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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Boykott

Vor eini­ger Zeit prä­sen­tier­te in Salz­burg, die­ser Fest­spiel­stadt, die selbst die Plei­te der Mozart­ku­gel­fa­brik erträgt, eine von der Poli­tik beauf­trag­te Historikerinnen/​Historikerkommission eine aus­führ­li­che Unter­su­chung mit dem Titel »Namen­ge­be­rIn­nen von Stra­ßen, Plät­zen, Brücken und Ste­gen in der Lan­des­haupt­stadt Salz­burg und ihr Ver­hal­ten in der NS-Zeit«. Das Ergeb­nis der mehr als 1000 Sei­ten star­ken Unter­su­chung (https://www.stadt-salzburg.at/ns-projekt/ns-strassennamen/): 201 Namens­ge­be­rin­nen und Namens­ge­ber haben in der NS-Zeit gelebt (37 davon sind zwi­schen 13.3.1938 und 8.5.1945 ver­stor­ben), 44 waren erwie­se­ner­ma­ßen Mit­glie­der der NSDAP; bei 36 von ihnen konn­ten auch Mit­glieds­num­mer und Bei­tritts­da­tum eru­iert wer­den, 6 wei­te­re Per­so­nen waren Par­tei­an­wär­ter, 16 Per­so­nen erwie­se­ner­ma­ßen kei­ne Par­tei­mit­glie­der, jedoch mit unter­schied­lich stark aus­ge­präg­ten Ver­strickun­gen in das NS System.

Die Kom­mis­si­on stell­te fest, bei vie­len Genann­ten bestehe »auf­grund der gra­vie­ren­den NS-Ver­strickung Dis­kus­si­ons- und Hand­lungs­be­darf«. Und es sei »zu klä­ren, ob mit einer Erläu­te­rungs­ta­fel, dem aus­führ­li­chen Ein­trag im digi­ta­len Stadt­plan (www.stadt-salzburg.at/strassennamen) und der bio­gra­fi­schen Dar­stel­lung auf der NS-Home­page (www.stadt-salzburg.at/ns-projekt)« der Auf­klä­rung genü­ge getan wird – oder »eine Umbe­nen­nung in Erwä­gung gezo­gen wer­den soll«. Dass es mehr NS-Stra­ßen­na­men als Stra­ßen mit Frau­en­na­men in Salz­burg gibt, sei nur am Ran­de erwähnt.

Hier ein Teil der Namens­li­ste: Volks­kund­ler und Obmann des Lan­des­trach­ten­ver­ban­des Kuno Bran­dau­er, Musik­schrift­stel­ler und Mit­be­grün­der der Salz­bur­ger Fest­spie­le Hein­rich Damisch, Diri­gent Her­bert von Kara­jan, Schrift­stel­ler und Maler Erich Land­gre­be, Kom­po­nist und Diri­gent Hans Pfitz­ner, Kon­struk­teur Fer­di­nand Por­sche, Volks­mu­si­kant und Kul­tur­funk­tio­när Tobi­as Rei­ser, Bil­den­der Künst­ler Gustav Resatz, Dom­or­ga­nist und Mozar­te­ums-Pro­fes­sor Franz Sau­er, Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor der Musik­wis­sen­schaft Erich Schenk, Uni­ver­si­täts­pro­fes­sor der Kunst­ge­schich­te Hans Sedl­mayr, Bil­den­der Künst­ler Josef Tho­rak und Schrift­stel­ler Karl Hein­rich Waggerl.

Ein hei­li­ger Schreck erfass­te die, die die­se Unter­su­chung beauf­tragt hat­ten. Denn wie soll Salz­burg über­le­ben ohne den Kara­jan­platz beim Fest­spiel­haus und gar den guten Ruf der Fami­lie Por­sche. Dazu noch der von Adolf Hit­ler so gelieb­te Bild­hau­er Josef Tho­rak, weg wäre der Stra­ßen­na­me samt Ehren­grab auf dem St. Peter Fried­hof und dazu noch eini­ge Kunst­wer­ke, die den Mira­bell­gar­ten ver­un­zie­ren. Bei den erwähn­ten Namen hat­te sich die hoch­ka­rä­tig besetz­te Kom­mis­si­on jedoch deut­lich geäu­ßert: Umbenennung!

