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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Friedenswerk

»Es gibt ein Bild von Paul Klee, das Ange­lus Novus heißt. Ein Engel ist dar­auf dar­ge­stellt, der aus­sieht, als wäre er im Begriff, sich von etwas zu ent­fer­nen, wor­auf er starrt. Sei­ne Augen sind auf­ge­ris­sen, sein Mund steht offen und sei­ne Flü­gel sind aus­ge­spannt. Der Engel der Geschich­te muss so aus­se­hen. Er hat das Gesicht der Ver­gan­gen­heit zuge­wen­det. Wo eine Ket­te von Bege­ben­hei­ten vor uns erscheint, da sieht er eine ein­zi­ge Kata­stro­phe, die unab­läs­sig Trüm­mer auf Trüm­mer häuft und sie ihm vor die Füße schleu­dert. Er möch­te wohl ver­wei­len, die Toten wecken und das Zer­schla­ge­ne zusam­men­fü­gen. Aber ein Sturm weht vom Para­die­se her, der sich in sei­nen Flü­geln ver­fan­gen hat und so stark ist, dass der Engel sie nicht mehr schlie­ßen kann. Die­ser Sturm treibt ihn unauf­halt­sam in die Zukunft, der er den Rücken kehrt, wäh­rend der Trüm­mer­hau­fen vor ihm zum Him­mel wächst. Das, was wir den Fort­schritt nen­nen, ist die­ser Sturm« (Wal­ter Ben­ja­min »Über den Begriff der Geschich­te«, 1940).

In einer Zeit neue­rer krie­ge­ri­scher Aus­ein­an­der­set­zun­gen, die seit Mona­ten unter for­cier­ten Gerech­tig­keits- und wenig ambi­tio­nier­ten Frie­dens­de­bat­ten sowie ver­wor­re­nen Wirt­schafts­nach­rich­ten, erra­ti­schen Absichts­er­klä­run­gen und debat­ten­lo­ser Umlei­tung von Volks­ver­mö­gen an die Rüstungs­in­du­strie in gro­ßem Stil geführt wer­den – hin­zu kom­men im Wochen­takt neu auf­flam­men­de Kon­flik­te mit sozia­lem und öko­lo­gi­schem Spreng­po­ten­ti­al, etwa in Tai­wan, gerü­stet wie ein Sta­chel­schwein, oder dem zer­stör­ten, auf abseh­ba­re Zeit sei­ner zivil­ge­sell­schaft­li­chen Ent­wick­lungs­mög­lich­kei­ten beraub­ten Nahen Osten – ent­stand in Ber­lin-Zehlen­dorf ein Frie­dens­werk. Eine Kin­der­ta­ges­stät­te wird gebaut und in den näch­sten Mona­ten eröff­net. Sie bie­tet auf drei Ebe­nen Raum für 75 Betreu­ungs­plät­ze und 20 neu geschaf­fe­ne Arbeits­plät­ze und ver­stärkt damit die sozia­le Infra­struk­tur in Zehlen­dorf. Initi­iert wur­de der Bau durch das Unter­neh­men »El mun­do de los niños« (Die Welt der Kin­der) unter Lei­tung der Geschäfts­füh­re­rin Ver­ó­ni­ca Schall­nau in enger Zusam­men­ar­beit mit dem Archi­tek­tur­bü­ro Immo­Bau GmbH des Diplom­in­ge­nieurs und Archi­tek­ten Béchir Chik­haoui, bei­de Immi­gran­ten der ersten Gene­ra­ti­on, die in Ber­lin erfolg­rei­che Unter­neh­men grün­de­ten. Das Kitaun­ter­neh­men schuf in den ver­gan­ge­nen 22 Jah­ren 12 Kitas mit 337 Betreu­ungs­plät­zen und 100 Arbeits­plät­zen und wird Anfang des kom­men­den Jah­res die­se und eine wei­te­re Kita in Lich­ter­fel­de für 90 Kin­der und 20 Mit­ar­bei­te­rIn­nen eröff­nen. Das denk­mals­ge­schütz­te Gebäu­de wur­de 1903 erbaut und unter Erhal­tung der histo­ri­schen Fas­sa­de und der geschütz­ten Tei­le der Innen­räu­me sowie alter hoher Bäu­me des Grund­stückes für den neu­en Zweck umge­baut. Eben­so wur­de der gro­ße Gar­ten mit selbst ent­wor­fe­nen Holz­ele­men­ten – Haus, Brücke und Spiel­platz – neu­ge­stal­tet. Eine gro­ße Außen­trep­pe führt am hin­te­ren Gebäu­de­teil vom Erd­ge­schoss in den zwei­ten Stock, und die groß­zü­gi­gen Räu­me zei­gen Flie­sen, Par­kett, alte Holz­tü­ren und Erker. Sie ver­mit­teln Licht und viel Raum für Inspi­ra­ti­on, Atem und Bewegung.

