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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Brüsseler Spitzen

Gemein­hin ver­steht man unter Brüs­se­ler Spit­zen ein Tex­til­pro­dukt, das gern für Braut­klei­der ver­wen­det wird. Es gibt auch ein Gericht die­ses Namens mit Chi­co­rée als ent­schei­den­de Zutat. Dar­um geht es hier nicht und auch nicht in erster Linie um das Spit­zen­kan­di­da­ten­prin­zip, das sich zum Zank­ap­fel zwi­schen dem Euro­päi­schen Par­la­ment und dem Euro­päi­schen Rat ent­wickelt hat, seit die Staats- und Regie­rungs­chefs unter Miss­ach­tung des Wäh­ler­wil­lens mein­ten, Spit­zen­po­si­tio­nen nach Gut­dün­ken ver­ge­ben zu kön­nen. Gemeint sind die Spit­zen, die mit­un­ter auf Kon­fe­ren­zen aus­ge­teilt wer­den, ohne dass die Öffent­lich­keit sie auf Anhieb als sol­che wahrnimmt.

Im vor­lie­gen­den Fall hat der fran­zö­si­sche Staats­prä­si­dent Emma­nu­el Macron mit dem Aus­tei­len von Spit­zen begon­nen, als er dem Spit­zen­kan­di­da­ten der Euro­päi­schen Volks­par­tei bei der jüng­sten Euro­pa­wahl, Man­fred Weber, zu wenig Erfah­rung für das Amt des Prä­si­den­ten der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on unter­stell­te. Das sag­te der­sel­be Macron, der 2017 ohne Haus­macht in der Natio­nal­ver­samm­lung bei der fran­zö­si­schen Prä­si­dent­schafts­wahl antrat und die­se haus­hoch gewann. Was ihm wahr­schein­lich sehr viel mehr als die ver­meint­lich unzu­rei­chen­de Erfah­rung Webers miss­fiel, war die Vor­stel­lung, die Gran­de Nati­on könn­te gegen­über einem über­mäch­ti­gen Deutsch­land ins Hin­ter­tref­fen geraten.

Die­ses Bauch­ge­fühl teilt er augen­schein­lich mit jenen Bri­ten, die sich 2016 gegen den wei­te­ren Ver­bleib des Ver­ei­nig­ten König­reichs in der Euro­päi­schen Uni­on ent­schie­den. John le Car­ré, ehe­mals Mit­glied des bri­ti­schen Aus­lands­ge­heim­dien­stes und Ver­fas­ser des Welt­best­sel­lers »Der Spi­on, der aus der Käl­te kam« (deut­sche Über­set­zung: Sabi­ne Roth) hat die­ses Gefühl in sei­nen von Peter Tor­berg über­setz­ten Lebens­er­in­ne­run­gen »Der Tau­ben­tun­nel« so beschrie­ben: »Der Auf­stieg des moder­nen Deutsch­lands als selbst­si­che­re, nicht­ag­gres­si­ve demo­kra­ti­sche Macht … ist eine für vie­le von uns Bri­ten zu bit­te­re Pil­le, als dass man sie ein­fach schlucken könnte.«

Dass Macron bei dem chao­ti­schen Tref­fen der Staats- und Regie­rungs­chefs in Brüs­sel Anfang Juli als Erster Ursu­la von der Ley­en ins Gespräch brach­te, wider­spricht nur vor­der­grün­dig sei­ner ver­ständ­li­chen Abnei­gung gegen ein deut­sches Euro­pa. Er rech­ne­te damit, dass die Nomi­nie­rung der deut­schen Ver­tei­di­gungs­mi­ni­ste­rin auf Kri­tik sto­ßen und sich von selbst erle­di­gen wür­de, zumal sich das Euro­päi­sche Par­la­ment über­gan­gen und düpiert füh­len muss­te. Ohne des­sen Zustim­mung gelangt nie­mand an die Spit­ze der EU-Kommission.

Dass aus den Rei­hen der deut­schen Sozi­al­de­mo­kra­ten hef­tig gegen Ursu­la von der Ley­en gewet­tert wur­de, besagt wenig. Am Ende wird sich die SPD damit abfin­den, dass Ange­la Mer­kel ohne Regie­rungs­be­schluss Man­fred Weber fal­len ließ und Ursu­la von der Ley­en als Ersatz prä­sen­tier­te. Alles ande­re wür­de näm­lich auf ein Aus­ein­an­der­bre­chen der Gro­ßen Koali­ti­on und auf Neu­wah­len hin­aus­lau­fen, wovor bei­de Sei­ten sich fürch­ten. Des­halb wird die SPD auch nicht viel Auf­he­bens davon machen, dass die Regie­run­gen Polens, Tsche­chi­ens, der Slo­wa­kei und Ungarns zusam­men mit Ita­li­en die Nomi­nie­rung des sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Spit­zen­kan­di­da­ten bei der Euro­pa­wahl, Frans Tim­mermans, blockierten.

Voll­mun­dig hat­ten CDU/​CSU und SPD 2018 in ihrem Koali­ti­ons­ver­trag nach einem neu­en Auf­bruch für Euro­pa geru­fen: »Wir wol­len ein Euro­pa der Demo­kra­tie und Soli­da­ri­tät.« Ein Jahr dar­auf wird den Wäh­lern in Gestalt von Ursu­la von der Ley­en eine Kan­di­da­tin für das wich­tig­ste euro­päi­sche Spit­zen­amt zuge­mu­tet, die bei der Euro­pa­wahl nicht ein­mal kan­di­diert hat. Eine Bewer­be­rin zudem, die ihr Mini­ster­amt so eigen­wil­lig ver­wal­tet hat, dass sich ein Unter­su­chungs­aus­schuss des Bun­des­ta­ges mit der Fra­ge befasst, ob in dem Laden alles mit rech­ten Din­gen zuge­gan­gen ist. Jetzt soll sie dafür sor­gen, dass Euro­pa unter grund­le­gend ver­än­der­ten glo­ba­len Kräf­te­ver­hält­nis­sen sein Schick­sal »mehr als bis­her in die eige­nen Hän­de« nimmt, wie es im Koali­ti­ons­ver­trag heißt.

Fas­sungs­los ange­sichts des Scher­ben­hau­fens, den die euro­päi­schen Staats- und Regie­rungs­chefs ange­rich­tet haben, sprach die Süd­deut­sche Zei­tung am 4. Juli von einem »Angriff auf die Demo­kra­ti­sie­rung der EU« und rief die Abge­ord­ne­ten des Euro­pa­par­la­ments dazu auf, ihn zurück­zu­schla­gen. »Sie soll­ten Ursu­la von der Ley­en durch­fal­len las­sen.« Von der Regie­run­gen Gunst und Hass zer­ris­sen wer­de Euro­pa schei­tern. Des­halb müs­se das Par­la­ment jetzt den Auf­stand wagen.