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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Der Nationalismus hat ausgedient

Den Unter­stüt­zern des euro­päi­schen Inte­gra­ti­ons­pro­zes­ses ist bewusst, dass der Natio­na­lis­mus Kata­ly­sa­tor für grau­sa­me Ver­bre­chen, Elend und Zer­stö­rung war. Nach dem Zwei­ten Welt­krieg war es das ober­ste Gebot, für Frie­den in Euro­pa zu sor­gen. Die Idee der euro­päi­schen Inte­gra­ti­on basiert auf genau die­sem Frie­dens­an­spruch und dar­auf, dem Natio­na­lis­mus den Nähr­bo­den zu ent­zie­hen. Klar war den Grün­dern der euro­päi­schen Idee, dass dies nur gelin­gen kann, wenn die euro­päi­schen Natio­nen ihre Sou­ve­rä­ni­tät redu­zie­ren und ana­log neue supra­na­tio­na­le Struk­tu­ren geschaf­fen wer­den. Mit dem Schen­gen-Abkom­men, der Ein­füh­rung des Euros als gemein­sa­me Wäh­rung und dem euro­päi­schen Bin­nen­markt wur­den Ent­gren­zungs­pro­zes­se in Gang gesetzt, die die Euro­pä­er enger zusammenbrachten.

Den­noch erle­ben wir seit eini­gen Jah­ren, dass der Natio­na­lis­mus in vie­len Län­dern wie­der zunimmt. Öster­reich, Frank­reich, Deutsch­land, Ita­li­en, Nie­der­lan­de, Ungarn, Polen – in Euro­pa haben natio­na­le Kräf­te in den ver­gan­ge­nen Jah­ren deut­li­che Stimm­ge­win­ne bei Wah­len ver­zeich­net. Gepaart mit dem natio­na­len Gedan­ken­gut sind zumeist ein aus­ge­präg­ter Euro­pa­skep­ti­zis­mus und Eth­no­zen­tris­mus. Die eige­ne Nati­on wird gegen­über ande­ren Natio­nen über­höht; das eige­ne, ver­meint­lich homo­ge­ne Natio­nal­volk als über­le­gen betrach­tet. Nicht nur auf staat­li­cher, son­dern eben­so auf regio­na­ler Ebe­ne for­mie­ren sich natio­na­li­sti­sche Bestre­bun­gen: so wie bei den Bewe­gun­gen im Bas­ken­land, in Kata­lo­ni­en, auf Kor­si­ka oder in Nordirland.

Natio­na­li­sti­sche Bewe­gun­gen prä­gen demo­kra­ti­sche Syste­me und stel­len für die­se eine erheb­li­che Her­aus­for­de­rung dar. Natio­na­li­sti­sche Ideo­lo­gien för­dern auf der einen Sei­te gemein­sa­me Wer­te und Iden­ti­tä­ten, folg­lich kön­nen sie die Ent­wick­lung sozia­ler Soli­da­ri­tät zwi­schen den­je­ni­gen, die der »Nati­on« ange­hö­ren, begün­sti­gen. Die­se Zuge­hö­rig­keit begrün­det sich meist auf­grund von einer geglaub­ten gemein­sa­men Abstam­mung, Kul­tur oder Spra­che. Auf der ande­ren Sei­te legi­ti­mie­ren natio­na­li­sti­sche Wer­te Dis­kri­mi­nie­rung und schlie­ßen Men­schen aus.

Viel­fach wird die­se Ideo­lo­gie zum indi­vi­du­el­len poli­ti­schen Macht­er­halt genutzt. Sie ver­spricht leich­te Ant­wor­ten auf kom­ple­xe Fra­ge­stel­lun­gen. Das Fest­hal­ten an natio­na­len Ideo­lo­gien liegt aber auch dar­an, dass ein Euro­pa ohne Natio­nen für vie­le unvor­stell­bar ist. Wähl­bar schei­nen ins­be­son­de­re Poli­ti­ker, die sich für die ver­meint­li­chen natio­na­len und regio­na­len Inter­es­sen ein­set­zen. Der Natio­na­lis­mus wird denn auch von der poli­ti­schen Mit­te und nicht nur von rech­ten Rädern unterstützt.

Die Ver­gan­gen­heit hat aber auch gezeigt, dass vie­les, was unvor­stell­bar erschien, doch ein­ge­tre­ten ist. So hat die ETA im Bas­ken­land nach jahr­zehn­te­lan­gem Ter­ror die Waf­fen nie­der­ge­legt, in Nord­ir­land setz­te ein Frie­den­pro­zess ein, die Sowjet­uni­on implo­dier­te, und die Ber­li­ner Mau­er fiel.

Eine Nati­on mit Poten­zi­al muss laut Kea­ting, einem Pro­fes­sor der Uni­ver­si­tät Aber­deen, ver­schie­de­ne Bedin­gun­gen erfül­len, die sich vier Dimen­sio­nen zuord­nen las­sen. Dazu gehören:

die öko­no­mi­sche Dimen­si­on mit inter­na­tio­na­ler Wettbewerbsfähigkeit;

die sozia­le Dimen­si­on mit der För­de­rung und Auf­recht­erhal­tung der sozia­len Integration;

die kul­tu­rel­le Dimen­si­on mit der För­de­rung und Auf­recht­erhal­tung einer kol­lek­ti­ven Iden­ti­tät, Spra­che sowie Kul­tur und

die poli­ti­sche Dimen­si­on mit der Instal­la­ti­on eines legi­ti­mier­ten Systems, so dass die Nati­on imstan­de ist, poli­ti­sche Auf­ga­ben, Pro­ble­me und Fra­gen in einer akzep­tier­ten Wei­se zu lösen.

