Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Botschaft aus Afghanistan

Zu Tode erschöpft, gezeich­net von Käl­te und Schnee­sturm, trifft im Janu­ar 1842 in der Pasch­tu­nen-Stadt Dschell­al­abad ein Rei­ter ein, der als Bote schlim­me Kun­de bringt. Was er dem bri­ti­schen Stadt­kom­man­dan­ten Sir Robert Sale zu sagen hat, gibt Theo­dor Fon­ta­ne Jah­re spä­ter in sei­nem 1859 ver­fass­ten Gedicht »Das Trau­er­spiel von Afgha­ni­stan« wie­der, wenn es heißt: »Zer­sprengt ist unser gan­zes Heer /​ Was lebt, irrt drau­ßen in der Nacht umher /​ Mir hat ein Gott die Ret­tung gegönnt /​ Seht zu, ob den Rest ihr ret­ten könnt.«

Dar­auf­hin wird ver­sucht, was mög­lich ist, um den Ver­irr­ten und Geschla­ge­nen einen Weg ins siche­re Gelass der Festung zu wei­sen. Man lässt Trom­pe­ten erschal­len, ent­zün­det Fackeln, gibt Zei­chen durch Gesang und Kano­nen­schlag, aber die wei­ten, wei­ßen, die Augen blen­den­den Schnee­fel­der blei­ben leer. Nie­mand taucht auf, dem man Zuflucht bie­ten, den man ret­ten könn­te. »Durch die Nacht hin klang es Lied um Lied /​ Erst eng­li­sche Lie­der mit fröh­li­chem Klang /​ dann Hoch­lands­lie­der wie Kla­ge­ge­sang.« Bald besteht Gewiss­heit, der emp­fan­ge­ne Rei­ter war ein Herold des Unter­gangs. Und der ist unaus­weich­lich. Fon­ta­nes Gedicht endet mit den Zei­len: »Die hören sol­len /​ die hören nicht mehr /​ Ver­nich­tet ist das gan­ze Heer /​ Mit drei­zehn­tau­send der Zug begann /​ Einer kam heim aus Afghanistan.«

Der Dich­ter erin­nert die Nie­der­la­ge der Bri­ten im ersten anglo-afgha­ni­schen Krieg zwi­schen 1839 und 1842, der für die Erobe­rer zum selbst­zer­stö­re­ri­schen Hor­ror wird und eine zeit­ge­mä­ße Vor­ge­schich­te vor­wei­sen kann. Nach 1835 kommt es zu Kon­tak­ten zwi­schen dem afgha­ni­schen Feu­dal­herr­scher Khan Dost Moham­mad und rus­si­schen Gesand­ten, was Groß­bri­tan­ni­en als Hin­weis auf eine Expan­si­on des Zaren­reichs in Mit­tel­asi­en deu­tet. Die Kolo­ni­al­ad­mi­ni­stra­ti­on des Empire in Indi­en fühlt sich pro­vo­ziert und in ihrer Absicht gestört, das Emi­rat Afgha­ni­stan in ein Pro­tek­to­rat zu ver­wan­deln, das für Bri­tisch-Indi­en zum Flan­ken­schutz gegen Russ­land taugt. Das »Gre­at Game« um Afgha­ni­stan, wie es im 19. Jahr­hun­dert stattfindet

