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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Salto mortale

Als Ein­zel­han­dels­ge­schäf­te schlie­ßen muss­ten, Hotels kei­ne Gäste mehr auf­neh­men durf­ten, Besu­che in Alters- und Pfle­ge­hei­men auch von den näch­sten Ange­hö­ri­gen nicht mehr durch­ge­führt wer­den konn­ten, die Schu­len schlos­sen, ja, sogar Spiel­plät­ze abge­sperrt wur­den, da ging es – so hieß es – um den Schutz des Lebens und die kör­per­li­che Unver­sehrt­heit. Zuneh­mend schien es so, und die Ster­be­sta­ti­sti­ken zeig­ten es, dass vor allem die klei­ne Grup­pe der über Sieb­zig­jäh­ri­gen geschützt wer­den muss­te. Für die Jün­ge­ren, vor allem die Kin­der und Jugend­li­chen, bestand so gut wie über­haupt kei­ne Gefahr. Die mei­sten der »an« oder irgend­wie »mit« Covid-19 Gestor­be­nen hat­ten die durch­schnitt­li­che Lebens­er­war­tung erreicht oder sie sogar überschritten.

Aber die poli­ti­sche Klas­se, unter­stützt durch ihre Leit­me­di­en, schien wild ent­schlos­sen zu sein, eine Art Expe­ri­ment durch­zu­füh­ren. Wie weit kann man die Grund­rech­te der Bür­ge­rin­nen und Bür­ger ein­schrän­ken, die Frei­heits­räu­me beschnei­den, ohne dazu hin­rei­chen­de Ver­an­las­sung zu haben? Oder anders gefragt: Wür­de es mög­lich sein, bei einer Gefah­ren­la­ge, deren Aus­maß unsi­cher und deren Vor­han­den­sein strit­tig war, gleich­wohl ein Regime durch­zu­set­zen, das in sei­ner Über­grif­fig­keit nur äußerst begrenzt in den Rah­men des Grund­ge­set­zes pass­te? Wäre es mög­lich, mit Hil­fe der Medi­en flä­chen­deckend eine Art Not­stand der Demo­kra­tie plau­si­bel zu machen und die Bevöl­ke­rung hin­ter sich zu scharen?

Das Expe­ri­ment gelang. Alles dreh­te sich nur noch um Infek­tio­nen. Hin­ter der Mas­ke der Zustim­mung, die bald jeder demon­strie­ren muss­te, eta­blier­te sich so etwas wie dump­fe Unter­wer­fung, die sich als Men­schen­freund­lich­keit tar­nen durf­te. Eine Art gesun­de Volks­ge­mein­schaft ent­stand, auch wenn eine star­ke Min­der­heit dar­an nicht teil­neh­men wollte.

Denn gefragt und gezwei­felt wer­den durf­te nicht. Könn­te es sein, dass der Scha­den, den die staat­li­chen Ein­grif­fe aus­lö­sten, grö­ßer, viel­leicht weit grö­ßer als der Nut­zen sein wür­de? Dass jede Abwä­gung, jede Ver­hält­nis­mä­ßig­keit aus­ge­blen­det wur­de? Dass nicht sel­ten um der Här­te der Maß­nah­me wil­len der Will­kür anstel­le der wis­sen­schaft­li­chen Klä­rung der Vor­zug gege­ben wurde?

Wer so oder ähn­lich frag­te, fand sich als »Covidi­ot« im Abseits wie­der. Guten Glau­bens, in einer demo­kra­ti­schen Streit­kul­tur zu leben, über­rasch­te ihn eine Kul­tur der Beschimp­fun­gen. Selbst wis­sen­schaft­li­che Kri­ti­ker ver­wan­del­ten sich unver­se­hens in Anti­se­mi­ten, Eso­te­ri­ker oder Alu­hut­trä­ger. Wer der Imp­fung miss­trau­te, mutier­te zum Tyran­nen über die recht­schaf­fe­ne Mehr­heit, die ver­zwei­felt mit dem Virus rang. Wer kör­per­li­che Unver­sehrt­heit nicht im Sin­ne der poli­ti­schen Klas­se ver­stand, ihr nicht abnahm, dass Gesund­heit nun der Gene­ral­nen­ner aller poli­ti­schen Ziel­set­zun­gen war, muss­te erfah­ren, dass er nicht mehr dazu zu gehör­te. »Demo­kra­tie« exi­stier­te nur noch inso­weit, als sie iden­tisch war mit der Rea­li­täts­wahr­neh­mung der poli­ti­schen Elite.

