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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Besuch am Chemin des Dames

Es begann mit dem Erbe mei­nes älte­ren Bru­ders Wil­fried, der 2008 ver­stor­ben ist. Er hat­te mir schon län­ge­re Zeit vor sei­nem Tod Ergeb­nis­se sei­ner Recher­chen zum Mili­tär­dienst unse­res Groß­va­ters von 1914 bis 1916 in Frank­reich geschickt: Etwa 200 digi­ta­li­sier­te Fotos und Post­kar­ten von der Front. Spä­ter erfuhr ich, dass das Foto­gra­fie­ren auf deut­scher Sei­te genau­so ver­bo­ten war wie auf fran­zö­si­scher, aber die deut­schen Sol­da­ten hiel­ten sich nicht dar­an (im Gegen­satz zu den fran­zö­si­schen), und die Vor­ge­setz­ten haben es gedul­det. Heu­te sind die Fran­zo­sen sehr dank­bar für die Fotos, die die Deut­schen damals gemacht haben.

Der Che­min des Dames ist eine Gelän­de­kan­te von etwa 40 km Län­ge im Drei­eck Reims, Laon und Sois­sons. Er hat sei­nen Namen von Prin­zes­sin­nen aus der Zeit Lud­wigs XV., die dort­hin eine Lust­rei­se unter­nah­men. Und in der Tat ist die Aus­sicht immer wie­der berau­schend schön. Im 1. Welt­krieg besetz­ten die Deut­schen den obe­ren (nörd­li­chen) Teil die­ser Kan­te und konn­ten ihn lan­ge hal­ten. Die Fran­zo­sen waren in der mili­tä­risch ungün­sti­ge­ren Lage. Es gibt dort eine Höh­le, »Dra­chen­höh­le« genannt. Sie ent­stand im Mit­tel­al­ter, als man dort die Stei­ne für die Kathe­dra­le von Sois­sons brach. Im Krieg war sie zunächst umkämpft, wur­de dann aber zu einem Ort, an dem sich die Sol­da­ten erho­len konnten.

Mein Groß­va­ter Fried­rich Wil­helm Büntzli (1881-1957) war, als er zum Krieg ein­ge­zo­gen wur­de, bereits ver­hei­ra­tet und hat­te zwei Kin­der (mit y muss­te sich erst mein Vater nach sei­ner Hoch­zeit schrei­ben, weil der Stan­des­be­am­te sei­nen Namen so fest­ge­hal­ten hat­te). Die Tat­sa­che, dass er zu Beginn des Krie­ges schon über 30 Jah­re alt war, bewahr­te ihn offen­bar vor dem Schlimm­sten: Er kam in eine Reser­ve­ein­heit, die am Che­min des Dames offen­bar nicht all­zu viel zu tun hat­te. Er konn­te sogar sei­nen Beruf als Uhr­ma­cher aus­üben und sich in einem Haus in dem klei­nen Dorf Cor­bé­ny sei­ne eige­ne Werk­statt ein­rich­ten. Noch vor den gro­ßen Schlach­ten von 1917, die dem Che­min des Dames erst zu trau­ri­ger Berühmt­heit ver­hol­fen haben, wur­de er aus der Gegend weg­be­or­dert und kam daher mit dem Leben davon.

Viel spä­ter lern­te ich ein Lied von Bert Brecht ken­nen. Es han­delt von einer Demon­stra­ti­on, die noch wäh­rend des Krie­ges in Pots­dam statt­ge­fun­den hat­te, mit einem Sarg, der durch die Stra­ßen getra­gen wur­de und die Auf­schrift trug »Jedem Krie­ger sein Heim«. Das war eine Anspie­lung auf ein Ver­spre­chen des Kai­sers, der allen Sol­da­ten zuge­si­chert hat­te, nach ihrer Rück­kehr aus dem Krieg wür­den sie alle vom Staat die Mög­lich­keit erhal­ten, ihr eige­nes Heim zu besit­zen. In sar­ka­sti­scher Wei­se wie­sen die Demon­strie­ren­den dar­auf hin, dass der Krieg nur noch den Sarg als »Heim« zuließ. »Das war zum Ange­den­ken an man­chen toten Mann«, reim­te Brecht, »gebo­ren in der Hei­mat, gefal­len am Che­min des Dames«. Was aber ist der Che­min des Dames, frag­ten wir uns, als wir die­ses Lied san­gen. Wir erfuh­ren zunächst nichts als: Eine Front­li­nie im 1. Welt­krieg. Wo genau die­se Front­li­nie ver­lief, das erfuhr ich erst, als ich mich näher mit den Fotos und Post­kar­ten mei­nes Groß­va­ters beschäftigte.

