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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Dieter Schiller wird 90

Der Kreis derer, die Schil­lers Bücher und Auf­sät­ze mit Gewinn lesen, dürf­te weit über die pro­fes­sio­nell Inter­es­sier­ten hin­aus­rei­chen, weil er nicht nur ein äußerst enga­gier­ter und pro­duk­ti­ver For­scher, son­dern auch ein Lieb­ha­ber des Lesens geblie­ben ist, der sich als viel­sei­tig inter­es­sier­ter Zeit­ge­nos­se der Ver­mitt­lung von neu­er wie älte­rer Lite­ra­tur für brei­te­re Leser­krei­se widmet.

Es war 1962/​63 in einem sei­ner Semi­na­re, in denen er uns als Assi­stent am Ger­ma­ni­sti­schen Insti­tut der Hum­boldt-Uni­ver­si­tät mit der vor­klas­si­schen Peri­ode der deut­schen Lite­ra­tur bekannt mach­te. Es ging um Anti­ke­rezep­ti­on, und ich staun­te, wel­che Auf­schlüs­se man aus Goe­thes Sati­re »Göt­ter Hel­den und Wie­land« über ganz aktu­el­le Streit­punk­te gewin­nen konn­te. Man lern­te zu den­ken in Schil­lers Lehrveranstaltungen.

Neben der deut­schen klas­si­schen Lite­ra­tur erschloss er sich das wei­te Feld der Lite­ra­tur­ent­wick­lung im 20. Jahr­hun­derts, wäh­rend er u.a. als For­schungs­grup­pen­lei­ter am Zen­tral­in­sti­tut für Lite­ra­tur­ge­schich­te der Aka­de­mie der Wis­sen­schaf­ten der DDR tätig war. Er gehör­te zum Her­aus­ge­ber­kreis für das »Lexi­kon sozia­li­sti­scher Lite­ra­tur« (1963/​94), war Mit­her­aus­ge­ber der Bän­de 6-10 der »Geschich­te der deut­schen Lite­ra­tur von den Anfän­gen bis zur Gegen­wart«. Als Autor schrieb er am Band 10 (1917-1945) mit, sein spe­zi­el­les Inter­es­se rich­te­te sich auf die Lite­ra­tur des anti­fa­schi­sti­schen Exils. Wei­ter­füh­ren­de Ergeb­nis­se für die Exil­for­schung leg­te er mit dem Buch »…von Grund auf anders« (1974) vor, in dem er die Debat­ten ana­ly­sier­te, die unter den emi­grier­ten Schrift­stel­lern um die Her­aus­bil­dung eines anti­fa­schi­sti­schen Lite­ra­tur­pro­gramms geführt wur­den. Sei­ne Dar­stel­lun­gen waren dar­auf gerich­tet, das gegen­wär­ti­ge Ver­ständ­nis für den Zusam­men­hang von Lite­ra­tur und Poli­tik in den geschicht­li­chen Kämp­fen zu wecken und die zeit­ge­nös­si­sche Aneig­nung zu beein­flus­sen. Das Beson­de­re sei­ner lite­ra­tur­ge­schicht­li­chen Arbei­ten besteht dar­in, dass sie die Bezie­hun­gen zwi­schen Autor, Werk und Leser ins Zen­trum stel­len und die Gesamt­heit der Fak­to­ren ein­be­zie­hen, die die lite­ra­ri­sche Pro­duk­ti­on mit­be­din­gen, wie z. B. Ver­lags-, und Buch­we­sen. »Im Wider­streit geschrie­ben« (2008), »Ein­zel­hei­ten und Bei­spie­le« (2012) befra­gen Schrift­stel­ler und ihre Wer­ke aufs Neue, der erwei­ter­te Zugang zu Archi­va­li­en ver­än­der­te über­kom­me­ne Sich­ten. Obwohl im Zen­trum sei­ner Exil­for­schun­gen zunächst die sozia­li­sti­schen Autoren stan­den, über­blickt er nun wei­te lite­ra­ri­sche Fel­der. Aus sei­ner Feder gibt es Essays über H. Mann, K. Mann, Graf, Bloch, Ben­ja­min, Tuchol­sky, er schrieb über Lukács, den Leh­rer aus frü­hen DDR-Jah­ren, ver­fass­te Bei­trä­ge über Luxem­burg, Müh­sam, des­sen aus­ge­wähl­te Wer­ke er ist bereits 1961 her­aus­ge­ge­ben hat.

In »Wil­li Mün­zen­berg und sein Umgang mit deut­schen Intel­lek­tu­el­len« (2021) rich­tet sich sein Inter­es­se vor­züg­lich auf den Orga­ni­sa­tor eines gro­ßen Ver­lags- und Pres­se­kon­zerns als Vor­aus­set­zung für die Ent­ste­hung sozia­li­sti­scher Lite­ra­tur. Hier zeich­net Schil­ler den wei­te­ren Weg Mün­zen­bergs als poli­ti­schen Akti­vi­sten nach, der in den Jah­ren 1933-38 zuneh­mend kri­tisch auf die KPD und ihre Vor­stel­lung von Volks­front reagiert und sich unter dem Ein­druck der Mos­kau­er Pro­zes­se und des Hit­ler-Sta­lin-Pak­tes aus der Kom­mu­ni­sti­schen Bewe­gung zurück­zieht. Die Bestre­bun­gen Mün­zen­bergs als pro­fil­prä­gen­der Autor ziel­ten auf eine sozia­li­sti­sche Ein­heits­par­tei, deren theo­re­ti­sche Grund­la­gen jedoch uner­ör­tert blieben.