Als sich Khan Dost nichts vor­schrei­ben lässt, wird ein­mar­schiert. Nach anfäng­li­chem Gelän­de­ge­winn gerät der Vor­stoß eines bri­ti­schen Expe­di­ti­ons­korps zum blu­ti­gen Desa­ster. Es ist dem Wider­stand der Pasch­tu­nen-Krie­ger nicht gewach­sen und muss den Rück­zug antre­ten, den Tau­sen­de von Sol­da­ten nicht über­le­ben. Doch wozu Nie­der­la­gen wie die­se als exem­pla­ri­sche War­nung ver­ste­hen? Schon 1878 holt die bri­ti­sche Kolo­ni­al­ar­mee zum näch­sten Schlag aus. Dies­mal kann sie tri­um­phie­ren und Afgha­ni­stan ein Drit­tel sei­nes Ter­ri­to­ri­ums rau­ben, abge­schnit­ten ent­lang der Durand-Linie, deren Ver­lauf auf den dama­li­gen Außen­mi­ni­ster Bri­tisch-Indi­ens, Sir Hen­ry Durand, zurück­geht. Bis heu­te bil­det die­se völ­ker­recht­lich frag­wür­di­ge Demar­ka­ti­on im Osten Afgha­ni­stans die Gren­ze zu Paki­stan und sorgt für einen zuver­läs­sig gären­den Kon­flikt. Schließ­lich sind einst rele­van­te Sied­lungs­räu­me afgha­ni­scher Pasch­tu­nen-Stäm­me ein­ge­büßt wor­den, ein Ver­lust von natio­na­ler Tragweite.

Wie man sieht, hat groß­mäch­ti­ger System­ex­port zum Hin­du­kusch weit vor unse­rer Zeit begon­nen. Lan­ge bevor die bür­ger­li­che Demo­kra­tie auf die Aus­fuhr­li­ste kommt, ste­hen Expan­si­on und Land­raub drauf. Wor­an sich nie etwas ändert – ob die Sowjet­uni­on Ende 1979 inter­ve­niert oder die Ver­ei­nig­ten Staa­ten mit einer Alli­anz aus 54 NATO- und Nicht-NATO-Staa­ten ab Okto­ber 2001 ein Besat­zungs­re­gime eta­blie­ren – wor­auf man sich immer ver­las­sen kann, das ist der Rück­griff auf Gewalt, der Afgha­ni­stan wie selbst­ver­ständ­lich unter­wor­fen wird. Die Erobe­rer reden sich auf das Gebot her­aus, zivi­li­sa­to­ri­schen Fort­schritt not­falls erzwin­gen zu müs­sen. Sie beschwö­ren die Men­schen­rech­te und ver­üben Ver­bre­chen gegen die Menschlichkeit.

Im Som­mer 2021 ist die­se Camou­fla­ge gründ­lich aus­ge­reizt. Auch die letz­ten 750 bri­ti­schen Sol­da­ten keh­ren »heim aus Afgha­ni­stan«. Ihre Abrei­se wird zum flucht­ar­ti­gen Aus­stieg, seit fest­steht, dass ame­ri­ka­ni­sche Luft­ho­heit nur noch für kur­ze Zeit schützt. Im Lon­do­ner Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­ri­um gilt die Devi­se: »Wenn sie [die USA] gehen, müs­sen wir alle gehen.«

Vor 20 Jah­ren hat es an glei­cher Stel­le gehei­ßen, wenn die Ame­ri­ka­ner da rein­ge­hen, dür­fen wir nicht abseits­ste­hen. Die Regie­rung des Prä­si­den­ten Geor­ge W. Bush will sich für die 9/11-Anschlä­ge rächen, indem sie nicht nur die Basen von Osa­ma bin Laden in den afgha­ni­schen Ber­gen bom­bar­die­ren lässt, son­dern mit dem Sturz der Tali­ban zugleich einen Regime-Chan­ge durch­setzt. Bush lädt die NATO ein, der US-Armee zu fol­gen und die Inva­si­on als Sieg im glo­ba­len Anti-Ter­ror-Kampf rein­zu­wa­schen. Die bri­ti­schen Streit­kräf­te dür­fen es aus­ko­sten, end­lich wie­der im impe­ria­len Modus unter­wegs zu sein. So wie 1839, als alles schon ein­mal begann.

