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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Warum es 1961 keinen Aufstand gab

Geht es um die Auf­ar­bei­tung der DDR-Geschich­te, ste­hen zumeist die­sel­ben Akteu­re im Fokus: die Macht­ha­ber und die Muti­gen, die ihnen wider­stan­den. Die­se Schwarz-Weiß-Male­rei funk­tio­niert, weil sie ein­fa­che Erklä­run­gen lie­fert. Rück­blickend wer­den auf der Büh­ne der Geschich­te die einen ver­ur­teilt und die ande­ren gewür­digt. Bei­de Grup­pen ver­bin­det, dass sie Min­der­hei­ten sind. Die ande­ren sit­zen (noch immer) im Zuschau­er­raum. Es gibt zwar Applaus und Buh­ru­fe, aber anson­sten schau­en sie nur zu – und schwei­gen. Es ist die Mehr­heit, über die zwar gespro­chen wird, über die man jedoch wenig weiß. Wahl­wei­se sind es die Unter­drück­ten, die Ange­pass­ten, die Mit­läu­fer oder die System­stüt­zen. In jedem Fall: die Passiven.

Pas­siv ver­hielt sich die Mehr­heit der DDR-Bür­ger im August 1961. Und den­noch wird in der Geschichts­schrei­bung behaup­tet, der Bau der Ber­li­ner Mau­er sei in der Bevöl­ke­rung mehr­heit­lich auf Ableh­nung gesto­ßen, die weni­gen über­zeug­ten Funk­tio­nä­re aus­ge­nom­men. Eine ande­re Hal­tung scheint offen­bar nicht vor­stell­bar. Oder sie passt nicht in das bis­he­ri­ge Geschichts­bild. Schließ­lich hat­ten sich dem SED-Staat bis zum 13. August 1961 schon knapp drei Mil­lio­nen Men­schen durch Flucht in den Westen ent­zo­gen. Die ein­sei­ti­ge Sper­rung der Sek­to­ren­gren­ze in Ber­lin war ein Gewalt­akt der SED-Füh­rung, um den Flücht­lings­strom zu stop­pen und ihre Herr­schaft zu sichern. Dafür nahm sie in Kauf, das eige­ne Volk ein­zu­sper­ren und die deut­sche Tei­lung zu zemen­tie­ren. War­um aber lie­ßen 17 Mil­lio­nen DDR-Bür­ger das fast drei Jahr­zehn­te zu? War­um nutz­te nur eine Min­der­heit Mög­lich­kei­ten des Wider­spre­chens und Wider­ste­hens? Oder waren vie­le DDR-Bür­ger womög­lich gar nicht so pas­siv, son­dern ent­schie­den sich bewusst dafür, nicht zu protestieren?

Die Annah­me, eine Mehr­heit sei gegen den Bau der Mau­er gewe­sen, wird begrün­det mit öffent­li­chen Unmuts­be­kun­dun­gen, ver­ein­zel­ten Pro­te­sten und zahl­rei­chen geschei­ter­ten und geglück­ten Flucht­ver­su­chen nach der Grenz­schlie­ßung. Obwohl die For­schung davor warnt, die MFS- und SED-Auf­zeich­nun­gen als »Wahr­heit« hin­zu­neh­men, fil­tert sie gleich­wohl aus den Akten alle Anzei­chen, die auf einen Pro­test hin­deu­ten könn­ten: »Ansamm­lun­gen« an der Sek­to­ren­gren­ze gel­ten als unor­ga­ni­sier­te Demon­stra­tio­nen gegen den Mau­er­bau, ein ein­zel­ner Hand­zet­tel mit einem Pro­test­auf­ruf könn­te auf ein grö­ße­res Wider­stands­po­ten­ti­al hin­deu­ten. Als Zeu­ge für die mehr­heit­li­che Ableh­nung der »Maß­nah­men« dient auch der DDR-Grenz­po­li­zist Con­rad Schu­mann, der durch sei­nen Sprung über den Sta­chel­draht zur Iko­ne der Mau­er-Fotos gewor­den ist. Er berich­te­te, am 15. August, dem Tag sei­ner Flucht nach West-Ber­lin, sei es am Ost-Ber­li­ner Arko­na­platz zu einer Demon­stra­ti­on von 1.000 bis 2.000 Men­schen gekom­men. Bele­gen lässt sich eine sol­che Groß­de­mon­stra­ti­on nicht. Unterm Strich kom­men alle Publi­ka­tio­nen zu dem Schluss, dass Mas­sen­pro­te­ste aus­ge­blie­ben sind.

