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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Und plötzlich waren alle Deutsche

Wie schon Saša Sta­nišićs »Her­kunft« ist auch »Heim­kehr ins Unbe­kann­te – Unter­wegs nach Palä­sti­na« von Lina Merua­ne »ein Buch über den ersten Zufall unse­rer Bio­gra­fie: irgend­wo gebo­ren wer­den. Und was danach kommt.«

Gebo­ren wur­de die Schrift­stel­le­rin 1970 in Sant­ia­go de Chi­le. 2000 zog sie nach New York, wo sie an der New York Uni­ver­si­ty Lite­ra­tur und Krea­ti­ves Schrei­ben unter­rich­tet. 2017 war sie Sti­pen­dia­tin des Ber­li­ner Künst­ler­pro­gramms des Deut­schen Aka­de­mi­schen Austauschdienstes.

Um 1915 her­um war ihr Groß­va­ter nach Chi­le emi­griert, wie zahl­rei­che ande­re Palä­sti­nen­ser jener Zeit, die nicht für das Osma­ni­sche Reich in den Krieg zie­hen woll­ten. Sie lie­ßen sich in Latein­ame­ri­ka nie­der, »konn­ten oder woll­ten nicht mehr zurück­keh­ren, ver­ga­ßen sogar das ara­bi­sche Wort für Rück­kehr«. Merua­nes Groß­el­tern »fühl­ten sich schließ­lich als ganz nor­ma­le Chi­le­nen«. Sie lie­gen in einem Fami­li­en­grab in Santiago.

Die Welt als Flucht. Heu­te leben rund 700 000 Men­schen palä­sti­nen­si­scher Her­kunft in Latein­ame­ri­ka, die Hälf­te davon in Chi­le, wie Merua­nes enge­re Fami­lie. Vie­le sind Nach­kom­men der ersten gro­ßen Flucht­wel­le aus den Jah­ren 1947 bis 1949, der Zeit des ersten ara­bisch-israe­li­schen Krie­ges. Die UN-Gene­ral­ver­samm­lung hat­te im Herbst 1947 den Tei­lungs­plan für Palä­sti­na ange­nom­men, was jedoch nicht wie erhofft die Aus­ein­an­der­set­zun­gen zwi­schen den ara­bi­schen und jüdi­schen Bewoh­nern des bri­ti­schen Man­dats­ge­bie­tes Palä­sti­na been­de­te. Die unter­schied­li­chen Bezeich­nun­gen für den Krieg spre­chen Bän­de: Ist es für Isra­el auch heu­te noch der »Unab­hän­gig­keits­krieg«, so ist es für die ara­bisch-palä­sti­nen­si­sche Sei­te »Die Kata­stro­phe«. Die zwei­te gro­ße Flucht­wel­le ergab sich 1967 als Fol­ge des Sechs­ta­ge­krie­ges und der Anne­xi­on palä­sti­nen­si­scher Gebie­te durch das sieg­rei­che Israel.

1967 war es auch, als Merua­nes Groß­va­ter ver­such­te, sei­ne Geburts­stadt Beit Jala wie­der­zu­se­hen, der Krieg aber die­sen Wunsch zunich­te­mach­te. Der Vater indes will kei­nen Fuß in die okku­pier­ten Gebie­te set­zen: »Er hat­te sich der Gren­ze nur genä­hert. Hat­te ein­mal von Kai­ro aus sei­ne schon alten Augen ost­wärts gewandt und sie für einen Moment auf dem fer­nen Punkt ruhen las­sen, wo Palä­sti­na lie­gen muss­te.« Und auch spä­ter, an der jor­da­ni­schen Gren­ze, »hät­te er sich nur dem Über­gang nähern müs­sen, aber sei­ne gro­ßen Füße ver­san­ken im Treib­sand der Unschlüs­sig­keit«. Er woll­te nicht »voll Arg­wohn behan­delt, Frem­der in einem Land genannt wer­den, das er als das sei­ne betrach­tet, denn dort steht noch immer sein Elternhaus«.

Aber das Palä­sti­nen­si­sche bleibt auch in der Fer­ne ein »Hin­ter­grund­ge­räusch«, und wenn inzwi­schen auch in frem­der Spra­che gespro­chen wird, spürt man »zwi­schen den Sil­ben den Dorn des Geflüch­te­ten, der die­sen Sta­tus als Anspruch aufrechterhält«.