Das päd­ago­gi­sche bilin­gua­le Kon­zept der Kitas die­ses Unter­neh­mens, offen für Men­schen jeden kul­tu­rel­len Hin­ter­grun­des und ver­bun­den mit Zusatz­an­ge­bo­ten wie Musik und Bewe­gung, bio­lo­gi­scher Ernäh­rung und eige­nen Küchen, spricht vor allem Fami­li­en mit Migra­ti­ons­hin­ter­grund an, die ihre fami­liä­ren Erfah­run­gen in der Kita päd­ago­gisch auf­neh­men möch­ten. Auch der Anteil der Immi­gran­tIn­nen unter den Mit­ar­bei­ten – Päd­ago­gen, Psy­cho­lo­gin, Erzie­he­rIn­nen, Quer­ein­stei­gern, Stu­den­ten in dua­len Aus­bil­dun­gen, Köchen, Haus­mei­stern und Rei­ni­gungs­kräf­ten ist in den fla­chen Hier­ar­chien mit star­ker kol­lek­ti­ver Par­ti­zi­pa­ti­on an Unter­neh­mens­ent­schei­dun­gen hoch – etwa 90 Pro­zent aller Beschäf­tig­ten haben, oft direkt, einen Migra­ti­ons­hin­ter­grund. Dies trifft ver­gleich­bar auch auf die Beschäf­ti­gungs­struk­tur des Archi­tek­tur­bü­ros zu.

Migran­ten sind Grenz­gän­ger, die im direk­ten Sin­ne über Gren­zen gegan­gen sind und sich hier stän­dig neu ent­gren­zen und neue Struk­tu­ren für sich erfin­den müs­sen. Es ist ein Pro­zess stän­di­ger Häu­tung, die in jedem Moment die Per­sön­lich­keit in Trans­for­ma­ti­on, Krea­ti­vi­tät und Neu­erschaf­fung zwingt. In die­sem sehr dyna­mi­schen und oft auch schmerz­haf­ten Vor­gang, mit­un­ter im Außen­feld ras­si­stisch kon­no­tiert, kom­men in dem Unter­neh­men unter Ange­stell­ten und Eltern als einem Sozi­al­ver­bund Men­schen zusam­men, die einer­seits vie­le alter­na­ti­ve Lebens­er­fah­run­gen und oft meh­re­re Beru­fe mit­brin­gen, ande­rer­seits ver­letz­lich sind, da sie unter Bedin­gun­gen sich nur lang­sam ver­fe­sti­gen­der Auf­ent­hal­te, lang­wie­ri­gen Berufs­an­er­ken­nungs­ver­fah­ren, Sprach­kur­sen, zahl­rei­chen dua­len Qua­li­fi­ka­tio­nen und häu­fig finan­zi­el­len Eng­päs­sen und pre­kä­ren Arbeits- und Sozi­al­ver­hält­nis­sen leben. Vie­le von ihnen unter­stüt­zen, aus dem tra­di­tio­nell star­ken fami­liä­ren Zusam­men­halt her­aus, Ange­hö­ri­ge in den latein­ame­ri­ka­ni­schen und ande­ren Her­kunfts­län­dern. Mit der Sta­bi­li­tät des Unter­neh­mens wur­den, auch in sozi­al­recht­li­cher Hin­sicht, nicht nur Betreu­ungs­plät­ze für Klein­kin­der geschaf­fen, son­dern es ent­stan­den hel­fen­de Netz­wer­ke, die weit über die Kitas hin­aus­rei­chen und alle Lebens­fel­der von Eltern und Ange­stell­ten umfas­sen. Die Inte­gra­ti­ons­lei­stung, die vom Kern des Unter­neh­mens in die Peri­phe­rie strahlt, ist daher the­ma­tisch und vom ein­ge­bun­de­nen Per­so­nen­kreis her viel grö­ßer, als der rei­ne Arbeits­rah­men ver­mu­ten lie­ße. Oft fin­den sich frü­he­re Kita­kin­der spä­ter mit ihren Fami­li­en in den Ber­li­ner Euro­pa­schu­len und Aus­bil­dungs­ein­rich­tun­gen im In- und Aus­land wie­der. Die Erfah­rung der Bilin­gua­li­tät im Kin­des­al­ter erleich­tert ihnen lebens­lang Lern­pro­zes­se und schafft Welt­of­fen­heit, die sich in spä­te­ren eige­nen Fami­li­en und Arbeits­fel­dern repro­du­ziert. Das Empower­ment und die inten­si­ven, lan­gen und star­ken soli­da­ri­schen Bezie­hun­gen, die sich aus der Arbeit her­lei­ten, hel­fen beson­ders allein­er­zie­hen­den Müt­tern und Vätern, aus der Posi­ti­on einer gesi­cher­ten Kin­der­be­treu­ung her­aus über­haupt berufs­tä­tig wer­den zu kön­nen. Der wirt­schaft­li­che und auch per­sön­li­che Nut­zen die­ser win-win-Situa­ti­on liegt auf der Hand und stellt ein star­kes und alter­na­ti­ves Votum für ein ande­res mög­li­ches Zusam­men­le­ben in Sozi­al­räu­men dar.

