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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Offener Brief an Bundeskanzler Olaf Scholz

Ich schrei­be Ihnen die­sen Brief als jüdi­scher Nach­kom­me einer Fami­lie, die durch die Nazi­zeit ermor­det, in die gan­ze Welt zer­streut, aber auch, wie mei­ne Eltern und vie­ler ihrer Freun­de, in poli­ti­scher Ver­ant­wor­tung aus welt­wei­ter Emi­gra­ti­on sowie den Kon­zen­tra­ti­ons­la­gern nach Deutsch­land zurück­kehr­ten, in der ersehn­ten Hoff­nung, mit­zu­hel­fen, nach 1945 ein anti­fa­schi­sti­sches, fried­lie­ben­des, sozia­les und demo­kra­ti­sches Deutsch­land auf­zu­bau­en. Der Schwur von Buchen­wald for­mu­lier­te die­ses Ide­al: »Nie wie­der Krieg, nie wie­der Faschis­mus!« Ich schrei­be Ihnen die­sen Brief aus tief emp­fun­de­ner Sor­ge, dass die­ses wert­vol­le Nach­kriegs­er­be der­zeit ver­spielt und voll­stän­dig zer­stört wird. Ich weiß mich in die­ser gro­ßen Sor­ge dabei mit vie­len jüdi­schen wie nicht jüdi­schen Nach­kom­men aus anti­fa­schi­sti­schen Fami­li­en einig.

In Erwä­gung, dass Mil­lio­nen Ukrai­ner und Rus­sen bereits im 1. und beson­ders im 2. Welt­krieg ihr Leben durch deut­sche Waf­fen und deut­sche Sol­da­ten ver­lo­ren haben und dass gera­de die »Rote Armee«, zusam­men, mit Ukrai­nern und Rus­sen, ent­schei­dend dazu bei­trug, die Ost­eu­ro­pä­er und schließ­lich auch die Deut­schen vom Hit­ler­re­gime und vom sin­gu­lä­ren Völ­ker­mord an den Juden zu befrei­en, soll­ten des­halb nicht aus­ge­rech­net deut­sche Waf­fen dazu bei­tra­gen, die­sen sinn­lo­sen Krieg in der Ukrai­ne zu ver­län­gern und immer wei­ter eska­lie­ren zu las­sen. Das führt nur dazu, dass alle umkämpf­ten Gebie­te in der Ukrai­ne und Russ­lands wei­ter in Schutt und Asche gelegt wer­den und wei­ter­hin Tau­sen­de von Kriegs­op­fer und mil­lio­nen­fa­ches Flücht­lings­elend erzeugt werden.

In Erwä­gung, dass die sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Bemü­hun­gen von Wil­ly Brandt und Egon Bahr, durch ihre muti­ge Ent­span­nungs- und Dees­ka­la­ti­ons­po­li­tik, durch eine Poli­tik der klei­nen Schrit­te und schließ­lich durch den KSZE-Pro­zess ent­schei­dend dazu bei­tru­gen, dass die Mau­ern des »Kal­ten Krie­ges« 1989 fie­len und damit auch die deut­sche Wie­der­ver­ei­ni­gung mög­lich wur­de. Das gelang nur, durch eine cou­ra­gier­te Abwen­dung von einer kon­ser­va­ti­ven, west­li­chen Kon­fron­ta­ti­ons­po­li­tik. In Ihrem Par­tei­pro­gramm fin­den sich des­halb fol­gen­de Schlüs­sel­sät­ze: »Die inter­na­tio­na­le Poli­tik der (…) Sozi­al­de­mo­kra­tie dient dem Ziel, Kon­flik­te zu ver­hin­dern und Frie­den zu schaf­fen. Unse­re Prin­zi­pi­en dafür sind Ver­stän­di­gung, inter­na­tio­na­le Soli­da­ri­tät und gemein­sa­me Sicher­heit durch Koope­ra­ti­on. (…) Umfas­sen­de Sicher­heit lässt sich nur gemein­sam lösen. (…) Wir knüp­fen an die erfolg­rei­che Ent­span­nungs­po­li­tik Wil­ly Brandts in Euro­pa an. (…) Wir plä­die­ren für eine neue Ent­span­nungs­po­li­tik, die Ver­stän­di­gung ermög­licht, Auf­rü­stung ver­mei­det und fried­li­che Lösun­gen von Kon­flik­ten ermöglicht.«

In Erwä­gung, dass Gen­scher und Kohl sich gegen­über Gor­bat­schow ver­pflich­tet hat­ten, außer auf dem Gebiet der DDR kei­ne Nato- Ost­erwei­te­rung und damit kei­ne Mili­ta­ri­sie­rung ganz Ost­eu­ro­pas, ein­schließ­lich der Ukrai­ne, vor­zu­neh­men, als Gegen­lei­stung für den Abzug der sowje­ti­schen Trup­pen aus allen die­sen Gebieten.

