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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Vergangenheit vergegenwärtigen

Im Jahr 1948 warb der Her­stel­ler des Wasch­mit­tels Per­sil mit einer Zei­chen­trick-Rekla­me, in der ein Mari­ne-Matro­se ver­dreck­ten Pin­gui­nen die Bäu­che wie­der strah­lend rein­wäscht. Immer mehr Pin­gui­ne sprin­gen dar­auf­hin an Bord und rufen im Chor »PERSILPERSILPERSIL!« Dabei recken sie die Flü­gel wie weit aus­ge­streck­te Arme. Mit stolz­ge­schwell­ter Brust defi­lie­ren sie schließ­lich in Reih und Glied an Land, zu Marsch­mu­sik sin­gend: »Ja, unse­re wei­ße Weste ver­dan­ken wir PERSIL!« Die Deut­schen hat­ten ihren Humor also noch nicht ver­lo­ren, oder schon wie­der­ge­fun­den. In Fri­do­lin Schleys Roman Die Ver­tei­di­gung, in dem er die Ereig­nis­se um den Nürn­ber­ger Wil­helm­stra­ßen-Pro­zess in ein fes­seln­des Dra­ma über Moral und Ver­ant­wor­tung ver­wan­delt, taucht die Rekla­me-Ver­spre­chung für blü­ten­wei­ße Wäsche kurz auf ­– als fil­mi­sche Meta­pher, die ver­an­schau­licht, wie die »Ent­na­zi­fi­zie­rung« schon früh­zei­tig funktionierte.

Deutsch­land in den Nach­kriegs­jah­ren. Ein Volk müh­te sich, das zu ver­ges­sen, was es ver­schwieg: sei­ne Bereit­schaft zur Teil­nah­me an einem System der Bar­ba­rei. Geschichts-Ver­leug­nung und Geschichts-Umdeu­tung hat­ten Hoch­kon­junk­tur. So ver­lo­ren sich der Schrecken und die Ein­zig­ar­tig­keit, den der Zivi­li­sa­ti­ons­bruch des Holo­caust und die Ver­nich­tungs­krie­ge bedeu­te­ten, im kol­lek­ti­ven Ver­drän­gen und Ver­ges­sen. Der natio­nal­so­zia­li­sti­sche Wahn wur­de zur aus­tausch­ba­ren Meta­pher des Bösen, per­sön­li­che Schuld rela­ti­viert. Hit­ler allein soll­te es gewe­sen sein, ver­ant­wort­lich für das Ver­der­ben der Deut­schen und ihre mil­lio­nen­fa­chen Ver­bre­chen. Wenn nicht allein, dann allen­falls eine klei­ne ver­bre­che­ri­sche Nazi-Eli­te und ihre fana­ti­schen Getreu­en. Im Nach­kriegs-Deutsch­land woll­ten die ein­sti­gen Volks­ge­nos­sen die »dunk­len Jah­re« von ihrem eige­nen Erle­ben und Mit-Tun abspal­ten. So ließ sich per­sön­li­che Schuld gut ent­sor­gen. Die Deut­schen exkul­pier­ten sich selbst.