Weni­ge Mona­te spä­ter hat sich der Wind voll­stän­dig gedreht. Nun ste­hen nicht mehr Leben und kör­per­li­che Unver­sehrt­heit nach Arti­kel zwei des Deut­schen Grund­ge­set­zes im Mit­tel­punkt staat­li­chen Han­delns, nun wer­den kei­ne Alten und Kran­ken mehr geschützt. Leben und Über­le­ben sind zu Wer­ten drit­ter oder vier­ter Rang­ord­nung her­ab­ge­stuft wor­den. Muss­ten sich die Men­schen wäh­rend der Pan­de­mie fast jede belie­bi­ge Ein­schrän­kung gefal­len las­sen, weil jedes ein­zel­ne Ster­be­ri­si­ko als untrag­bar ange­se­hen wur­de, wer­den nun alle, ob alt oder jung, krank oder gesund gezwun­gen, das größ­te aller nur denk­ba­ren Risi­ken ein­zu­ge­hen: näm­lich den Hor­ror eines mög­li­chen Welt- oder Atomkriegs.

Auf den ersten Blick könn­te eine sol­che The­se absurd erschei­nen. Wer von den Poli­ti­ke­rin­nen und Polit­kern ris­kiert Krieg und Zer­stö­rung, gar ein Mas­sen­ster­ben in Deutsch­land? Und wel­che poli­ti­sche Klas­se ist so ver­rückt, dass sie ihre Wert­set­zun­gen inner­halb weni­ger Mona­te radi­kal aus­wech­selt und plötz­lich im Ver­gleich zu vor­her eine tota­le Kehr­wen­de hin­legt? Und doch ist es so. Schau­en wir uns an, was zur­zeit geschieht.

Wir befin­den uns mit­ten in einem neu­en Expe­ri­ment, einem noch ein­schnei­den­de­ren als dem vor­he­ri­gen. Dies­mal lau­tet die Fra­ge fol­gen­der­ma­ßen: Was wird pas­sie­ren, wenn wir uns mit offe­nem Feu­er einem Pul­ver­fass nähern? Wird es hoch­ge­hen, explo­die­ren, wird unse­re Poli­tik den euro­päi­schen Krieg, den Welt­krieg oder gar den Atom­krieg aus­lö­sen? Zuge­ge­ben: Wir wis­sen es nicht, aber wir expe­ri­men­tie­ren, wir testen es aus. Artil­le­rie­waf­fen, Schüt­zen­pan­zer, Kampf­pan­zer, Aus­bil­dung von ukrai­ni­schem Mili­tär – bald auch Kampf­jets, Lang­strecken­ra­ke­ten, Kriegs­schif­fe, U-Boo­te, viel­leicht schließ­lich Streu­mu­ni­ti­on und Phos­phor-Brand­waf­fen –, Russ­land warnt und warnt. Irgend­wo gibt es eine rote Linie, aber wo?

Und schon wie­der darf nicht gefragt und gezwei­felt wer­den. Die qua­si offi­zi­el­le Devi­se lau­tet: Nie­mals wird Russ­land zu Atom­waf­fen grei­fen. Selbst­ver­ständ­lich besteht hier kei­ne Gefahr. Jetzt ist Mut ange­sagt, denn Putin ver­steht nur die Spra­che der Gewalt. Wer jetzt an die eige­ne Haut denkt oder an die sei­ner Lie­ben, über­sieht, dass Russ­land allein ver­ant­wort­lich ist für die­sen Krieg, egal, was dar­aus resul­tiert. Ein neu­er Hero­is­mus wird ver­kün­det. Ist die ande­re Sei­te im Unrecht, sind wir im Recht. Und sind wir im Recht, dann sind Gedan­ken an das eige­ne Über­le­ben schä­big. Alles ande­re ist Angst­ma­che­rei – bald wird es hei­ßen: Defätismus.

