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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Tugendhafte Illoyalität

Von dem bri­ti­schen Schrift­stel­ler James Joy­ce ist über­lie­fert, dass er nicht gera­de ein ein­fa­cher Zeit­ge­nos­se gewe­sen ist, der im zwi­schen­mensch­li­chen Dis­kurs nur all­zu oft die Gegen­po­si­ti­on ein­nahm und dabei immer wie­der auch gern die eige­ne Posi­ti­on lust­voll hin und her wech­sel­te. Für sei­ne Zeit­ge­nos­sen dürf­te jenes Per­sön­lich­keits­merk­mal im Kon­takt mit ihm her­aus­for­dernd und müh­sam gewe­sen sein, gleich­wohl ist es nahe­lie­gend, dass es sei­ne Erzähl­kunst maß­geb­lich geprägt haben dürf­te, konn­te er doch so auch sei­ne Roman­fi­gu­ren mit über­ra­schen­den und für den Leser inspi­rie­ren­den, nicht sel­ten aber auch müh­sa­men Wen­dun­gen zeich­nen. Wie hät­te Joy­ce uns auch sonst mit Leo­pold Bloom einen end­los lan­gen Tag durch Dub­lin schicken können?

Der rus­si­sche Angriffs­krieg gegen die Ukrai­ne tobt seit nun­mehr fast zehn Mona­ten uner­bitt­lich und ein Ende scheint der­zeit noch immer in wei­ter Fer­ne zu lie­gen. In einem Twit­ter-Video hat sich nun der ukrai­ni­sche Bot­schaf­ter in Deutsch­land, Olek­sij Make­jew, zu Wort gemel­det und von wei­te­ren Zusa­gen für deut­sche Waf­fen­lie­fe­run­gen berich­tet. In der Ber­li­ner Zei­tung erschien hier­zu fol­gen­des Zitat von ihm: »Im direk­ten Gespräch wur­den uns mehr Waf­fen und wei­te­re Muni­ti­on zuge­si­chert. Wel­che, wer­den wir zu gege­be­ner Zeit gemein­sam bekannt­ge­ben«, und wei­ter heißt es: »Wir wün­schen uns und ganz Euro­pa auch Frie­den. Der Frie­den fällt aber nicht vom Him­mel. Vom Him­mel fal­len nur rus­si­sche Marsch­flug­kör­per. Und töten uns, Ukrai­ner. Der Frie­den in Euro­pa muss erkämpft wer­den. Von uns, Ukrai­ner«, so Make­jew. An der Front wür­den des­halb drin­gend wei­te­re Flug­ab­wehr­sy­ste­me, Pan­zer­hau­bit­zen, Gepar­de und Muni­ti­on gebraucht, »außer­dem sind wir wei­ter im Gespräch über die Lie­fe­rung von Mar­der- und Leo­pard-Pan­zern. Die Ent­schei­dung dar­über liegt aber bei der Bun­des­re­gie­rung«, so der Bot­schaf­ter. Die Bun­des­re­gie­rung habe ihm zuge­si­chert, dass es ohne Zustim­mung der Ukrai­ner nicht zu Ver­hand­lun­gen mit Russ­land kom­men wer­de: »Mir wur­de klar zuge­si­chert, dass es kei­ne Ver­hand­lun­gen mit (dem rus­si­schen Prä­si­den­ten Wla­di­mir) Putin gibt, wenn wir das nicht wol­len.« Momen­tan brau­che die Ukrai­ne kei­ne Ver­mitt­ler, son­dern Ver­bün­de­te. »Denn Frie­den in der Ukrai­ne kann nicht her­bei­ver­han­delt wer­den, son­dern muss erkämpft wer­den. Wenn der Bun­des­kanz­ler sagt, der Ukrai­ne wer­de gehol­fen, solan­ge sie uns braucht, dann heißt das, bis der letz­te rus­si­sche Sol­dat von unse­rem Boden ver­schwun­den ist, ein­schließ­lich Donezk, Luhansk und der Krim, dass Repa­ra­tio­nen gezahlt und Kriegs­ver­bre­cher ver­ur­teilt wor­den sind«, so Make­jew in unmiss­ver­ständ­li­cher Art und Weise.

