­schei­dung »für Zivi­li­sa­ti­on oder für Tyran­nei« tref­fen müs­se, wäh­rend inzwi­schen hoch­ka­rä­ti­ge klas­si­sche Ver­an­stal­tun­gen ein­fach des­halb abge­sagt wer­den, weil die Künst­ler ent­we­der aus Russ­land stam­men oder, wie der Fall Anna Netreb­ko zeigt, sich nicht aus­rei­chend genug vom rus­si­schen Prä­si­den­ten Putin distan­ziert haben.

Davon ist nun auch der Chef­di­ri­gent des SWR-Sym­pho­nie­or­che­sters, Teo­dor Curr­ent­zis, betrof­fen. Das von ihm gegrün­de­te musi­cAe­ter­na Orche­stra und der von ihm gegrün­de­te musi­cAe­ter­na Choir zäh­len zu den gefrag­te­sten rus­si­schen Ensem­bles und sind in ihrer künst­le­ri­schen Arbeit bestrebt, die Gren­zen kon­ti­nu­ier­lich zu erwei­tern, sei es im Hin­blick auf histo­ri­sche Auf­füh­run­gen, neue Inter­pre­ta­tio­nen von Wer­ken des 19. und 20. Jahr­hun­derts oder Urauf­füh­run­gen zeit­ge­nös­si­scher Musik. Musi­cAe­ter­na ist regel­mä­ßig bei gro­ßen inter­na­tio­na­len Festi­vals zu Gast, dar­un­ter die Ruhr­tri­en­na­le, das Kla­ra­festi­val in Brüs­sel, das Festi­val d’Aix-en-Provence, das Lucer­ne Festi­val und das Diag­hi­lev-Festi­val in Perm. 2017 debü­tier­te musi­cAe­ter­na mit Mozarts Requi­em bei den Salz­bur­ger Fest­spie­len und eröff­ne­te mit La cle­men­za di Tito als erstes rus­si­sches Ensem­ble in der Geschich­te des Festi­vals das Opernprogramm.

Orche­ster und Chor wur­den 2004 in Nowo­si­birsk gegrün­det und sind seit 2019 in Sankt Peters­burg behei­ma­tet. Für kom­men­den April war mit Curr­ent­zis, Orche­ster und Chor die Auf­füh­rung der Mes­se h-Moll BWV 232 von Johann Seba­sti­an Bach in der Ber­li­ner Phil­har­mo­nie und der Ham­bur­ger Elb­phil­har­mo­nie geplant, was nun aber nicht statt­fin­den wird. Auf der Home­page der Elb­phil­har­mo­nie heißt es hier­zu: »Da die Orga­ni­sa­ti­on von Kon­zer­ten mit den in St. Peters­burg ansäs­si­gen Ensem­bles auf­grund der Aus­wir­kun­gen des rus­si­schen Angriffs­krie­ges auf die Ukrai­ne aktu­ell mit zu vie­len Unsi­cher­hei­ten behaf­tet ist, kann die­ses Kon­zert nicht wie geplant stattfinden.«

Das musi­ka­li­sche Genie Curr­ent­zis ging nun statt­des­sen mit der begna­de­ten nor­we­gi­schen Gei­ge­rin Vil­de Frang und sei­nem SWR-Sym­pho­nie­or­che­ster mit Wer­ken von Alban Berg und Dmit­rij Schost­a­ko­witsch auf Tour­nee, was durch das vir­tuo­se Spiel der Aus­nah­me­gei­ge­rin zu einem musi­ka­li­schen Erleb­nis höch­ster Güte wur­de. Und geni­al war auch, dass im zwei­ten Teil die Ach­te Sin­fo­nie von Schost­a­ko­witsch zur Auf­füh­rung kam, die auch als Sta­lin­grad-Sin­fo­nie bezeich­net wird. Der Publi­zist Bernd Feucht­ner schrieb in sei­ner Dis­ser­ta­ti­on zur künst­le­ri­schen Iden­ti­tät Dimit­ri Schost­a­ko­witschs (und der staat­li­chen Repres­si­on gegen ihn) über des­sen Ach­te Sin­fo­nie, die 1943 inner­halb weni­ger Wochen ent­stand und im Febru­ar 1944 in Nowo­si­birsk urauf­ge­führt wor­den ist, fol­gen­des: »In grau­en­vol­ler Zeit denkt der Mensch über sich nach. Dar­aus ent­stand ein Requi­em für alle Opfer der Gewalt, die Men­schen ande­ren Men­schen ange­tan haben. Schost­a­ko­witsch schrieb, er habe hier das Bild vom see­li­schen Leben eines Men­schen schaf­fen wol­len, den der gigan­ti­sche Ham­mer des Krie­ges betäubt habe« (Feucht­ner, Bernd, Und Kunst gekne­belt von der Gro­ben Macht, Frank­furt am Main 1986).

Acht­zig Jah­re spä­ter ist Kunst noch immer ganz exi­sten­ti­ell davon bedroht, von einer »Gro­ben Macht« unter Beschuss zu gera­ten, wie die Kon­zert­ab­sa­gen ver­deut­li­chen. Anläss­lich des 70. Jah­res­ta­ges des Welt­kriegs­en­des haben 2015 die Osna­brücker und Wol­go­gra­der Sin­fo­ni­ker die Sieb­te (Leningrad)-Sinfonie von Schost­a­ko­witsch in Mos­kau, Kiew und Minsk auf­ge­führt und dabei erklärt: »Wir glau­ben an die Kraft der Musik – das ist unse­re Chan­ce. Wir wol­len gera­de jetzt ein deut­li­ches Zei­chen für inter­na­tio­na­le Zusam­men­ar­beit und geleb­te Völ­ker­ver­stän­di­gung set­zen. Wir wer­den dabei nicht ver­ges­sen, dass die der­zei­ti­gen deutsch-rus­si­schen und rus­sisch-euro­päi­schen Bezie­hun­gen ange­spannt sind und ein hohes Maß an Sen­si­bi­li­tät verlangen!« 

Acht Jah­re spä­ter wird von uns allen nun ein unge­mein höhe­res Maß an Sen­si­bi­li­tät hin­sicht­lich unse­rer ganz per­sön­li­chen Hal­tung zum Ukrai­ne­krieg abver­langt. Eines dürf­te dabei aber unbe­strit­ten sein: SCHOSTAKOWITSCH muss ein­deu­tig mehr auf­ge­führt und gehört werden!