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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Noch immer ein geteilter Himmel

Auf der Rät­sel­sei­te unse­rer Tages­zei­tung steht ein »Pyra­mi­den­rät­sel«, mit einem Käst­chen an der Spit­ze und sie­ben am Fuß der Pyra­mi­de. Die Wör­ter der nächst­grö­ße­ren Stu­fe müs­sen immer aus den Buch­sta­ben des vor­her­ge­gan­ge­nen Wor­tes unter Hin­zu­fü­gung eines neu­en Buch­sta­ben gebil­det wer­den, heißt es in der Anlei­tung. Pro­bie­ren wir es aus, zum Bei­spiel mit dem Wort Traum­land. Wenn wir die­sem an der pas­sen­den Stel­le den Buch­sta­ben A hin­zu­fü­gen, erhal­ten wir ein neu­es Wort: das Traumaland.

Deutsch­land. Erst ein Traum­land, ein Land, in dem sich nach jenem Okto­ber­tag des Jah­res 1990 lang geheg­te Träu­me zu erfül­len schie­nen, inzwi­schen aber ein Trau­ma­land – oder zumin­dest auf dem Weg dahin? 50 Autorin­nen und Autoren aus Ost- und West­deutsch­land, aus Frank­reich, Öster­reich, Aser­bai­dschan, Süd­ko­rea, den USA, der Ukrai­ne und dem Iran lie­ßen sich unter der kun­di­gen Füh­rung von Fran­zis­ka Rich­ter aus dem Refe­rat »Demo­kra­tie, Gesell­schaft & Inno­va­ti­on« der Fried­rich-Ebert-Stif­tung zum Nach­den­ken über Deutsch­land ani­mie­ren, bega­ben sich auf eine Gedan­ken-Rei­se, um zu erfor­schen und zu erkun­den, wie es 30 Jah­re nach dem Zusam­men­schluss um Iden­ti­tät und Zusam­men­halt in Ost und West steht. Her­aus kam eine auch ästhe­tisch anspre­chen­de Antho­lo­gie, hoch­wer­tig gedruckt, denn die Initia­to­ren woll­ten auch »die Kraft der Kunst [nut­zen], um bis­her Unge­sag­tes an die Ober­flä­che zu brin­gen und neue Zusam­men­hän­ge sicht­bar zu machen«.

Zu die­sem Zweck wird jeder Bei­trag mit einem Kunst­werk eröff­net. Die Autorin­nen und Autoren hat­ten bei der Aus­wahl freie Hand, und so wer­den Foto­gra­fien, Gemäl­de, Zeich­nun­gen, Col­la­gen, Abbil­dun­gen von Raum- und Video-Instal­la­tio­nen, Pla­ka­te, Buch­ti­tel, Post­wert­zei­chen, Skulp­tu­ren, eine Kari­ka­tur, eine Auf­nah­me von einer Thea­ter­auf­füh­rung, eine Bron­ze-Büste, eine Post­kar­te und ein Gra­fit­to zum Aus­gangs­punkt von Refle­xio­nen oder zu deren Illu­stra­ti­on. Bemer­kens­wert für ein Buch zu die­ser Thematik.

Da eröff­net zum Bei­spiel das Gemäl­de »Peter im Tier­park« des Malers Harald Haken­beck aus dem Jahr 1960, das in der DDR über­all in Kin­der­gär­ten und Schu­len hing, den Text über das gesell­schaft­li­che Enga­ge­ment der Ost­deut­schen im Spie­gel der Gene­ra­tio­nen. Da soll »Die Umer­zie­hung der Vögel« (1977) von Hans-Hen­drik Grimm­ling zu der Erkennt­nis hin­füh­ren, dass demo­kra­ti­sche Gesin­nung auch eine Fra­ge prak­ti­scher Erfah­rung ist. Wolf­gang Mattheu­er ist mit sei­ner Bron­ze­pla­stik »Der Jahr­hun­dert­schritt« (1984) ver­tre­ten, als Vor­satz des Essays über »Ver­gan­gen­hei­ten, die dro­hen, nicht zu vergehen«.

