Vor reichlich 300 Jahren begann der 1663 geborene Theologe und Pädagoge August Hermann Francke unter bescheidensten Umständen mit der Errichtung der nach ihm benannten Anstalten, gelegen in der südwestlich an die alten Stadtmauern von Halle angrenzenden Gemeinde Glaucha. Diese Anstalten prosperierten zu den weltbekannten Franckeschen Stiftungen. Aus der ursprünglichen, christlich inspirierten Intention Franckes, vor allem armen, verwahrlosten und Waisenkindern ein Dach über ihren Köpfen, medizinische Fürsorge und Schulbildung zu ermöglichen, entwickelte sich alsbald ein großes, zusammenhängendes und nahezu autarkes Gemeinwesen. Darin fanden und finden sich vereinigt vor allem theologische, medizinische und pädagogische Einrichtungen zusammen mit dem, was heute als Infrastruktur bezeichnet wird. Die Symbiose von pietistischer Religiosität, Karitas, Tatkraft und Geschäftstüchtigkeit hat das Ganze über Jahrhunderte hinweg erfolgreich tragen können.
Das 1698 bis 1700 errichtete Hauptgebäude – jetzt als Kunst- und Naturalienkammer sowie für Veranstaltungen genutzt – beherbergte ursprünglich das Waisenhaus und eine Apotheke. Dahinter erstreckt sich in östlicher Richtung ein mehrere Hektar großes Areal mit meist mehrstöckigen, langgestreckten Fachwerkbauten und diversen Funktionsgebäuden. In diesen Gebäuden waren vor allem Kranken- und Pflegestationen, Internate, Schulen für mittellose Kinder, Speise- und Betsäle sowie Werkstätten untergebracht. Ein Grundriss aus dem Jahr 1742 verzeichnet ferner eine Bibliothek, eine Druckerei, ein Pädagogium für bürgerliche und adlige Kinder, Gartenanlagen, einen Weinberg, und – etwas versteckt – chemische Laboratorien. Heutzutage befinden sich auf dem Stiftungsgelände Einrichtungen der Theologischen und der Philosophischen Fakultät der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg, Schulen und ein Gymnasium, ferner zahlreiche soziale, gewerbliche und christliche Institutionen.
Die Franckeschen Stiftungen haben nun zu einer Jahresausstellung »Heilen an Leib und Seele«, Medizin und Hygiene im 18. Jahrhundert, eingeladen.
Um es kurz zu sagen: Es handelt sich um eine ausgezeichnete Präsentation, die beim Besucher einen tiefen Eindruck von der Entschlossenheit, der Willenskraft und den Leistungen Franckes, seiner Adepten, seiner Kollegen und der Nachfolger hinterlässt. Die Präsentation ist im Hauptgebäude untergebracht. Rechts davon befindet sich das ehemalige Wohnhaus Franckes mit dem Informationszentrum.
Der Besucher kann sich zunächst ein Bild vom Medizinverständnis der vormaligen Akteure verschaffen, das vom beschränkten Wissensstand jener Zeit, von kontroversen Auffassungen maßgeblicher Zeitgenossen und von Überlieferungen geprägt war. So stand der Lehre des Aristoteles vom fragilen Gleichgewicht der Körpersäfte der mechanistische Ansatz, der den menschlichen Körper quasi als Maschinenhaus verstehen wollte, gegenüber. In der nächsten Abteilung geht es um die pie-tistische Medizin, in deren Kanon die Einheit von Körper und Seele des Menschen und seine Hinwendung zu Gott im Mittelpunkt stand. Es folgen danach fünf Kabinette, die den Themen »Wasser und Hygiene« im halleschen Waisenhaus, »Gesundheitstopographie«, Struktur und Funktion der medizinischen Einrichtungen in den Stiftungen und deren Zusammenwirken mit der Universität Halle, sowie der Waisenhaus-Apotheke und der Medikamenten-Expedition gewidmet sind. Der Besucher kann zahlreiche, selten gezeigte historische Exponate, beispielsweise anatomische Präparate, medizinhistorische Schriften, Rezepturen für Arzneien und Kräftigungsmittel, ärztliches Instrumentarium, heilpraktische Apparate und Werkzeuge bewundern. So erfährt man auch, wie aus einem dicken Baumstamm ein Wasserrohr zum Bau der Versorgungsleitungen für die Stiftungen gefertigt wurde.
Der speziell pharmazie- und chemiehistorisch interessierte Besucher findet zur Geschichte der Waisenhaus-Apotheke und vor allem über die legendäre »Medicamenten-Expedition« anregende Informationen. Dieses erstaunliche Pharmazieunternehmen würde man in unserer Zeit als international aktive online-Versandapotheke mit eigener Galenik bezeichnen. Die Expedition unterstand einem separaten Direktorium, hatte eigene Laboratorien, Wissenschaftler, Arbeiter, Expedienten und Buchhalter. Ein intelligentes Portfoliomanagement für Heil-, Arznei- und Stärkungsmittel, streng geheime Rezepturen, kompetente Helfer, professionelles Marketing sowie ein weltweites, von den pietistischen Missionaren unterstütztes Vertriebsnetz, trugen mehr als einhundert Jahre lang wesentlich zur finanziellen Sicherung der Stiftungen bei. Der Verkaufsschlager war eine der alchemistischen Überlieferung entlehnte rote Goldtinktur, die unter der Bezeichnung »Essentia dulcis« als gegen beinahe jede Krankheit wirksames Arkanum reißenden Absatz fand. Die tüchtigen Waisenhausforscher haben natürlich nicht ahnen können, dass Goldtinkturen 300 Jahre später beispielsweise für die Herstellung von Coronavirus-Test-Kits eine segensreiche Anwendung finden würden.
Wie in diesem Beispiel dargestellt, bietet die Ausstellung viele Ansatzpunkte, um sich ein Bild davon zu verschaffen, was damals Überzeugung, Glaube und Durchsetzungskraft mit bescheidenen Mitteln für das Wohl von Körper und Geist bewirken konnten.
Die Ausstellung ist bis zum 13.10.2021 geöffnet (infozentrum@francke-halle.de). Ein Begleitheft ist verfügbar. Der sehr gut ausgestattete Katalog (Hrsg. H. Zaunstöck, T. Grunewald) umfasst 215 Abbildungen und 6 Diagramme. 328 S., 28 €.