Eine gemein­sa­me Klam­mer ver­bin­det den Sal­to Mor­ta­le, der im Über­gang von der Coro­na­pha­se zum neu­en Bel­li­zis­mus statt­ge­fun­den hat. Es ist die Rol­le der Mas­sen­me­di­en. Denn das erste Expe­ri­ment hat ein Ergeb­nis für das zwei­te ein­ge­fah­ren, das für die poli­ti­sche Klas­se unschätz­bar ist. Es lau­tet: Was auch immer die poli­ti­sche Klas­se durch­set­zen möch­te, eine Welt­sicht, ein Pro­jekt, eine Wert­set­zung – es braucht nicht mehr plu­ra­li­stisch ver­han­delt zu wer­den, garan­tiert durch­führ­bar ist es mit Hil­fe der Medi­en. Was Hans Magnus Enzens­ber­ger einst »Bewusst­seins­in­du­strie« nann­te, eine Indu­strie, die Bewusst­sein fabri­ziert, um es anschlie­ßend für sich nut­zen zu kön­nen, die­se Indu­strie ist höchst effek­tiv, man kann sich dar­auf ver­las­sen. Wir­ken zumin­dest die gro­ßen Medi­en mit, wird Demo­kra­tie iden­tisch mit den Vor­stel­lun­gen der obe­ren Zehn­tau­send. Ohne Pro­ble­me kön­nen die­se mor­gen das Gegen­teil des­sen auf die Agen­da set­zen, was gestern noch alter­na­tiv­los war.

Bleibt die Fra­ge, in wel­cher Wei­se zur­zeit die Ver­laut­ba­rungs­or­ga­ne der Ton­an­ge­ben­den, von der Bun­des­pres­se­kon­fe­renz bis zu den Tages­zei­tun­gen, vor­ge­hen, um Zustim­mung zu pro­du­zie­ren. Ein simp­les Rezept zeigt sich hier: Der Tenor der Bot­schaf­ten wird ein­fach umge­dreht, ins Gegen­teil gewen­det, bei­be­hal­ten wird der Mora­lis­mus. Wer zu den Guten gehö­ren, sich an die Brust klop­fen will, fol­ge die­sem Rezept: Gestern war schwarz die Wahr­heit, heu­te ist es weiß, gestern hieß es, Gefah­ren auf­plu­stern, jetzt heißt es, Gefah­ren aus­blen­den. Damals tön­te es »Vor­sicht, Vor­sicht«, jetzt ist Vor­sicht etwas für schwa­che Ner­ven. Vor­dem droh­te flä­chen­deckend der unsicht­ba­re Tod, jetzt kann uns nichts pas­sie­ren, auch wenn in der Ukrai­ne die Fet­zen fliegen.

Ähn­lich gegen­sätz­lich auch die Feind­bil­der: Vor­mals gal­ten Leug­ner und Ver­harm­lo­ser als poli­tisch gefähr­lich, heu­te sind Leug­ner und Ver­harm­lo­ser mora­lisch inte­gre Sau­ber­män­ner. Damals war Angst und Angst­ma­che­rei ange­sagt, jetzt ist Furcht­lo­sig­keit eine heh­re Tugend. Denn wer wür­de sei­nen Freund im Stich las­sen, wenn ihm ein Schur­ke an die Gur­gel geht? Damit hat sich die Rol­len­ver­tei­lung zwi­schen damals und heu­te radi­kal umge­dreht. Fast könn­te man davon reden, dass aus den Mit­glie­dern der poli­ti­schen Klas­se – in Ana­lo­gie zu den »Covidio­ten« – »Kriegs­idio­ten« gewor­den sind, die ihre Rol­le so über­zeu­gend spie­len, als trü­gen sie einen Aluhut.

Ohne Alu­hut und schlicht unter Anwen­dung von Fol­ge­rich­tig­keit zeigt sich dage­gen eine ein­fa­che Logik. Sie ent­hüllt, in wel­cher Grenz­si­tua­ti­on wir uns befin­den. Es geht nicht um eine Infek­ti­on, die Alte und Kran­ke gefähr­det, jetzt geht es wirk­lich ums Gan­ze. Frucht­los sind Debat­ten, ob ein ato­ma­rer Schlag­ab­tausch sofort die gesam­te Mensch­heit aus­lö­schen wür­de oder »nur« Tei­le davon, viel­leicht nur Euro­pa. Da noch kein all­ge­mei­ner Atom­krieg statt­ge­fun­den hat, haben wir kei­ne ver­bind­li­chen Daten. Was aber zahl­rei­che wis­sen­schaft­li­che Stu­di­en für wahr­schein­lich hal­ten, ist schreck­lich genug. Auch die neue­sten tak­ti­schen Kern­waf­fen machen kei­nen Unter­schied zwi­schen Kom­bat­tan­ten und Zivi­li­sten. Wird nach dem Über­tre­ten der nuklea­ren Schwel­le die Eska­la­ti­on nicht sofort gestoppt, dürf­te die Zahl der unmit­tel­ba­ren Opfer in die Mil­lio­nen gehen.