Als Titel­bild und zur Ver­sinn­bild­li­chung ihres Vor­wor­tes hat die Her­aus­ge­be­rin Fran­zis­ka Rich­ter die Foto­gra­fie »An der Muse­ums­in­sel« (1972) ihrer Tan­te aus­ge­wählt, der 1930 in Baut­zen gebo­re­nen Foto­gra­fin Eve­lyn Rich­ter. Das auf der Brücke der Fried­richs­stra­ße über die Spree ent­stan­de­ne Foto zeigt einen Mann und ein Kind am Ufer, zu einem Last­kahn in der Fluss­mit­te blickend, der in Rich­tung Havel fährt, die spä­ter in die Elbe mün­det und noch viel spä­ter im Nach­bar­staat Bun­des­re­pu­blik in das gro­ße fer­ne, damals uner­reich­ba­re Meer.

Das Spek­trum der über­wie­gend aus den neu­en Län­dern kom­men­den Autorin­nen und Autoren ist breit gestreut – ver­tre­ten sind Wis­sen­schaft und Poli­tik, Publi­zi­stik und Kunst. Zu den bun­des­weit bekann­te­ren gehö­ren Danie­la Kol­be, seit dem 22. Janu­ar stell­ver­tre­ten­de Vor­sit­zen­de des DGB-Bezirks Sach­sen; Mar­tin Dulig, Staats­mi­ni­ster für Wirt­schaft, Arbeit und Ver­kehr in Sach­sen und Ost­be­auf­trag­ter der Bun­des-SPD; The­re­sa Keil­hacker, seit 2021 Prä­si­den­tin der Archi­tek­ten­kam­mer Ber­lin; Karam­ba Dia­by, SPD-MdB, Direkt­kan­di­dat im Wahl­kreis Hal­le; Andre­as Rich­ter, frü­he­rer Direk­tor des Deut­schen Sym­pho­nie­or­che­sters und vor­ma­li­ger Inten­dant des Mahler Cham­ber Orche­stra; Tan­ja Dückers, Schrift­stel­le­rin und Publizistin.

Das Buch rubri­ziert die Bei­trä­ge in vier Kapi­tel. In Kapi­tel I – »Wo kom­men wir her und wo ste­hen wir?« – wer­den die deutsch-deut­schen Bezie­hun­gen vor 1989, die Wege zur Deut­schen Ein­heit und deren heu­ti­ger Stand sowie die bis­he­ri­gen Trans­for­ma­ti­ons­er­fah­run­gen reflek­tiert. – Kapi­tel II ist »Wohin möch­ten wir?« über­schrie­ben. Die sozio-öko­no­mi­sche und öko­lo­gi­sche Zei­ten­wen­de, die sozia­le Gerech­tig­keit und die Poten­zia­le Ost­deutsch­lands ste­hen hier im Mit­tel­punkt. – Kapi­tel III fragt »Wie wol­len wir mit­ein­an­der leben?« The­men sind die Aus­ein­an­der­set­zung mit den ver­schie­de­nen Iden­ti­tä­ten von Ost- und West­deut­schen, Fra­gen der Tole­ranz und Viel­falt in der Gesell­schaft, der Par­ti­zi­pa­ti­on in einer Demo­kra­tie, des Umgangs mit dem zuneh­men­den Rechts­extre­mis­mus, Popu­lis­mus und der Frem­den­feind­lich­keit. – Kapi­tel IV blickt in die Zukunft: »Was wol­len wir mit­neh­men?« An Geschich­te, Erin­ne­run­gen, Ver­bin­dun­gen zwi­schen Ost und West?

In die­sem Kapi­tel fin­det ein Text mei­ne beson­de­re Auf­merk­sam­keit: »Die Lee­re nach dem Sturm« von Mat­thi­as Platz­eck, dem ehe­ma­li­gen Mini­ster­prä­si­den­ten von Bran­den­burg, und von Tho­mas Kra­lin­ski, vor­mals Chef der Staats­kanz­lei in Bran­den­burg, kor­re­spon­diert er doch mit mei­nem Bei­trag über die Kraft sinn­stif­ten­der Erzäh­lun­gen in Ossietzky 5/​2022 (S. 162, »Von der Hand zum Mund«). Dort war zu lesen: »Wir erzäh­len ein­an­der und uns selbst, was die wahr­schein­lich­ste und was die wün­schens­wer­te Zukunft ist. Und wie aus der Letz­te­ren die Erste­re wird.«