In Erwä­gung, dass das Grund­ge­setz und ihr Amts­eid Sie dazu ver­pflich­ten, »Scha­den vom deut­schen Volk abzu­wen­den« und kei­nes­falls die deut­sche Bevöl­ke­rung immer wei­ter in einen glo­ba­len Krieg hin­ein zu zie­hen, der zugleich Mil­lio­nen ukrai­ni­scher Flücht­lin­ge nach Deutsch­land bringt, sowie alle, ohne­hin fra­gi­len Sozi­al­sy­ste­me kol­la­bie­ren lässt, die Lebens­hal­tungs­ko­sten immer wei­ter in die Höhe und den Staats­haus­halt immer tie­fer in die Schul­den­kri­se treibt und schließ­lich den Rechts­ra­di­ka­len und Neo­na­zis fort­lau­fend die Hän­de spielt.

In Erwä­gung, dass Geist und Buch­sta­ben der UN-Char­ta gera­de nicht dazu ermäch­ti­gen, Krie­ge zu unter­stüt­zen und zu füh­ren, son­dern for­mu­liert wur­de, um Krie­ge zu ver­hin­dern, wenn es in ihrer Prä­am­bel an erster Stel­le heißt: »Wir, die Völ­ker der Ver­ein­ten Natio­nen – fest ent­schlos­sen, künf­ti­ge Geschlech­ter vor der Gei­ßel des Krie­ges zu bewah­ren, die zwei­mal zu unse­ren Leb­zei­ten unsag­ba­res Leid über die Mensch­heit gebracht hat.«

In Erwä­gung, dass nun doch erneut der Welt­frie­den akut bedroht ist und die alten mili­tä­ri­schen Kon­flikt­her­de zwi­schen Ost und West, Nord und Süd, sich immer wei­ter verschärfen.

In Erwä­gung, dass die vor­dring­li­che Bewäl­ti­gung der öko­lo­gi­schen Kri­se und die damit zusam­men­hän­gen­de sozia­le Kri­se nur durch außer­or­dent­lich soli­da­ri­sche Anstren­gun­gen der gesam­te Welt­ge­mein­schaft noch zeit­nah mög­lich ist.

In Erwä­gung aller die­ser Argu­men­te, for­de­re ich Sie inn­stän­dig auf: Las­sen Sie es nicht zu, dass durch deut­sche Poli­tik und die der Nato-Ver­bün­de­ten immer mehr Öl ins Feu­er die­ses sinn­lo­sen Krie­ges gegos­sen wird. Lei­ten Sie dage­gen eine Zei­ten­wen­de für eine Frie­dens­lö­sung ein, bevor es für uns alle für immer zu spät ist. Stop­pen Sie durch Ihr muti­ges Veto als haupt­ver­ant­wort­li­cher deut­scher Poli­ti­ker alle Rüstungs­lie­fe­run­gen aus Deutsch­land und der Nato an die ukrai­ni­schen Macht­ha­ber, um sie von ihrer illu­sio­nä­ren »Sieg­frie­den-Stra­te­gie« gegen Russ­land abzu­brin­gen, damit sie umge­hend an den Ver­hand­lungs­tisch mit der rus­si­schen Sei­te zurück­keh­ren. Die­ser Stopp der Rüstungs­lie­fe­run­gen wäre auch ein ech­tes Ver­hand­lungs­an­ge­bot an die rus­si­sche Füh­rung und der erste Schritt für einen Waf­fen­still­stand, dem schritt­wei­se eine Ver­hand­lungs­lö­sung fol­gen muss.

Wer­den Sie, auf dem Hin­ter­grund der unheil­vol­len, sin­gu­lä­ren deut­schen Geschich­te im 20. Jahr­hun­dert und der frie­dens­stif­ten­den sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Tra­di­tio­nen und Pro­gram­ma­tik Ihrer hohen poli­ti­schen Ver­ant­wor­tung jetzt gerecht. Sie haben es mit in der Hand, Welt­ge­schich­te zu schrei­ben, wenn Sie jetzt ent­schei­dend dazu bei­tra­gen, sich an die Spit­ze einer welt­wei­ten Frie­dens­sehn­sucht zu stel­len und uns von der Gei­sel die­ses sinn­lo­sen glo­ba­len Krie­ges zu befreien!

Mit hoff­nungs­vol­len Grü­ßen, im Ver­trau­en auf Ihre zähe Kon­flikt­fä­hig­keit, Weit­sicht und Vernunft!

Wolf­gang Herz­berg (Autor und Her­aus­ge­ber bio­gra­fi­scher Zeitzeugenberichte)