Der Krieg in der Ukrai­ne hat seit zehn Mona­ten unsag­ba­res Leid über die Men­schen in der Ukrai­ne gebracht und auch über die rus­si­schen Fami­li­en, deren Söh­ne die­sem Krieg bis­her zum Opfer gefal­len sind. Und ein Ende ist lei­der noch immer nicht in Sicht. Bei allem Ver­ständ­nis für den Wunsch der Ukrai­ne, eine schein­bar bedin­gungs­lo­se Unter­stüt­zung von Deutsch­land zu erhal­ten, stellt sich doch die Fra­ge nach den Gren­zen jener Kriegs-Loya­li­tät, die nicht voll­kom­men ent­grenzt sein kann und auch nicht sein darf.

Illoya­les Ver­hal­ten hat gemein­hin kei­nen guten Ruf und gilt schon gar nicht als tugend­haft, aber loya­les Ver­hal­ten muss des­halb nicht immer zwangs­läu­fig erstre­bens­wer­ter sein. Der Wirt­schafts­jour­na­list Rai­ner Hank warnt hier gar vor einer Loya­li­täts­fal­le, in die jemand hin­ein­ge­ra­ten kann, der all­zu sehr die Ver­bun­den­heit in der Gemein­schaft sucht. Die Men­schen bräuch­ten über­schau­ba­re Grup­pen, um emo­tio­nal zu ver­wur­zeln, wes­halb es natür­lich sei, sich jenen Grup­pen gegen­über auch loy­al zu ver­hal­ten. Dar­aus kön­ne aber schnell ein Kon­for­mi­täts­druck ent­ste­hen, der Grup­pen­zwang nach sich zöge und dage­gen Auf­be­geh­ren­de als unbe­quem oder gar ver­rä­te­risch erschei­nen las­se, so Hank. Ein kon­struk­tiv illoya­les Ver­hal­ten zeugt indes auch von dem Mut, nein zu sagen, um damit dem ent­täusch­ten Gegen­part zu einem Per­spek­ti­ven­wech­sel ver­hel­fen zu kön­nen, der für den lang­fri­sti­gen Ver­lauf eines Kon­flikt­ge­sche­hens sehr bedeut­sam sein kann. Auch wenn das nur all­zu oft erst in einer refle­xi­ven Betrach­tung ver­stan­den und gar ein­ge­stan­den wird.

Die bis­he­ri­gen Waf­fen­lie­fe­run­gen an die Ukrai­ne wer­den in der media­len Bericht­erstat­tung häu­fig als unzu­rei­chend des­avou­iert, obwohl die auf der Home­page der Bun­des­re­gie­rung öffent­lich zugäng­li­che Liste der »Mili­tä­ri­schen Unter­stüt­zungs­lei­stun­gen für die Ukrai­ne« etwas ganz ande­res ver­deut­licht. Bun­des­kanz­ler Scholz ist des­halb zu wün­schen, dass er dem ukrai­ni­schen Bot­schaf­ter neben der berech­tig­ten Soli­da­ri­tät und Unter­stüt­zung auch wei­ter­hin deren not­wen­di­ge Begrenzt­heit auf­zeigt, damit ein ernst­haf­ter Beginn von diplo­ma­ti­schen Bemü­hun­gen um ein Ende des Ukrai­ne­krie­ges nicht in uner­mess­lich wei­te Zeit­räu­me aus­ufert. Wohin so etwas füh­ren kann, weiß jeder Leser, der je tat­säch­lich den tap­fe­ren Ver­such gewagt hat, mit Leo­pold Bloom einen Tag lang Dub­lin zu erkun­den. Ein ein­zi­ger Tag kann dabei zur erbar­mungs­lo­sen Ewig­keit wer­den, oder eben auch nicht, wenn er ein vor­zei­ti­ges Ende fin­det. Gegen­über den Her­ren Bloom und Make­jew muss Illoya­li­tät nicht zwangs­läu­fig eine Schan­de sein, manch­mal ist sie ein­fach auch nur eine Tugend!