Die Quel­len bele­gen viel­mehr, dass die Pro­te­ste der DDR-Bür­ger gegen die Grenz­schlie­ßung am 13. August ledig­lich spon­ta­ne Ver­samm­lun­gen waren, auf denen ver­ein­zelt offen Unmut arti­ku­liert wur­de. Grö­ße­re Ansamm­lun­gen, wie an den Grenz­über­gän­gen Brun­nen­stra­ße in Mit­te und Wollank­stra­ße in Pan­kow, von bis zu 500 Men­schen wur­den umge­hend von den DDR-Sicher­heits­kräf­ten aus­ein­an­der­ge­trie­ben. An den Über­gän­gen und vor S-Bahn­hö­fen fan­den sich nicht nur Bür­ger ein, die sich empör­ten. Unter den »Pro­te­stie­ren­den« waren Ost-Ber­li­ner, die beab­sich­tig­ten, an die­sem Tag nach West-Ber­lin zu fah­ren, Schau­lu­sti­ge sowie Befür­wor­ter, wie Mit­glie­der der SED-Agi­ta­ti­ons­grup­pen, die sich unter die Ver­sam­mel­ten gemischt hat­ten. Grö­ße­re und vor allem orga­ni­sier­te Pro­te­ste blie­ben im Unter­schied zu West-Ber­lin auch in den fol­gen­den Tagen aus. Auch zu Beginn der neu­en Arbeits­wo­che kam es weder an den Über­gän­gen zu West-Ber­lin zu den befürch­te­ten Aus­ein­an­der­set­zun­gen mit den Grenz­gän­gern noch in den Betrie­ben zu Streiks. Und die weni­gen Arbeits­nie­der­le­gun­gen rich­te­ten sich nicht alle gegen die Grenz­schlie­ßung. In jedem Fall erreich­ten sie kei­ne Breitenwirkung.

Die Reak­tio­nen lie­ßen sich wei­ter dif­fe­ren­zie­ren: Wäh­rend bei­spiels­wei­se der hef­tig­ste Wider­spruch – zunächst nicht vor­ran­gig poli­tisch moti­viert – gegen die Grenz­sper­rung von der DDR-Jugend aus­ging, waren die Künst­ler des Lan­des die Grup­pe, wel­che die stärk­ste Loya­li­tät gegen­über der Regie­rung zeig­te. Der Tenor war eine fast ein­hel­li­ge, teils sogar »lei­den­schaft­li­che« Zustim­mung zur Grenz­sper­rung. Eine Rei­he von DDR-Künst­lern ließ sich dar­über hin­aus von der SED in den »Ope­ra­tiv­plan zur kul­tu­rel­len Betreu­ung« der Ein­satz­kräf­te an der Gren­ze ein­bin­den. Zwar gab es Autoren, die sich pri­vat oder in »halb öffent­li­chen« Dis­kus­sio­nen kri­tisch zum Mau­er­bau äußer­ten, aber kein Künst­ler der DDR brach­te dies im insti­tu­tio­nel­len Rah­men zur Spra­che oder initi­ier­te, wie bei der Bier­mann-Aus­bür­ge­rung 1976, eine Protestresolution.

Die Grün­de für die aus­ge­blie­be­ne Revol­te schei­nen klar: Im Unter­schied zum 17. Juni 1953 hät­te sich die SED-Füh­rung in der Offen­si­ve befun­den und die DDR-Bür­ger mit ihrer strikt geheim gehal­te­nen Akti­on und dem ein­schüch­tern­den Mili­tär­auf­ge­bot an der abge­rie­gel­ten Sek­to­ren­gren­ze über­rum­pelt. Ver­wie­sen wird dar­über hin­aus auf die staat­li­chen Repres­sio­nen und die Prä­senz sowje­ti­scher Trup­pen. Ein Volks­auf­stand wäre wie am 17. Juni nie­der­ge­schla­gen wor­den. Und weil dies den DDR-Bür­gern damals bewusst gewe­sen sei, unter­drück­ten sie ihre Wut und resi­gnier­ten. Doch die­se Begrün­dung greift zu kurz.