Die­se Doku­men­te sind nichts Rares, im Inter­net wer­den sol­che Kar­ten zu Tau­sen­den gehan­delt. Die Post­kar­te ist übri­gens gar nicht lan­ge vor dem 1. Welt­krieg erfun­den wor­den, im Zuge der Mas­sen­her­stel­lung von Foto­gra­fien. Vor eini­gen Jah­ren sah ich in Hamm eine Aus­stel­lung mit sol­chen frü­hen Post­kar­ten, oft­mals Kari­ka­tu­ren. Sie zeig­ten moti­visch meh­re­re Pha­sen auf: Zu Beginn lagen alle Zeich­nun­gen ganz auf der Linie der Kriegs­be­gei­ste­rung und Pro­pa­gan­da. Im Ver­lau­fe des Krie­ges erschie­nen rea­li­sti­sche­re Dar­stel­lun­gen des Kriegs­all­tags in den Schüt­zen­grä­ben; und gegen Ende gibt es offe­ne Auf­leh­nung gegen ein Wei­ter­füh­ren des Schlach­tens. Unter den Kar­ten mei­nes Groß­va­ters haben mich beson­ders jene zum Weih­nachts­fest und Jah­res­wech­sel ange­spro­chen. Sie äußern in erstaun­li­cher, oft humor­vol­ler Wei­se (Gal­gen­hu­mor!) immer wie­der den Wunsch nach Frieden.

Sehr inter­es­sant, aber zum Teil zynisch fand ich Fotos mit Sol­da­ten vor Trüm­mern, erläu­tert durch den Hin­weis, die Zer­stö­run­gen sei­en von fran­zö­si­schen Geschüt­zen ver­ur­sacht (also nicht etwa von deut­schen). Natür­lich, was soll­ten die Fran­zo­sen machen, nach­dem die Deut­schen die Höhe erobert hat­ten? Ihnen blieb nichts ande­res übrig, als von unten her anzu­grei­fen und ihre eige­nen, inzwi­schen eva­ku­ier­ten und von den Deut­schen besetz­ten Dör­fer ins Visier zu neh­men. Sol­che Kar­ten hat mein Groß­va­ter nicht ver­schickt, son­dern offen­bar ver­wahrt und sei­ner Frau erst nach sei­ner Heim­kehr gezeigt. Denn die Rück­sei­ten die­ser Kar­ten sind nicht beschriftet.

Auf­fäl­lig waren die vie­len pri­va­ten Fotos, die offen­bar von einem oder meh­re­ren Kame­ra­den mei­nes Groß­va­ters auf­ge­nom­men wur­den. Sie zei­gen all­täg­li­che Situa­tio­nen, Grup­pen von Sol­da­ten, auch Befe­sti­gungs­wer­ke, Schüt­zen­grä­ben. Mein Groß­va­ter ist wie­der­holt abge­lich­tet, unter ande­rem vor einem Haus in Cor­bé­ny mit einem Schild im Fen­ster: »Uhren Büntzli«.

Bei den Post­kar­ten waren natür­lich die dar­auf ver­merk­ten Bot­schaf­ten ent­schei­dend. Mei­ne Groß­mutter hat­te die beschrif­te­ten Kar­ten so in das Album ein­ge­klebt, dass sie umzu­klap­pen waren und man den Text lesen konn­te. Ich habe spä­ter eine Form ent­wickelt, die Tex­te in eine Dia­prä­sen­ta­ti­on ein­zu­bau­en. Man sieht zuerst die Vor­der­sei­te der Post­kar­te, das Foto, dann die Rück­sei­te und schließ­lich die­sel­be Rück­sei­te mit dem Text in Druckschrift.

Die Tex­te sind zum gro­ßen Teil recht kurz, so, wie man sich auf einer Kar­te eben aus­drücken kann, ent­hal­ten aber trotz­dem immer wie­der wert­vol­le Hin­wei­se über die dama­li­gen Lebens­um­stän­de. Mei­stens sind es Grü­ße an die Kin­der, Hin­wei­se auf Brie­fe, die ange­kom­men sind oder geschrie­ben wur­den, Dank für Lebens­mit­tel­pa­ke­te und die Ver­si­che­rung »Mir geht es gut«. Das war natür­lich das Wich­tig­ste, jede Kar­te war ein Lebenszeichen.

Ich war fas­zi­niert von den vie­len Orts­na­men, die auf den Post­kar­ten erwähnt wer­den: Cor­bé­ny, Aubi­gny, Bou­con­ville, Che­v­reux, St. Tho­mas etc., und ent­schloss mich, die­se Orte zu besu­chen. Das war nicht immer ein­fach. Das Dorf Craon­ne bei­spiels­wei­se hat­te schon zu Beginn des Krie­ges schwe­re Zer­stö­run­gen erlit­ten, war im Ver­lau­fe des Krie­ges voll­stän­dig ver­nich­tet wor­den und wur­de spä­ter nicht an der­sel­ben Stel­le wie­der neu auf­ge­baut. Das erfuh­ren wir im Okto­ber 2014 bei einem Besuch des Ortes. Noël Gen­teur, der dama­li­ge Bür­ger­mei­ster, war der sach­kun­dig­ste Frem­den­füh­rer, den wir fin­den konn­ten. So schreck­lich wie Craon­ne hat­te es wäh­rend des Krie­ges kaum eine ande­re Sied­lung getrof­fen. M. Gen­teur konn­te uns Geschich­ten dazu erzäh­len, etwa dass er noch immer jedes Jahr auf sei­nem Acker Gra­nat­hül­sen im Boden fin­det; wo einst­mals die Kir­che stand, und dass an die­ser Stel­le ein Gedenk­stein mit einer Inschrift zu sehen ist. Sie besagt in latei­ni­scher Spra­che: »Zum ewi­gen Gedächtnis«.