Der Bau selbst fin­det unter erschwer­ten Bedin­gun­gen statt; nur schritt­wei­se ermög­lich­ten staat­li­che Zuwen­dun­gen aus pre­kär aus­ge­stat­te­ten Sozi­al­haus­hal­ten, trotz gesetz­li­cher Ansprü­che auf Kita­plät­ze bei enor­mem Bedarf in Ber­lin, Fach­kräf­te­man­gel bei betei­lig­ten Fir­men, Lie­fer­eng­päs­se und beson­ders in letz­ter Zeit schnell und stark stei­gen­de Prei­se für alle Mate­ria­li­en und Dienst­lei­stun­gen mach­ten vie­le orga­ni­sa­to­ri­sche Anpas­sun­gen und stän­di­ge Impro­vi­sa­tio­nen nötig.

In dem mär­chen­haft anmu­ten­den Ambi­en­te die­ser neu­en Kita, einem Ensem­ble der Kün­ste – Archi­tek­tur, Gar­ten­ge­stal­tung, Koch­kunst, Musik und Päd­ago­gik –, in dem man einen lan­gen Tag ver­bringt, der sechs Jah­re währt, liegt aber die Chan­ce, Zeit anders ver­lau­fen zu las­sen: nicht chro­no­lo­gisch, son­dern auf­ge­la­den mit der uto­pi­schen Chan­ce, Geschich­te umzu­keh­ren, die ver­bor­ge­ne Geschich­te zu offen­ba­ren, sie zu erschaf­fen und sie auch rück­wir­kend zu hei­len, Bio­gra­fien zusam­men­zu­fü­gen und jun­gen Men­schen Kraft für ihren gesam­ten wei­te­ren Weg zuflie­ßen zu las­sen. Die Arbeit mit Kin­dern ist eine sehr opti­mi­sti­sche, denn sie bedeu­tet, dass man von der mög­li­chen Ver­fer­ti­gung von Kom­men­dem als siche­rer Tat­sa­che aus­geht. Könn­te dies bedeu­ten, dass an die­sem klei­nen und punk­tu­el­len Ort der Engel der Geschich­te in die­sem Moment, das siche­re Para­dies im Rücken, mehr als Trüm­mer­hau­fen vor sich sehen kann und es wagt, sein Gesicht der Zukunft zuzuwenden?