Ganz in die­sem Sin­ne postu­lie­ren auch Platz­eck und Kra­lin­ski »die Not­wen­dig­keit, sich gegen­sei­tig Geschich­te und Geschich­ten zu erzäh­len«. Ich füge hin­zu: und dabei ein­an­der zuzu­hö­ren, zum Bei­spiel der Erzäh­lung von der »drei­fa­chen Lee­re« (Platz­eck und Kra­lin­ski), die vie­le Ost­deut­sche trotz aller unbe­streit­ba­ren Errun­gen­schaf­ten nach all den gemein­sa­men Jahr­zehn­ten immer noch fühlen.

Gemeint ist zum einen die gro­ße Lee­re in den »neu­en« Bun­des­län­dern. Über drei Mil­lio­nen sind seit 1989 in die alten Län­der abge­wan­dert. All die­se »Men­schen feh­len heu­te – und zwar nicht nur als akti­ve Mit­glie­der der Gesell­schaft, als Kom­mu­nal­po­li­ti­ke­rin, als frei­wil­li­ge Feu­er­wehr­leu­te, als Künst­le­rin, als Fach­kraft oder Unter­neh­mer. Sie feh­len vor allem in den Fami­li­en, bei der Eltern- und Groß­el­tern­ge­nera­ti­on, die sich Sor­gen um ihre Lebens­qua­li­tät im Alter machen«, schrei­ben die Autoren.

Zum ande­ren: Es fehlt den Ost­deut­schen »an Sicht­bar­keit. Ost­deut­sche sind in den Füh­rungs­eta­gen von Wirt­schaft und Wis­sen­schaft, von Justiz, Medi­en oder Armee sel­ten oder gar nicht ange­kom­men«. Sicht­ba­re Reprä­sen­ta­ti­on schaf­fe jedoch Ver­bun­den­heit und Ver­trau­en und wir­ke somit einer Demo­kra­tie- oder Medi­en-Skep­sis ent­ge­gen. Und eben­so dem Gefühl, Ost­deut­sche sei­en Bür­ge­rin­nen und Bür­ger zwei­ter Klasse.

Als drit­te Lee­re benen­nen Platz­eck und Kra­lin­ski die feh­len­de Ori­en­tie­rung. Die gro­ßen Zie­le der Fried­li­chen Revo­lu­ti­on vom Herbst 1989 sei­en ver­flo­gen. Der Auf­bau Ost habe sich immer mehr als ein in vie­len Tei­len see­len­lo­ses Kopie­ren des »alten Westens« ent­puppt, »fast ohne eige­ne Inno­va­tio­nen, ohne bekann­te Anker­punk­te und Hal­te­grif­fe in stür­mi­schen Zei­ten«. Daher gehe es bei den zukünf­ti­gen Trans­for­ma­tio­nen »nicht nur dar­um, die Köp­fe der Men­schen zu errei­chen, auch Herz und Bauch müs­sen mit­kom­men können«.

*

Das Schiff, das 1972 spree­ab­wärts fuhr und dem der Mann und das Kind hin­ter­her­schau­ten, trug einen sehn­suchts­vol­len Namen am Bug. Es hieß Traum­land. Schon damals leb­ten die Men­schen unter einem »geteil­ten Him­mel« (Chri­sta Wolf, 1963).

 Fran­zis­ka Rich­ter (Hg.) Traumaland. Her­aus­ge­ge­ben für die Fried­rich-Ebert-Stif­tung, Ver­lag J.H.W. Dietz Nachf., Bonn 2021, 324 S., 22 €. – Das Lan­des­bü­ro Nie­der­sach­sen der Fried­rich-Ebert-Stif­tung lädt für Don­ners­tag, 24. März, 19 bis 20.30 Uhr, zu einer Online-Ver­an­stal­tung mit aus­ge­wähl­ten Autorin­nen und Autoren und der Her­aus­ge­be­rin des Buches ein. Zugang über die Home­page des Lan­des­bü­ros oder des Verlags.