Ein ande­rer Erklä­rungs­an­satz dürf­te für beson­ders viel Dis­kus­si­on sor­gen. Er geht im Kern davon aus, dass vie­le DDR-Bür­ger kei­nen Anlass sahen, gegen die Errich­tung der Ber­li­ner Mau­er zu pro­te­stie­ren, son­dern sie sogar gut­hie­ßen. Die­se Erkennt­nis ist nicht neu. Neu aber ist, dass der Radi­us hin­sicht­lich der Anzahl der Befür­wor­ter sowie deren Moti­ve erwei­tert wer­den muss. Vie­le Ost­deut­sche fan­den die Mau­er damals rich­tig, weil not­wen­dig: Die Sek­to­ren­gren­ze wur­de ja nicht vor­ran­gig geschlos­sen, weil der Frie­den gesi­chert wer­den muss­te, wie es die SED ver­kün­de­te, son­dern um die Abwan­de­rung von Fach­kräf­ten zu ver­hin­dern und die DDR wirt­schaft­lich zu stabilisieren.

Es ist bemer­kens­wert, dass sowohl die Befür­wor­ter als auch die Geg­ner häu­fig gleich­lau­tend von der Gefahr eines Aus­blu­tens spre­chen, wenn die Flücht­lings­wel­le nicht gestoppt wor­den wäre. Ins­be­son­de­re bei den Intel­lek­tu­el­len war das Ban­nen die­ser Gefahr mit der Hoff­nung ver­bun­den, man wür­de im Schat­ten der Mau­er – nun end­lich unge­stört – das sozia­li­sti­sche Expe­ri­ment erfolg­reich mit­ge­stal­ten kön­nen, die SED-Füh­rung wür­de eine Libe­ra­li­sie­rung zulas­sen und mit Kri­ti­kern in einen Dia­log treten.

Vie­le DDR-Bür­ger hoff­ten, einen Burg­frie­den mit der SED-Füh­rung ein­zu­ge­hen: Akzep­tanz der Mau­er und im Gegen­zug eine Libe­ra­li­sie­rung der DDR. Eine äußerst trü­ge­ri­sche Hoff­nung. Nur den wenig­sten war wohl bewusst, dass sie mit der wider­stands­lo­sen Hin­nah­me der Grenz­schlie­ßung am 13. August 1961 die Mau­er mit­ge­baut und damit auch die deut­sche Tei­lung gebil­ligt hat­ten. Wäh­rend der Mau­er­bau und sei­ne Fol­gen im kol­lek­ti­ven Gedächt­nis der West­deut­schen immer fest ver­an­kert blie­ben, setz­te bei vie­len Ost­deut­schen ein Ver­drän­gungs­pro­zess ein, der erst im Novem­ber 1989 endete.

Aller­dings spiel­te die Mau­er bei den Pro­te­sten im Herbst 1989 kaum eine Rol­le: Sowohl in den Papie­ren und Pro­gram­men der Oppo­si­ti­ons­be­we­gung in den 1980er-Jah­ren als auch auf der Ost-Ber­li­ner Groß­de­mon­stra­ti­on am 4. Novem­ber 1989 wur­de die For­de­rung nach Besei­ti­gung der Mau­er nicht erho­ben. Es ging um Refor­men in der DDR, nicht um die Über­win­dung der deut­schen Teilung.

Es wird zu unter­su­chen sein, war­um ande­re Ereig­nis­se in der kur­zen Geschich­te der DDR mehr Bür­ger in Unru­he ver­setz­ten als der Bau der Ber­li­ner Mau­er 1961. Dabei reicht es nicht aus, die Geschich­te der Mau­er auf Schieß­be­fehl und Mau­er­to­te zu redu­zie­ren. Es wird Zeit mit der Auf­ar­bei­tung der DDR-Auf­ar­bei­tung zu beginnen.

Vom Autor erscheint gera­de das Buch: »Die Mau­er war doch rich­tig!« – War­um so vie­le DDR-Bür­ger den Mau­er­bau wider­stands­los hin­nah­men, be.bra ver­lag, Juli 2021, 208 S., 20 .