Der Ber­li­ner Zeit­hi­sto­ri­ker Götz Aly, gebo­ren 1947, hat in der Ver­gan­gen­heit zahl­rei­che wich­ti­ge, weg­wei­sen­de Publi­ka­tio­nen zur Sozi­al­po­li­tik und zur Geschich­te des Natio­nal­so­zia­lis­mus vor­ge­legt, dar­un­ter 2015 »Volk ohne Mit­te« sowie zwei Jah­re zuvor »Die Bela­ste­ten – ›Eutha­na­sie‹ 1939-1945. Eine Gesell­schafts­ge­schich­te«. Im Febru­ar 2017 erschien sei­ne gro­ße Stu­die über die euro­päi­sche Geschich­te von Anti­se­mi­tis­mus und Holo­caust »Euro­pa gegen die Juden 1880-1945«. Die Erfor­schung des Natio­nal­so­zia­lis­mus, des Holo­caust und des Anti­se­mi­tis­mus ist Alys Lebens­the­ma. Es geht ihm in sei­nen Arbei­ten dar­um, die NS-Ver­gan­gen­heit nicht zu »bewäl­ti­gen«, son­dern zu ver­ge­gen­wär­ti­gen. Das zeigt sich auch in sei­nem gera­de erschie­ne­nen Buch »Unser Natio­nal­so­zia­lis­mus«, das sei­ne wich­tig­sten Reden und Vor­trä­ge ver­sam­melt (und in einem Anhang das umfang­rei­che Schaf­fen des Autors in einem Schrif­ten­ver­zeich­nis doku­men­tiert). Götz Aly fragt, wie sich das ein­mal her­bei­ge­wähl­te und kon­sti­tu­ier­te Hit­ler-Deutsch­land mit atem­be­rau­ben­dem Tem­po zu einer mensch­li­chen Maschi­ne­rie des Zer­stö­rens, Eroberns und Mor­dens ent­wickeln konn­te, und war­um so häu­fig die Rede von »den Tätern« ist, wenn es um die NS-Ver­bre­chen geht, von »der SS« oder »den Natio­nal­so­zia­li­sten«, wenn es um Hit­lers Volks-Staat, also die gro­ße Volks­ge­mein- und -genos­sen­schaft geht. Waren es nicht Hun­dert­tau­sen­de Deut­sche, die aktiv Mensch­heits­ver­bre­chen unge­heu­ren Aus­ma­ßes begin­gen, und vie­le Mil­lio­nen, die die­se bil­lig­ten, zumin­dest aber gesche­hen lie­ßen? Wer begrei­fen möch­te, war­um so vie­le durch­aus nor­ma­le, mora­lisch gefe­stigt erschei­nen­de Deut­sche 1932 bis 1945 dem Pro­gramm der Natio­nal­so­zia­li­sten folg­ten, der fin­det in die­sen Zeit- und Lebens­ge­schich­ten erhel­len­de Ana­ly­sen, Beschrei­bun­gen und Anmerkungen.

Nein, Hit­ler war nicht über die Deut­schen gekom­men, die Deut­schen waren zu Hit­ler gekom­men. Sie hat­ten ihn gewählt, ver­ehrt und beju­belt. Die Ver­bre­chen und Mord­ta­ten haben kei­ne Außer­ir­di­schen ver­bro­chen, die Mör­der und Scher­gen waren ganz nor­ma­le Men­schen und kamen aus allen Schich­ten der Bevöl­ke­rung. Aly benennt die viel­fäl­ti­gen Prak­ti­ken, die Schuld auf mög­lichst klei­ne Grup­pen und Unper­so­nen abzu­schie­ben – bis heu­te. Aly hält fest, dass die Täter von damals mit uns ver­wandt sind. Er wei­tet unse­ren Blick auf das Gan­ze, auf das gesam­te Pan­ora­ma natio­na­len Grö­ßen­wahns und Bar­ba­rei. Auch wenn sich Ewig-Gest­ri­ge und AFD-Heu­ti­ge dage­gen sper­ren: Es ist »Unser Nationalsozialismus«.

Alys Reden und Auf­sät­ze erin­nern uns dar­an: die Täter ster­ben aus – die Opfer und Zeit­zeu­gen eben­falls. Mit Blick auf die Gegen­wart, in der per­sön­li­ches Erin­nern immer sel­te­ner wird, braucht es des­halb Wis­sen, wie »es gesche­hen konn­te«, nicht nur die Bereit­schaft zur Erin­ne­rung, son­dern die Pflicht des Erin­nerns. Götz Alys gesam­mel­te Reden kön­nen dabei nütz­lich sein.

Götz Aly: Unser Natio­nal­so­zia­lis­mus. Reden in der deut­schen Gegen­wart, Frank­furt a.M. 2023, 304 S., 25 €.