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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Europäische Verdrängung

Dass die Wahl zum Euro­päi­schen Par­la­ment am 26. Mai eine »Schick­sals­wahl« wer­den wür­de, war eine Rekla­me­lo­sung der sozi­al- und christ­de­mo­kra­ti­schen Par­tei­en der Mit­te, der Grü­nen und der Libe­ra­len sowie des ihnen gewo­ge­nen Teils der Medi­en. Es gehe um den Fort­be­stand der Euro­päi­schen Union.

Die aber stand in Wirk­lich­keit nie auf dem Spiel, wenn man sie als das nimmt, was sie ist: ein gemein­sa­mer Markt für Waren und Arbeits­kräf­te, ein­ge­bet­tet in welt­wei­te Kapitalmärkte.

Das ist die Basis. Im Über­bau ist zusätz­lich von libe­ra­len euro­päi­schen Wer­ten die Rede, die von rechts in Gefahr gebracht würden.

Beschrän­ken wir uns zunächst auf die öko­no­mi­sche Basis. Die Gefahr, dass die EU zer­bricht, bestand und besteht nicht. Auch die ras­si­stisch-natio­na­li­sti­schen Par­tei­en und Bewe­gun­gen (ober­fläch­lich als rechts­po­pu­li­stisch bezeich­net) wol­len dies – mit der Aus­nah­me von Groß­bri­tan­ni­en, wo der Brexit auch ein Pro­jekt eines Teils der Mit­te ist – ent­we­der expli­zit nicht, oder sie tun nur so als ob. Ihnen geht es ledig­lich um eine Macht­ver­la­ge­rung inner­halb eines von ihnen nicht in Fra­ge gestell­ten wirt­schaft­li­chen Rah­mens: Frei­zü­gig­keit für Waren, Kapi­tal und Arbeits­kräf­te inner­halb des Schen­gen-Raums ja, Libe­ra­li­tät nein. Ver­lie­ßen Polen und Ungarn die EU, stürz­ten Kac­zynskis PIS und Orbáns Fidesz ins Nichts: Sie ver­lö­ren von einem Tag auf den ande­ren ihre Mas­sen­ba­sis, weil die Trans­fer­zah­lun­gen aus Brüs­sel aus­blie­ben. Wie im Osten, so im Süden: In der grie­chi­schen Kri­se von 2015 war Schäub­le von Anfang an auf der siche­ren Sei­te, denn als die Gefahr bestand, dass an den Bank­au­to­ma­ten kei­ne Euro-Schei­ne mehr zu erhal­ten wären, wur­de die Gren­ze sicht­bar, die Tsi­pras und auch sei­ne natio­na­li­sti­schen Koali­ti­ons­part­ner nie­mals über­schrei­ten woll­ten. Sal­vi­ni in Ita­li­en braucht eben­falls die Euro­päi­sche Zen­tral­bank (EZB), und er sogar besonders.

Der Brexit wider­spricht die­ser Erklä­rung nicht, er bestä­tigt sie: Groß­bri­tan­ni­en ist EU-Net­to­zah­ler – das benut­zen Natio­na­li­sten als ihr Argu­ment und hal­lu­zi­nie­ren über­dies von neu­en wirt­schaft­li­chen Chan­cen durch eine Vita­li­sie­rung des Com­mon­wealth und einer enge­ren Zusam­men­ar­beit mit den USA. Man­che mögen den glo­ba­len Kapi­tal­han­del auf dem Finanz­platz Lon­don für wich­ti­ger hal­ten als etwa­ige zu erwar­ten­de Ein­bu­ßen auf dem euro­päi­schen Warenmarkt.

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Wahl(ver)zettelei

JEDE ANSICHT GRÜNDET EINE PARTEI

JEDER EXTREME IST GEFÜHLT DABEI

WÄHLER SIND VÖLLIG ZERSPLITTERT

POLITIK GEWISSE STABILITÄT WITTERT

IM ERGEBNIS ENTSTEHT KAKOPHONIE

DIE MAN ERKLÄRT ZUR DEMOKRATIE

MEHRHEITEN RATLOS UND VERWIRRT

KAPITAL BESTIMMT REGELN UNBEIRRT

ÄMTER SEHEN EINE WACHSENDE WUT

FUSSBALL SOLL RUHE GEBEN UND GUT!