Schaut man sich die Bedin­gun­gen an, muss man zwei­fels­oh­ne fest­stel­len, dass die natio­na­li­sti­sche Ideo­lo­gie aus­ge­dient hat und ihr Poten­zi­al erschöpft ist. Die Grenz­zie­hun­gen zwi­schen den­je­ni­gen, die dazu­ge­hö­ren, und denen, die aus­ge­schlos­sen blei­ben, ver­hin­dern letzt­lich eine frucht­ba­re sozia­le Inte­gra­ti­on, das Her­aus­bil­den gemein­sa­mer Iden­ti­tä­ten und die Opti­on, Auf­ga­ben sowie Pro­ble­me in einer adäqua­ten und aner­kann­ten Wei­se zu lösen.

Statt­des­sen frag­men­tie­ren natio­na­li­sti­sche Bestre­bun­gen Gesell­schaf­ten, indem sie ein­gren­zend, begren­zend und aus­gren­zend wir­ken. Öko­no­misch betrach­tet, ver­hin­dern Ein­gren­zun­gen, Begren­zun­gen und Aus­gren­zun­gen dar­über hin­aus eine inter­na­tio­na­le Wett­be­werbs­fä­hig­keit. Längst ist unser Leben supra­na­tio­nal geprägt. Sicher­heit, Kli­ma­schutz, Lie­fer­ket­ten und wirt­schaft­li­che Ver­wo­ben­heit – all die­se The­men machen nicht vor natio­na­len Grenz­zie­hun­gen halt. Die Vor­stel­lun­gen von der eigen­stän­di­gen, gar aut­ar­ken Nati­on müss­ten objek­tiv betrach­tet eigent­lich längst der Ver­gan­gen­heit angehören.

Obgleich die natio­na­li­sti­sche Idee aus­ge­dient haben müss­te, erlebt sie eine Renais­sance. Ver­gleicht man die Gene­se und Ent­wick­lungs­we­ge natio­na­li­sti­scher Bewe­gun­gen, las­sen sich Gemein­sam­kei­ten und Unter­schie­de fin­den. Sie kön­nen Auf­schlüs­se dar­über geben, was den Natio­na­lis­mus kata­ly­siert und prägt.

Grund­sätz­lich begün­sti­gen kol­lek­ti­ve Iden­ti­täts­pro­ble­me die Ent­ste­hung natio­na­li­sti­schen Bestre­bens; das haben kom­pa­ra­ti­ve Ana­ly­sen sol­cher Bewe­gun­gen erge­ben. Dabei kön­nen sich die Fak­to­ren, die die­se kol­lek­ti­ven Iden­ti­täts­pro­ble­me begün­sti­gen, durch­aus unter­schei­den. Das kön­nen u. a. emp­fun­de­ne Repres­sio­nen, sozio­öko­no­mi­sche Struk­tur­ver­än­de­run­gen, die Angst vor einer ver­meint­li­chen Reduk­ti­on gemein­sa­mer Wert- und Iden­ti­täts­mu­ster, das Gefühl des Ver­lusts sozia­ler Ver­bun­den­heit, eine als unge­recht emp­fun­de­ne Res­sour­cen­ver­tei­lung und Benach­tei­li­gung, eine kol­lek­tiv emp­fun­de­ne Unzu­frie­den­heit oder die Angst vor einem Reduk­tio­nis­mus kul­tu­rell emp­fun­de­ner Anders­ar­tig­keit sein.

Will man natio­na­li­sti­schen Ideo­lo­gien begeg­nen, müs­sen also, sehr viel ent­schie­de­ner als bis­her, die genann­ten Ursa­chen, die die Gene­se und Ent­wick­lungs­we­ge natio­na­li­sti­scher Bestre­bun­gen prä­gen, in den Fokus rücken. Supra­na­tio­na­le Struk­tu­ren müs­sen ver­stärkt Ant­wor­ten auf öko­no­mi­sche, sozia­le, kul­tu­rel­le und poli­ti­sche Her­aus­for­de­run­gen in einer akzep­tier­ten Art und Wei­se fin­den und ein Mit­ein­an­der för­dern sowie Iden­ti­täts­an­ker bieten.

Pro­ble­ma­tisch ist es ins­be­son­de­re, wenn gro­ße Tei­le der Bevöl­ke­rung nicht par­ti­zi­pie­ren. Dadurch wer­den Demo­kra­tien lang­fri­stig insta­bil. Beson­ders pre­kär wird es, wenn Men­schen ihre Hoff­nung auf sozia­le Mobi­li­tät ver­lie­ren. Wenn sie sich lang­fri­stig auf­grund von man­geln­den Erfolgs­aus­sich­ten aus Poli­tik, Zivil­ge­sell­schaft und dem Arbeits­markt ver­ab­schie­den, redu­ziert sich auch die gesamt­ge­sell­schaft­li­che Lei­stungs­fä­hig­keit; Gesell­schaft wird fra­gil. Bei einer 2013 erfolg­ten Erhe­bung haben erst­mals seit 1955 mehr Men­schen das Gefühl: »Die einen sind oben, die ande­ren sind unten.« Bis 2013 sind die mei­sten Befrag­ten noch der Ansicht, dass jeder sei­nes Glückes Schmied sei. Der Glau­be an die sozia­le Mobi­li­tät geht ver­lo­ren. Sofern der Glau­be an sie nicht mehr exi­stent ist, wird sie real auch immer sel­te­ner wer­den. Die Fol­ge sind dann die kol­lek­ti­ven Iden­ti­täts­pro­ble­me, die natio­na­li­sti­sche Bestre­bun­gen begünstigen.