Ame­ri­ka­ni­sche und bri­ti­sche Ver­bän­de bau­en Mili­tär­ba­sen auf, kol­la­bo­rie­ren mit War­lords wie dem Kriegs­ver­bre­cher, Mas­sen­mör­der und Usbe­ken-Gene­ral Ras­hid Dostum, der es unter dem Besat­zungs­re­gime bis zum Vize­prä­si­den­ten bringt. Sie set­zen miss­lie­bi­ge Gou­ver­neu­re ab und will­fäh­ri­ge ein. Weil häu­fig US-Kampf­jets geru­fen wer­den, wenn bewaff­ne­ter Wider­stand der Tali­ban oder ande­rer Auf­stän­di­scher gebro­chen wer­den soll, gibt es statt der ver­brann­ten Wäl­der in Süd­viet­nam ver­brann­te Häu­ser in Afgha­ni­stan. Was legi­ti­miert die­se Kriegs­füh­rung, bei der seit 2001 nach UN-Schät­zun­gen etwa 200.000 Afgha­nen, vor­ran­gig Zivi­li­sten, nicht lebend davon­kom­men? Das Ziel, den Ter­ror aus­zu­rot­ten, eine Demo­kra­tie auf­zu­bau­en, Nati­on-Buil­ding zu betrei­ben, die Frau­en zu befrei­en? Wovon so gut wie nichts erreicht wird.

Im Jahr 2005 wird das bri­ti­sche Ober­kom­man­do kühn und ver­we­gen. Etwa 3.500 Sol­da­ten wer­den in den Süden geschickt, um die Unru­he­pro­vinz Helm­and, eine Hoch­burg der Tali­ban, zu befrie­den. Gene­ral David Richards, sei­ner­zeit Kom­man­deur des Afgha­ni­stan-Korps, beseelt die Über­zeu­gung, man wer­de auf viel Sym­pa­thie in der Bevöl­ke­rung sto­ßen. Ver­mut­lich müs­se man so gut wie kei­nen Schuss abfeu­ern und kön­ne alles »mit Herz und Ver­stand« erle­di­gen. Pas­send zu die­ser Erwar­tung erhal­ten ein­zel­ne Mili­tär­ak­tio­nen Codes, die an Unter­neh­mun­gen aben­teu­er­lu­sti­ger Pfad­fin­der erin­nern. »Achil­les«, »Spitz­hacke«, »Adler­au­ge«, »Roter Dolch«, »Blau­es Schwert« sind eini­ge davon. Man will Spaß haben auf dem Kriegs­pfad, muss aber erfah­ren, dass die Tali­ban kei­nen Spaß ver­ste­hen. Die »Ope­ra­ti­on Helm­and« wird zum Alp­traum. Fon­ta­nes Kun­de, »ver­nich­tet ist das gan­ze Heer«, trifft zwar nicht zu, doch müs­sen 10.000 US-Mari­nes in Marsch gesetzt wer­den, um die Bri­ten raus­zu­hau­en. 454 Sol­da­ten kön­nen nur noch im »Body Bag«, dem Lei­chen­sack mit Reiß­ver­schluss, gebor­gen wer­den – wenn man sie denn fin­det. »Die hören sol­len /​ sie hören nicht mehr«.

Der Labour-Pre­mier Tony Blair, noto­risch kriegs­ver­ses­se­nen und begei­stert von US-Prä­si­dent Bush, muss im Unter­haus erklä­ren, wes­halb die Sicher­heit Groß­bri­tan­ni­ens in Helm­and ver­tei­digt wird und jun­ge Bri­ten dafür ster­ben müs­sen. Blair kann nicht zuge­ben, was er ver­mut­lich weiß: Sie wur­den in einem Krieg geop­fert, bei dem sich längst abge­zeich­net hat, dass er nicht zu gewin­nen ist. War­um hör­te man nicht auf Fon­ta­nes bri­ti­schen Rei­tersmann, der mit mat­ter Stim­me sprach: »Brin­ge Bot­schaft aus Afghanistan«?