Richard Jawu­rek

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Das öko­no­mi­sche Ske­lett der Euro­päi­schen Uni­on ist kei­nes­wegs nur ein Arran­ge­ment von Eli­ten, es hat auch eine Mas­sen­ba­sis. Hier kom­men tat­säch­lich die soge­nann­ten euro­päi­schen Wer­te ins Spiel – als Wider­spie­ge­lung eines lebens­welt­li­chen Ange­bots: Für jun­ge, gut aus­ge­bil­de­te Arbeits­kräf­te sind Rei­se- und Nie­der­las­sungs­frei­heit eine Chan­ce, bei Schüler(inne)n und Stu­die­ren­den ist die EU beliebt, das Aus­tausch­pro­gramm »Eras­mus« öff­net ihnen Hori­zon­te, und sie nut­zen es gern. Es gefie­le ihnen nicht, bei Aus­lands­auf­ent­hal­ten frem­den­feind­lich ange­macht zu wer­den, und sie sind auch zu Hau­se tole­rant. Wer in der einen oder ande­ren Wei­se nicht mit­hal­ten kann – nicht qua­li­fi­ziert genug, zu alt, zu arm, zu müde ist – steht sol­cher Libe­ra­li­tät mit Res­sen­ti­ments gegen­über, die sich in der Regel aber weni­ger gegen inner­eu­ro­päi­sche Migra­ti­on als gegen Geflüch­te­te aus Afri­ka und Asi­en (aber auch gegen Sin­ti und Roma aus der Slo­wa­kei und Rumä­ni­en) rich­ten. Hier haben die ras­si­stisch-natio­na­li­sti­schen Par­tei­en ihre Klientel.

Der Wahl­kampf ent­sprach die­sen Stim­mungs­la­gen. Ande­re The­men wur­den nur noch per Weich­zeich­ner sicht­bar. Die zuneh­men­de Ungleich­heit zwi­schen Reich und Arm wur­de in der For­de­rung von SPD und Links­par­tei nach einem »sozia­len Euro­pa« eher zart ange­deu­tet. Sie zog nicht, da die Vor­aus­set­zung für ihre Rea­li­sie­rung: eine steu­er- und abga­ben­po­li­ti­sche Umver­tei­lung von oben nach unten als macht­po­li­tisch unrea­li­stisch abge­tan war – sehr früh, 2013, schon, als der dama­li­ge Wirt­schafts­mi­ni­ster Gabri­el die gut durch­ge­rech­ne­ten Vor­schlä­ge des fran­zö­si­schen Öko­no­men abblit­zen ließ. Der Ver­such, sie in einer Mas­sen­be­we­gung wie­der­zu­be­le­ben – »Auf­ste­hen!« – floppte.

Ver­schwun­den war im Wahl­kampf die sich anbah­nen­de Mili­ta­ri­sie­rung der EU und die Auf­stockung des deut­schen Wehr­etats. Es gibt ICAN Deutsch­land – den deut­schen Zweig der Inter­na­tio­nal Cam­paign to Abo­lish Nuclear Wea­pons. Im Wahl­kampf konn­te sie sich kein Gehör ver­schaf­fen, denn es besteht die Hoff­nung, dass – anders als von der Frie­dens­be­we­gung 1979–1983 befürch­tet – die näch­sten Bom­ben nicht auf deut­sche Köp­fe fal­len werden.

Abschot­tung gegen Geflüch­te­te, Ertrin­ken­de im Mit­tel­meer: Man sah einen ekel­er­re­gen­den Wer­be­spot der Liste Die Grau­en und einen auf­klä­ren­den der Sati­re-Trup­pe Die Par­tei. (Schön, dass sie jetzt zwei Sit­ze hat.) Im Übri­gen war die­ses The­ma Mobi­li­sie­rungs­po­ten­ti­al für die ras­si­stisch-natio­na­li­sti­sche Rech­te. Die Fürsprecher(innen) des »Euro­pas der Wer­te« hat­ten her­aus­ge­fun­den, dass es im Wahl­kampf hier kei­nen Blu­men­topf zu gewin­nen gab, und hiel­ten sich vor­nehm zurück.

Die Ver­drän­gung die­ser drei vor­der­hand unlös­bar erschei­nen­den Pro­ble­me führ­te zur Pro­jek­ti­on und Beschrän­kung auf ein vier­tes, eben­so schwie­ri­ges: Kli­ma­schutz. Gut für die Grünen.

Erleich­te­rung und Ent­set­zen der Werte-Europer(innen) bei der Wahl­aus­wer­tung fie­len glei­cher­ma­ßen sub­al­tern aus. Links­par­tei, SPD und Uni­on über­le­gen, wie sie bei »Fri­days for Future« etwas für sich abgrei­fen kön­nen. Man freut sich dar­über, dass die Wahl­be­tei­li­gung gestie­gen ist und die AfD weni­ger zuge­nom­men hat, als sie selbst gehofft haben mag. Wich­ti­ger als Sach­the­men ist die Mut­ter aller Fra­gen: Wer wird Präsident(in) der Euro­päi­schen Kom­mis­si­on? Nor­mal­be­trieb eben.

Dabei hat eine ande­re Zukunft längst begonnen:

Wäh­rend die CDU ver­lor, hat die Orbán-nahe CSU zuge­legt. In Bran­den­burg und Sach­sen – da wird im Sep­tem­ber über die neu­en Land­ta­ge ent­schie­den – erhielt die AfD die mei­sten Stim­men. Im Ver­gleich zu dem, was da kommt, dürf­te die Wahl zum Euro­päi­schen Par­la­ment eher wie ein bana­les Event erscheinen.