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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der sogenannte Überfall

Der Beginn des »Unter­neh­mens Bar­ba­ros­sa« (ursprüng­lich »Fall Bar­ba­ros­sa«) am 22. Juni 1941 wird gemein­hin als »Über­fall auf die Sowjet­uni­on« bezeich­net. Was hier geschah, war aber weit mehr als das. Die Offen­si­ve soll­te kein »Beu­te­zug« wer­den, sie dien­te nicht in erster Linie der »Land­nah­me«. Sie war von vorn­her­ein durch Hit­ler, sei­ne Gene­ra­le und Wirt­schafts­füh­rer als mon­strö­ser Ver­nich­tungs­feld­zug geplant, der dann von »ganz nor­ma­len Män­nern« (Chri­sto­pher Brow­ning) exe­ku­tiert wur­de. Dar­an gilt es immer wie­der mah­nend zu erinnern.

Das ist unan­ge­nehm, zwei­fel­los. Jah­res­ta­ge rei­ßen zwangs­läu­fig die stets glei­chen Wun­den auf. »Man«, also die Öffent­lich­keit oder gar der Bun­des­tag, könnten/​sollten den­noch die­ses Jah­res­ta­ges geden­ken, als der ver­bre­che­ri­sche Krieg des Deut­schen Rei­ches gegen die Sowjet­uni­on sei­nen Anfang nahm. Bun­des­tags­prä­si­dent Schäub­le lehnt dies jedoch ab und meint, wir soll­ten »an der bis­he­ri­gen par­la­men­ta­ri­schen Übung einer unge­teil­ten Erin­ne­rung an den gesam­ten Ver­lauf des Zwei­ten Welt­krie­ges und des von ihm aus­ge­gan­ge­nen Leids fest­hal­ten« (zit. in neu­es deutsch­land, 6.4.2021). Dafür ste­hen die Jah­res­ta­ge von Kriegs­be­ginn und Kriegsende.

Das sehen nicht alle so. Fünf Wochen vor dem Jah­res­tag ver­an­lass­te die Par­tei Die Lin­ke mit einem Antrag »80 Jah­re deut­scher Über­fall auf die Sowjet­uni­on – Für eine Poli­tik der Ent­span­nung gegen­über Russ­land und eine neue Ära der Abrü­stung« eine Debat­te im Bun­des­tag. So muss­ten sich alle Par­tei­en der histo­ri­schen Ver­ant­wor­tung stel­len und waren gezwun­gen, über Erin­ne­rungs­po­li­tik zu reden. Die gute Nach­richt: Der Krieg gegen die Sowjet­uni­on wur­de von nie­man­dem gerecht­fer­tigt oder in sei­nen ver­bre­che­ri­schen Dimen­sio­nen geleug­net – von ganz rechts bis links in dem Hohen Haus. Die Spre­che­rin der CDU/​CSU, Eli­sa­beth Mot­sch­mann, bekann­te: »Angriffs­krie­ge sind damals wie heu­te unver­ant­wort­lich und grau­sam. Nie­mals darf auf dem Rücken von Sol­da­ten und der Zivil­ge­sell­schaft ein Angriffs­krieg zur Durch­set­zung von poli­ti­schen Zie­len geführt wer­den.« So weit, so gut. Nur schob sie – im Ein­klang mit ihren Kol­le­gin­nen und Kol­le­gen von SPD, FDP, Bünd­nis­grü­nen – nach, dass »die Lin­ken (…) in ihrem Antrag die Erin­ne­rung an den Über­fall vor 80 Jah­ren aller­dings mit unsäg­li­chen For­de­run­gen nach einer neu­en Russ­land­po­li­tik, die angeb­lich im Zei­chen von Ent­span­nung und Abrü­stung ste­hen soll«, ver­bin­den (Bun­des­tags-Druck­sa­che 19/​229). »Unsäg­lich«, denn für den Westen, wie­der par­tei­über­grei­fend, steht Putins Russ­land für »Kon­fron­ta­ti­on, Eska­la­ti­on und Auf­rü­stung«, also für all dass, was die Lin­ken von einer erneu­er­ten west­li­chen, deut­schen Russ­land­po­li­tik über­wun­den sehen wol­len. Das glei­che Spiel bei einer wei­te­ren Debat­te Anfang Juni (Bun­des­tags-Druck­sa­che 19/​932).