Mal wie­der stand die Fest­spiel­stadt, in der die ein­zi­ge Bücher­ver­bren­nung der Ost­mark statt­fand (auch ihr Orga­ni­sa­tor konn­te nach 1945 wei­ter Schul­po­li­tik betrei­ben) vor einer Ent­schei­dung. Also beschloss der Gemein­de­rat mit Mehr­heit: Man wer­de bei all den bela­ste­ten NS-Stra­ßen­na­men »Taferl« anbrin­gen, auf denen über die NS-Ver­gan­gen­heit der auf den Stra­ßen­na­men Ver­ewig­ten auf­ge­klärt wer­den sol­le. Mit dabei auch die 13 Namen derer, die laut Kom­mis­si­on-Emp­feh­lung als Stra­ßen­na­men ent­fernt wer­den sollten.

Auf mei­ne Anfra­ge beim Frem­den­ver­kehrs­amt der Stadt, ob ich als Frem­den­füh­rer eine NS-Stra­ßen­na­men­füh­rung abhal­ten dür­fe, bekam ich kei­ne Ant­wort. Wer­den Frem­de ver­kehrt geführt, ist das ver­bo­te­ner Fremdenverkehr!

Schau­en wir auf den 1. Welt­krieg in der damals zu Ende gehen­den k.u.k.-Monarchie. Da gab es eine »Lite­ra­ri­sche Grup­pe«. Ihr Lei­ter war der Oberst­leut­nant Alo­is Velt­zé, Vor­stand der Schrif­ten­ab­tei­lung im Kriegs­ar­chiv. Für die Pro­pa­gan­da (»Jeder Russ ein Schuss; jeder Fran­zos ein Stoss«) wur­den geschick­te Lite­ra­ten enga­giert. Deren Liste ist lang: Franz Theo­dor Cso­kor, Albert Ehren­stein, Emil Klä­ger, Franz Mol­nar, Robert Musil, Alfred Pol­gar, Rai­ner Maria Ril­ke, Felix Sal­ten, Franz Wer­fel, Ste­fan Zweig, Egon Erwin Kisch und ande­re. Die Dich­ter arbei­te­ten fast aus­schließ­lich in der Wie­ner Stifts­ka­ser­ne und kamen nicht ein­mal in die Nähe einer Front. Quel­len ihrer lite­ra­ri­schen Tätig­keit waren stark gefil­ter­te Depe­schen des Armeeoberkommandos.

Von einer Unter­su­chung, ob die­se »das-Blutbad-des-1.-Weltkriegs-Verherrlicher« um vor­han­de­ne Stra­ßen­na­men zu brin­gen wären oder die betref­fen­den Stra­ßen ein »Taferl« erhal­ten sol­len, ist nichts bekannt. Hier eine Sze­ne aus den »Letz­ten Tagen der Mensch­heit« in der Karl Kraus das The­ma festhält:

Hugo v. Hof­manns­thal (blickt in eine Zei­tung): Ah, ein offe­ner Brief an mich? – Das is lieb vom Bahr, daß er in die­ser graus­li­chen Zeit nicht auf mich ver­ges­sen hat! (Er liest vor.) »Gruß an Hof­manns­thal. Ich weiß nur, daß Sie in Waf­fen sind, lie­ber Hugo, doch nie­mand kann mir sagen, wo. So will ich Ihnen durch die Zei­tung schrei­ben. Viel­leicht weht’s der lie­be Wind an Ihr Wacht­feu­er und grüßt Sie schön von mir« (Er bricht die Vor­le­sung ab.)

Ein Zyni­ker: No – lies nur wei­ter! Schön schreibt er der Bahr!

Hof­manns­thal (zer­knüllt die Zei­tung): Der Bahr is doch grauslich.

Der Zyni­ker: Was hast denn? (Nimmt die Zei­tung und liest bruch­stück­wei­se vor) »Jeder Deut­sche, daheim oder im Feld, trägt jetzt die Uni­form. Das ist das unge­heu­re Glück die­ses Augen­blicks. Mög es uns Gott erhal­ten! – Es ist der alte Weg, den schon das Nibe­lun­gen­lied ging, und Min­ne­sang und Mei­ster­sang, unse­re Mystik und unser deut­sches Barock, Klop­stock und Her­der, Goe­the und Schil­ler, Kant und Fich­te, Bach, Beet­ho­ven, Wag­ner. – Glück­auf, lie­ber Leutnant.«

Hof­manns­thal: Hör auf!