Dass die Kathe­dra­le von Reims von den Deut­schen beschos­sen und in Brand gesteckt wor­den war, wuss­te ich noch aus dem Schul­un­ter­richt. Dass aber auch die Kathe­dra­le von Sois­sons unter dem Krieg gelit­ten hat­te, und zwar noch mehr als die von Reims, das stell­ten wir erst bei einem Besuch dort fest.

Auf unse­rem Pro­gramm stand auch eine Fahrt nach Laon und natür­lich eine zum Muse­um der »Dra­chen­höh­le«. Ich beglei­te­te dort eine Füh­rung für eine Schul­klas­se. Beson­ders ver­stört hat mich die Infor­ma­ti­on, dass die feind­li­chen Armeen, die ver­schie­de­ne Tei­le der weit ver­zweig­ten Höh­le besetzt hat­ten, ihren Krieg sogar inner­halb der Höh­le mit Gift­gas wei­ter­führ­ten, bis die deut­sche Par­tei schließ­lich eine Mau­er bau­te, um feind­li­che Über­fäl­le zu unter­bin­den. Dass ein Ort wie die »Dra­chen­höh­le« dazu ver­führt, sich mit vie­len Ein­zel­hei­ten der Kriegs­füh­rung zu beschäf­ti­gen, weil man dort vie­le Über­bleib­sel – Gas­mas­ken, Geweh­re, Hel­me, etc. – gefun­den hat, war mir klar. Lei­der ver­miss­te ich bei der Fül­le der anson­sten enga­giert und kom­pe­tent vor­ge­tra­ge­nen Details ein Wort über Ursa­chen und Fol­gen des Krie­ges. Wenig­stens als Denk­an­stoß hät­te es den Schü­le­rin­nen mit auf den Weg gege­ben wer­den müssen.

Der Jour­na­list Eric Jon­neau, der uns bei unse­rem Besuch in zuvor­kom­men­der Wei­se Kon­tak­te ver­schafft hat­te, äußer­te uns gegen­über sein Bedau­ern, dass der 1. Welt­krieg als histo­ri­sches Ereig­nis in Deutsch­land weit weni­ger prä­sent sei als in Frank­reich; in einem Arti­kel für die Zei­tung L’Aisne Nou­vel­le schrieb er sogar von einer »igno­rance qua­si dédai­gneu­se« (fast ver­ächt­li­chen Igno­ranz) der deut­schen Geschichts­schrei­bung. Das rührt gewiss daher, dass sich die­ser Krieg dem kol­lek­ti­ven Gedächt­nis der Fran­zo­sen beson­ders inten­siv ein­ge­brannt hat: Er fand zum gro­ßen Teil auf fran­zö­si­schem Ter­ri­to­ri­um statt, er war beson­ders blu­tig, und die Fran­zo­sen haben ihn schließ­lich gewonnen.

Aber wie soll man Igno­ranz oder Gedächt­nis mes­sen? Eigent­lich geht das nur über die kol­lek­ti­ven Gedächt­nis­hand­lun­gen wie Fei­er­ta­ge oder Denk­mä­ler. In Deutsch­land fin­det man so gut wie in jedem Dorf Monu­men­te mit Namens­li­sten der Gefal­le­nen aus bei­den Krie­gen, gele­gent­lich auch noch wel­che mit Opfern der Krie­ge von 1870/​71 oder frü­her. In den Städ­ten sind die­se Gedenk­or­te eher an den Rand gedrängt wor­den, aber sie exi­stie­ren eben­falls noch. Des Wei­te­ren gibt es im Novem­ber gleich zwei Sonn­ta­ge, an denen der Kriegs­op­fer gedacht wird, aller­dings weiß ich nie, wel­cher davon der kirch­li­che und wel­cher der staat­li­che ist.

Auch das Mili­tär ist sehr bestrebt, die Tra­di­ti­on des Toten­ge­den­kens auf­recht­zu­er­hal­ten. Sol­che Ver­an­stal­tun­gen sto­ßen jedoch regel­mä­ßig auf den Pro­test von Per­so­nen, die dabei eine prin­zi­pi­el­le Hal­tung gegen den Krieg ver­mis­sen. Mich erin­nert das an eine Äuße­rung mei­ner Mut­ter, die, sehr katho­lisch und kei­nes­wegs rebel­lisch gegen Auto­ri­tä­ten, ange­sichts der jähr­li­chen Samm­lung für die Kriegs­grä­ber sich immer wei­ger­te, etwas zu geben. Ihr Argu­ment: »Sol­len sie kei­ne Krie­ge mehr machen, dann brau­chen sie auch kei­ne Kriegs­grä­ber zu pflegen.«