All die Jah­res­ta­ge um den Zwei­ten Welt­krieg, die faschi­sti­sche Aggres­si­ons­po­li­tik ins­be­son­de­re in Rich­tung Osten, der Über­fall zunächst auf Polen, knapp zwei Jah­re spä­ter auf die Sowjet­uni­on, der Ver­lauf die­ses Krie­ges, die Sie­ge und bald töd­li­chen Nie­der­la­gen der Wehr­macht und ihrer Ver­bün­de­ten, ein­schließ­lich der Mord­bren­ner in den schwar­zen Uni­for­men der SS oder den grü­nen von Poli­zei­ver­bän­den, die unver­meid­li­che Kapi­tu­la­ti­on (die nur schwer auch im west­li­chen Teil Deutsch­lands als Befrei­ung begrif­fen wur­de) – all die­se Gedenk-Anläs­se lau­fen immer wie­der auf die eine Fra­ge hin­aus: Wol­len wir aus die­sem mör­de­ri­schen Krieg ler­nen und ver­hin­dern, dass wie­der von deut­schen Boden oder mit deut­sche Hil­fe ein Krieg im Her­zen Euro­pas statt­fin­det? Und vor allem: Wie wol­len wir mit der ent­schei­den­den Macht umge­hen, die im Osten die­sen Krieg führ­te und im Osten und für den Westen, mit Alli­ier­ten, den Faschis­mus ver­nich­te­te und Deutsch­land die Chan­ce für einen Neu­an­fang bot – wenn auch mit unter­schied­li­chen Inten­tio­nen, Ent­wick­lungs­we­gen, Kon­flik­ten, die aber, wie es schien, 1990 so glimpf­lich endeten?

Geschich­te ist immer geron­ne­ne Poli­tik und Erin­ne­rungs­po­li­tik – im Wider­streit der poli­ti­schen Inter­es­sen –, ist also stets sehr aktu­el­le Poli­tik. Hier stört ein star­kes, sich sei­ner Kraft wie­der sicher wer­den­des Russ­land (wie auch Chi­na), ein Land, das sich sei­ner Opfer und sei­nes histo­ri­schen Sie­ges bewusst ist.

Gleich­wohl: 76 Jah­re nach dem Sieg der Roten Armee und ihrer Ver­bün­de­ten in der Anti­hit­ler-Koali­ti­on schei­nen die­ser Sieg und der Sie­ger ver­ges­sen. Die Macht, die damals unter rie­si­gen Opfern, 27 Mil­lio­nen Sowjet­bür­gern aller Natio­na­li­tä­ten und Eth­ni­en, den Sieg errun­gen hat, wird heu­te geschmäht und zuneh­mend iso­liert. Ein Sieg im Osten Euro­pas, mit welt­wei­ter Wir­kung, der Ost­eu­ro­pas Völ­kern Befrei­ung von faschi­sti­schem Ter­ror, von Mord und Aus­pres­sung gebracht hat, der ent­schei­dend für die Befrei­ung der Deut­schen war und der zur Eman­zi­pa­ti­on in den Kolo­nien bei­trug, wird infra­ge gestellt. Ein Sieg, der für fast fünf Jahr­zehn­te eine neue Welt­ord­nung begrün­de­te, deren Fol­gen bis jetzt wir­ken – im Posi­ti­ven wie im Negativen.

Die heu­ti­ge Geschichts­er­zäh­lung über den Zwei­ten Welt­krieg hat nach dem Zusam­men­bruch des Real­so­zia­lis­mus und dem Zer­fall der Sowjet­uni­on die geschicht­li­chen Fak­ten auf den Kopf gestellt. Die­ser Krieg, den Nazi­deutsch­land plan­mä­ßig vor­be­rei­tet und ent­fes­selt hat, wird zu Hit­lers Krieg. Die lang­fri­sti­ge Stra­te­gie des deut­schen Groß­ka­pi­tals und der nicht nur mili­tä­ri­schen Eli­ten bestand dar­in, die Welt­herr­schaft zu erobern und so Revan­che für die mili­tä­ri­sche Nie­der­la­ge von 1918 wie für den Erfolg der Arbei­ter­be­we­gung und den Auf­stieg eines Staa­tes, der ein Sech­stel der Erde ein­nahm – der Sowjet­uni­on – zu nehmen.