Der Zyni­ker (liest): »Ich weiß, Sie sind froh. Sie füh­len das Glück, dabei zu sein. Es gibt kein größeres.«

Hof­manns­thal: Du, wenn du jetzt nicht aufhörst –

Der Zyni­ker (liest): »Und das wol­len wir uns jetzt mer­ken für alle Zeit: es gilt, dabei zu sein. Und wol­len dafür sor­gen, daß wir hin­fort immer etwas haben sol­len, wobei man sein kann. Dann wären wir am Ziel des deut­schen Wegs, und Min­ne­sang und Mei­ster­sang, Herr Walt­her von der Vogel­wei­de und Hans Sachs, Eck­hart und Tau­ler, Mystik und Barock, Klop­stock und Her­der, Goe­the und Schil­ler, Kant und Fich­te, Beet­ho­ven und Wag­ner wären dann erfüllt.«

Wer dann vom Krieg noch nicht genug hat, der lese in der »Fackel« (Nr. 577-582, Sei­ten 96-98 aus 1922) den Text »Rekla­me­fahr­ten zur Hölle«.

Und wie sieht das heu­te, in dem nicht­mei­nen Deutsch­land aus, das mit 100 Mil­li­ar­den Euro jene Insti­tu­ti­on auf­rü­stet, die bei Tuchol­sky »Sol­da­ten sind Mör­der« benannt wird. Zur­zeit fin­den in die­sem nicht­mei­nem Land, und nicht nur da, selt­sam­ste Ver­hal­tens­wei­sen statt. Nach dem schon bekann­ten Mot­to »Jeder Russ ein Schuss« erlebt man jetzt die übli­chen »Kul­tur­auf­räu­me­rin­nen und Kul­tur­auf­räu­mer«, die sich anson­sten um die Best­sel­ler­kul­tur beküm­mern: Sie Rufen zum Boy­kott auf, bei dem sich(angebliche?) Lin­ke, Libe­ra­le und Kon­ser­va­ti­ve einig sind. Putins Krieg ist zu ver­ur­tei­len. Da fährt die Eisen­bahn drü­ber, und der Diri­gent Valery Ger­giev, frü­her vom Münch­ner Ober­bür­ger­mei­ster hoch­ge­lobt, kommt wie die Sopra­ni­stin Anna Netreb­ko, Putin­sym­pa­thi­san­tin, unter die Räder. Die auch in Salz­burg gut besuch­te Fest­spiel­jod­le­rin, pro Sitz­platz oft mit mehr als 400 Euro über­be­zahlt, meint, sie sei ein unpo­li­ti­scher Mensch. Da warn­te schon Rosa Luxem­burg: »Unpo­li­tisch sein, heißt poli­tisch sein, ohne es zu merken.«

Russ­lands Künst­le­rin­nen und Künst­ler haben mit hohen Stra­fen zu rech­nen, wenn Sie Putins Kriegs­ver­bre­chen kri­ti­sie­ren. Wer dies befür­wor­tet, der kriegt die Rote Kar­te. Pau­schal­boy­kott, wie er immer mehr, völ­lig unkri­tisch, in den Medi­en pro­pa­giert wird, hat zu unter­blei­ben, und ich fra­ge mich auch, wie­so behin­der­te Sport­le­rin­nen und Sport­ler von den Para­lym­pics aus­ge­schlos­sen wer­den. Haben sie Putins Krieg bejubelt?

Die »Jeder Russ ein Schuss-Men­ta­li­tät« greift um sich. Wann, fra­ge ich mich, wer­den die Bücher von Alex­an­der Iss­a­je­witsch Sol­sche­ni­zyn ver­brannt, von denen behaup­tet wird, dass Putin die­se Wer­ke schätzt? Und Dosto­jew­ski? Pao­lo Nori, Pro­fes­sor an der Uni in Mai­land, infor­miert, man habe ver­sucht, ihn zu über­zeu­gen, sein Dosto­jew­ski-Semi­nar abzu­sa­gen. Die­ser Ver­such schlug fehl! Noch?

Der PEN-Prä­si­dent Deniz Yüzel meint, aller­dings als Pri­vat­mei­nung: nicht Pusch­kin, Putin ist das Pro­blem. Die­ser Mei­nung schlie­ße ich mich an! Ganz ohne jene »Pseu­do­ta­ferl­lö­sung«.

Ob Karl Kraus das Pro­blem mit sei­nen Tex­ten nicht bes­ser bewäl­tigt hat?