Lesens­wer­te »Lite­ra­ri­sche Erb­schaf­ten« (2018) bezeu­gen, dass sich der Hori­zont von Schil­lers lite­ra­tur­hi­sto­ri­schen Fra­ge­stel­lun­gen immer auch auf aktu­el­le Fra­gen bezieht. Hier bie­tet er eine Fül­le von Bei­spie­len über die Aneig­nung klas­si­schen Erbes auf dem Thea­ter, im Film und im all­ge­mei­nen Ver­ständ­nis der Gesell­schaft. Er rekon­stru­iert Bei­spie­le vom Umgang mit dem Erbe des anti­fa­schi­sti­schen Exils und ver­steht es, kennt­nis­reich mit Tex­ten aus der Ver­gan­gen­heit so umzu­ge­hen, dass deren Bedeu­tung für gegen­wär­ti­ges Geschichts­ver­ständ­nis deut­lich wird.

»Rück­blick auf ein ver­lo­re­nes Land« (2019, zusam­men mit Leo­no­re Krenz­lin ver­fasst, bezeugt ste­te Beschäf­ti­gung mit der Lite­ra­tur des ver­schwun­de­nen Lan­des. Hier resü­mie­ren bei­de die Spe­zi­fik der DDR-Lite­ra­tur als abge­schlos­se­nes Kapi­tel, sehen sie als Organ öffent­li­cher Kom­mu­ni­ka­ti­on über gesell­schaft­lich rele­van­te Fra­gen. Dem Leser wird ein Über­blick über histo­ri­sche, sich ver­än­dern­de Ent­wick­lungs­stu­fen von Autoren und ihren Schreib­wei­sen gege­ben, begin­nend mit den heim­ge­kehr­ten Emi­gran­ten Becher, Seg­hers und A. Zweig, anschlie­ßend cha­rak­te­ri­sie­ren sie unter­schied­li­che Funk­ti­ons- und Wir­kungs­wei­sen des Lite­ra­tur­ver­ständ­nis­ses von Hacks, Braun, Mül­ler, H. Kant, Morg­ner, Wolf, Köh­ler, Füh­mann, Rei­mann u. a. Die dem Leser zuge­wand­te Ver­mitt­lung gelingt am inten­siv­sten, wenn Rezep­ti­ons­an­ge­bo­te im Text selbst auf­ge­fun­den wer­den. Dar­stel­lun­gen über Kriegs­schuld und The­men wie All­tag, Wider­stand und jüdi­sches Schick­sal in der frü­hen DDR spie­geln die Aus­ein­an­der­set­zung mit den Relik­ten der Nazi­zeit, denen an Wer­ken von Füh­mann, Bobrow­ski, Otto, Noll u. a. nach­ge­gan­gen wird. Aus Ana­ly­sen ent­steht ein Über­blick, der Ver­än­de­run­gen sicht­bar macht und Kon­flik­te beschreibt, denen Schrei­ben­de in der DDR begeg­ne­ten. Sie bezie­hen die kri­ti­sche Auf­nah­me der Bücher in der lite­ra­ri­schen Öffent­lich­keit ein, erhel­len Hin­ter­grün­de poli­ti­scher Ein­grif­fe und das Kon­flikt­po­ten­ti­al, das dar­aus erwuchs und dazu führ­te, dass zahl­rei­che Autoren die DDR ver­lie­ßen. Ein­blicke in kon­flikt­rei­che Vor­gän­ge bie­tet die Ana­ly­se der Ent­ste­hungs­ge­schich­te von Heyms Roman »Fünf Tage im Juni« über den 17. Juni 1953. Auch der Bei­trag über A. Zweigs Rol­le als Prä­si­dent der Aka­de­mie der Kün­ste der DDR legt weit­ge­hend unbe­kann­te Aus­ein­an­der­set­zun­gen offen. Das Zusam­men­fü­gen frü­he­rer und erneu­ter Betrach­tun­gen lässt Ein­blicke in den eige­nen Erkennt­nis­pro­zess zu, so z. B. in den »Pan­kower Vor­trä­gen«. Hier rekon­stru­iert er aus unver­öf­fent­lich­tem Mate­ri­al, wie die Erneue­rungs­hoff­nun­gen sozia­li­sti­scher Schrift­stel­ler und Intel­lek­tu­el­ler auf par­tei­po­li­ti­sche Igno­ranz tra­fen. Auch hier beein­druckt die histo­ri­sche Ana­ly­se­fä­hig­keit, die die selbst­kri­ti­sche Befra­gung nicht scheut.

»Am Ran­de mit­ten­drin« (2021) unter­brei­tet Auto­bio­gra­phi­sches über Jah­re am Schreib­tisch und im wirk­li­chen Leben, über die auch für ihn schmerz­haf­ten Umbrü­che nach dem Über­gang zur ande­ren gesell­schaft­li­chen Ver­fas­sung. Der Titel ist eine tref­fen­de Selbstzuschreibung.

Von dem ihm eige­nen Humor und sei­ner Gesel­lig­keit zeu­gen die von ihm seit 2011 her­aus­ge­ge­be­nen »Unernste(n) Betrach­tun­gen zur lite­ra­ri­schen Klas­sik« (Hid­den­seer Goe­the-Gesell­schaft n. e. V.), die sich in mehr oder weni­ger ern­stem Ton mit den Klas­si­kern beschäf­ti­gen. Ein erfri­schen­der Lesestoff!

Möge wei­ter­hin pro­duk­ti­ve Zeit vor Dir lie­gen, lie­ber Dieter.