Es gehört zu den moder­nen Legen­den, dass es in die­sem Krieg um die Juden, die Ver­hin­de­rung des Holo­caust gegan­gen wäre. Hit­lers Begrün­dung, die jüdisch-bol­sche­wi­sti­sche-plu­to­kra­ti­sche Welt­ver­schwö­rung zu zer­schla­gen, ist eben­so Lüge wie die Unter­stel­lung, dass es den Alli­ier­ten in ihrem Krieg um die Ret­tung der Juden gegan­gen wäre. Ihr Sieg, die Befrei­ung von Ausch­witz, Maj­da­nek, Ber­gen-Bel­sen, Stutt­hof, Buchen­wald, hat Zehn­tau­sen­den das Leben geret­tet, auch Juden. Aber die Chan­ce, den Holo­caust zu ver­hin­dern oder zu begren­zen, haben sie damals nicht genutzt. Es ging in die­sem Zwei­ten Welt­krieg, und zual­ler­erst in der Kriegs­po­li­tik des Deut­schen Rei­ches, sei­ner Nazi-Füh­rung und sei­nes Groß­ka­pi­tals um das, was immer wie­der Krie­ge befeu­ert: neue Ter­ri­to­ri­en, Absatz­märk­te, Arbeits­kräf­te, Roh­stof­fe – um die in die­sem Fall als end­gül­tig und ver­nich­tend gemein­te Nie­der­wer­fung der Kon­kur­renz. Dass der sowje­ti­sche, der sozia­li­sti­sche Fak­tor dazu­kam, mach­te dies nur kom­pli­zier­ter, denn hier gab es am Vor­abend des Krie­ges durch­aus Inter­es­sen­über­ein­stim­mun­gen zwi­schen den west­li­chen Demo­kra­tien und den faschi­sti­schen Regi­men. Die Völ­ker Chi­nas, Spa­ni­ens, der Tsche­cho­slo­wa­kei, Polens muss­ten dafür als erste bluten.

Die­ser Zwei­te Welt­krieg und erst recht der »Über­fall« auf die Sowjet­uni­on sind ohne den ewi­gen Drang der feu­da­len und bür­ger­li­chen Eli­ten nach Osten nicht denk­bar. Inso­fern ist der Begriff »Über­fall« ein Euphe­mis­mus. Die­ser Krieg wur­de von lan­ger Hand von den deut­schen Eli­ten vor­be­rei­tet, kaum war die Tin­te von Ver­sailles 1919 trocken. Dar­um gewann die­ser Krieg am 22. Juni 1941 eine neue Qua­li­tät, die mit der Vor­ge­schich­te die­ses Über­falls seit Sep­tem­ber 1939 in Euro­pa nicht iden­tisch ist. Es ging um Roh­stof­fe, Getrei­de, viel­leicht Märk­te, um bil­li­ge Arbeits­kräf­te, idea­ler­wei­se Skla­ven der neu­en »Her­ren­men­schen«. Es war ein Erobe­rungs­krieg mit dem Ziel der tota­len Unter­wer­fung und Kolo­ni­sie­rung des Ostens. Die Men­schen dort, in der Sowjet­uni­on, aber auch in Polen oder der Tsche­cho­slo­wa­kei soll­ten Arbeits­skla­ven wer­den, auf nied­rig­stem Lebens- und Bil­dungs­ni­veau gehal­ten und im Zwei­fels­fall Hun­ger und Mord über­ant­wor­tet als »nutz­lo­se Esser« und poten­zi­el­le Fein­de. Wohl­ge­merkt, es ging nicht nur um Juden, Sin­ti und Roma, es ging um die Sla­wen. Es war ein Ver­nich­tungs­krieg mit dem Ziel der Unter­wer­fung und Aus­rot­tung. Lenin­grad und Mos­kau soll­ten aus­ge­hun­gert und dem Erd­bo­den gleich­ge­macht wer­den, über drei Mil­lio­nen sowje­ti­sche Kriegs­ge­fan­ge­ne lie­ßen Wehr­macht und SS ver­recken, ver­hun­gern, ermor­den. Das Per­fi­de der faschi­sti­schen Ideo­lo­gie, aller­dings auch ihrer Hell­sich­tig­keit, war die Ein­sicht, dass die Sowjet­bür­ger poten­zi­el­le Trä­ger der kom­mu­ni­sti­schen Ideo­lo­gie, einer sozi­al gerech­ten, aus­beu­tungs­frei­en Gesell­schaft waren. Anti­so­wje­tis­mus, Anti­kom­mu­nis­mus, ras­si­sti­sche Aus­mer­zungs- und Mord­po­li­tik gin­gen eine mör­de­ri­sche Sym­bio­se ein. Es war ein Welt­an­schau­ungs­krieg.

Dar­an zu erin­nern, erscheint heu­te so dring­lich wie eh und je. Denn die welt­po­li­ti­schen Kon­flikt­la­gen las­sen kei­ne gro­ße Hoff­nung kei­men, dass aus den Kata­stro­phen des ver­gan­ge­nen Jahr­hun­derts die rich­ti­gen Leh­ren gezo­gen wurden.