Vor allem die kli­ma­ti­schen Aus­wir­kun­gen wären irrepa­ra­bel. Durch die Auf­wir­be­lung von Staub und Ruß könn­te es zu einem mona­te­lan­gen »nuklea­ren Win­ter« kom­men, der welt­wei­te Hun­gers­nö­te im Gefol­ge hät­te. Mil­li­ar­den Men­schen wären betrof­fen, und die mei­sten hat­ten mit dem Ukrai­ne­kon­flikt nichts zu tun. Sel­ten den­ken wir dar­an, dass jeder Atom­krieg zugleich ein Mas­sen­mord an Unbe­tei­lig­ten ist. In weit ent­fern­ten Welt­ge­gen­den müss­ten sie eben­so ster­ben wie in der Nähe des Kriegs­schau­plat­zes, sofort oder im Zeit­ver­lauf danach.

Den Leug­nern der Gefahr soll­te auch die­ses gesagt wer­den: Sowohl Russ­land als auch die USA und damit die Nato betrach­ten Atom­waf­fen als ziem­lich nor­ma­les Kriegs­ge­rät. Bis ins Detail aus­ge­ar­bei­tet sind führ­ba­re Nukle­ar­krie­ge Bestand­teil mili­tä­ri­scher Pla­nun­gen in Ost und West. Ob als ato­ma­re Artil­le­rie auf dem Schlacht­feld oder als Hyper­schall­ra­ke­ten für den inter­kon­ti­nen­ta­len Ein­satz – ihre Nut­zung hat einen festen Platz im Kon­zept zeit­ge­mä­ßer Kriegs­füh­rung. Vie­le beru­hi­gen sich damit, Kern­waf­fen sei­en aus­schließ­lich zur Abschreckung da. Das ist ein Ammen­mär­chen von gestern. Wes­halb soll der Ein­satz von Nukle­ar­waf­fen im Ukrai­ne­krieg völ­lig aus­ge­schlos­sen sein?

Eigent­lich soll­te es auch der poli­ti­schen Klas­se und ihren media­len Unter­stüt­zern nicht schwer­fal­len, jene Logik zu begrei­fen, die zur Abwen­dung eines mög­li­chen Atom­kriegs allein greift, denn im Hin­blick auf die­se Kata­stro­phe sit­zen wir alle im glei­chen Boot.

Daher soll­te ein ein­fa­cher Grund­satz ange­wen­det wer­den. Er lau­tet so: Droht der Mensch­heit ein Übel, das jedes vor­stell­ba­re Maß über­steigt, wäre sein Ein­tre­ten also eine Art welt­wei­te Super­ka­ta­stro­phe, so ist es mora­li­sche Pflicht, alles zu tun, um die­ses Übel zu ver­hin­dern. Die Wahr­schein­lich­keit oder Unwahr­schein­lich­keit sei­nes Ein­tre­tens spielt dabei kei­ne Rol­le. Um die Lebens­grund­la­ge der Mensch­heit, gar deren Exi­stenz darf nicht gepo­kert wer­den. Abso­lut ver­bo­ten ist es jeden­falls zu ver­harm­lo­sen, weg­zu­schau­en oder War­ner als Angst­ha­sen zu diffamieren.

Frag­lich ist es, ob die poli­ti­sche Klas­se, ob ihre Medi­en die­se ein­fa­che Logik ver­ste­hen wer­den. Alles hängt davon ab, dass eine kri­ti­sche Öffent­lich­keit ent­steht, die den poli­ti­schen Ent­schei­dern deut­lich mit­teilt: Wir wol­len leben, bit­te han­delt entsprechend!