Und so macht sich Lina Merua­ne auf die Suche nach der ver­lo­re­nen Zeit. Dem ver­lo­re­nen Land. Den ver­lo­re­nen Mit­glie­dern der Fami­lie. Auf die Suche nach der Her­kunft. Es ist kei­ne Rück­kehr, »höch­stens der Besuch eines Lan­des, in dem ich nie gewe­sen bin, von dem ich kein eige­nes Bild habe … ein Zurück­keh­ren anstel­le eines ande­ren. Mei­nes Groß­va­ters. Mei­nes Vaters.«

2011 ist es soweit. Merua­ne erhält eine Ein­la­dung und fährt ins heu­ti­ge Isra­el, nach Beit Jala. Ihr Buch ent­hält im ersten Teil den Bericht von die­ser Rei­se, ohne Kom­pro­mis­se aus palä­sti­nen­si­scher Sicht und mit Empa­thie für den palä­sti­nen­si­schen Stand­punkt geschrie­ben. Ihm schließt sich der 2019 ver­fass­te Bericht über die zwei­te Rei­se an: bei­des Repor­ta­gen vol­ler Refle­xio­nen und essay­isti­scher Ein­wür­fe, deren bit­te­re Erkennt­nis in der Fest­stel­lung gip­felt, »dass aus­ge­rech­net in Isra­el mehr als anders­wo ras­si­sche, gene­ti­sche, phy­sio­gno­mi­sche Zuschrei­bun­gen Ein­zug in den All­tag der Men­schen gehal­ten haben«.

Das ist kein »Mel­ting Pot«, wie Sta­nišić den Viel­völ­ker­staat Jugo­sla­wi­en sei­ner Kind­heits­ta­ge nann­te, der die Men­schen befreit hat »von den Zwän­gen unter­schied­li­cher Her­kunft und Reli­gi­on«. Hier sehen für die Besu­che­rin die Sicher­heits­kräf­te aus, »als wären es Zwil­lin­ge der Geheim­po­li­zi­sten wäh­rend der Dik­ta­tur in Chi­le«. Hier wer­den die Kof­fer pein­lich genau durch­sucht, hier gibt es schi­ka­nö­se Ver­hö­re an der Gren­ze und all den unzäh­li­gen Kon­troll­punk­ten. Was Merua­ne sieht, sind »Sied­lun­gen und ihre Über­wa­chungs­ka­me­ras. Sol­da­ten mit ihren Stie­feln, ihren grü­nen Uni­for­men, ihren Geweh­ren. Sta­chel­draht und Ruinen«.

Und Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Check­points. Aberhundert.

An einer die­ser Kon­troll­stel­len spielt sich wäh­rend der zwei­ten Rei­se eine der sur­rea­len, kaf­ka­es­ken Sze­nen des Buches ab, die mehr sagt als tau­send Wor­te. Eine Akti­vi­stin aus Grie­chen­land (»mit trans­pa­ren­ter Haut«), ein Regis­seur aus Ägyp­ten (»jung, weiß«), zwei sene­ga­le­si­sche Rap­per (»der eine dunk­ler als der ande­re«), eine Spe­zia­li­stin für indi­sche Kunst und ihr indisch-kali­for­ni­scher Mann, ein deut­scher Phi­lo­soph (»mit wil­dem rotem Haar«), Merua­ne (die chi­le­nisch-palä­sti­nen­si­sche Schrift­stel­le­rin) sowie die palä­sti­nen­si­sche Kura­to­rin, die alle ein­ge­la­den hat­te, eine palä­sti­nen­si­sche Histo­ri­ke­rin, eine femi­ni­sti­sche Anthro­po­lo­gin aus Palä­sti­na, ein palä­sti­nen­si­scher Foto­graf und ein Jour­na­list, »der gera­de aus einem israe­li­schen Gefäng­nis ent­las­sen wor­den war«: Alle nähern sich in einem Klein­bus mit ein­hei­mi­schem Fah­rer einem Checkpoint.

Die Auto­tür wird geöff­net, ein »blut­jun­ger Sol­dat« steigt ein, »schlägt mit sei­nen klo­bi­gen Stie­feln gegen die Stu­fe, protzt mit sei­nem Gewehr und ruft etwas auf Hebrä­isch. Nie­mand ver­steht. Nie­mand antwortet.«

Als der Fah­rer dem Sol­da­ten mit­teilt, alle sei­en Aus­län­der, brüllt die­ser: »Whe­re are you from?« Nun haben alle einen ande­ren Pass und die Palä­sti­nen­ser über­haupt kei­nen. Die Grup­pe ver­sinkt in den Pol­stern. Der Sol­dat wen­det sich an den ganz vor­ne in der ersten Rei­he sit­zen­den deut­schen Phi­lo­so­phen, und die­ser ant­wor­tet: »Ger­ma­ny«. Und als der Sol­dat nicht ver­steht, wie­der­holt er: »Gerrrrr­ma­ny.« Der Sol­dat lässt sich den Pass geben und fragt, ob alle »Ger­mans« sind, und empor steigt aus dem Bus die Ant­wort: »We are all Germans.«

Die Fahrt darf weitergehen.

Lina Merua­ne: »Heim­kehr ins Unbe­kann­te – Unter­wegs nach Palä­sti­na«, aus dem Spa­ni­schen von Susan­ne Lan­ge, 208 Sei­ten, Beren­berg Ver­lag, 24 €