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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Lützerath und die Ukraine

Ein Besuch in Lüt­zer­ath, am Ran­de von Garz­wei­ler II, ver­än­dert die poli­ti­sche Per­spek­ti­ve. Wer nicht nur die Ent­schei­dung der Bun­des­re­gie­rung zum Koh­le­aus­stieg und Lüt­zer­aths Todes­ur­teil, son­dern das Dorf und sei­ne neu­en Bewoh­ne­rIn­nen ernst nimmt, dem däm­mert, dass die Fokus­sie­rung der frie­dens­po­li­ti­schen Dis­kus­sio­nen auf den Krieg in der Ukrai­ne, auf sei­ne Ursa­chen und sei­ne Fol­gen, ande­re exi­sten­zi­ell beäng­sti­gen­de Ereig­nis­se und Ent­wick­lun­gen ver­drängt, mit einem dop­pelt pro­ble­ma­ti­schen Effekt: Erstens wird die Gefahr, die von den poli­ti­schen Ent­schei­dun­gen in Deutsch­land und in Euro­pa aus­geht, unter­schätzt, zwei­tens fin­det der unbeug­sa­me Wider­stand der­je­ni­gen, die begrif­fen haben, wel­che Akzen­te gesetzt wer­den müs­sen, um unser Über­le­ben zu sichern, kei­ne ange­mes­se­ne Aufmerksamkeit.

Am Tage­bau Garz­wei­ler II, 5 km Luft­li­nie von mei­nem Zuhau­se ent­fernt, wird ein so wich­ti­ger wie aus­sichts­lo­ser Kampf geführt: Jun­ge Men­schen ver­tei­di­gen unser aller Zukunft und wer­den dem­nächst mit Poli­zei­ge­walt ver­trie­ben wer­den. So not­wen­dig Appel­le, Kon­fe­ren­zen, Dis­kus­sio­nen usw. zu Bom­bar­die­run­gen, Waf­fen­lie­fe­run­gen und Atom­kriegs­be­fürch­tun­gen sind, die an ihnen Betei­lig­ten soll­ten nicht aus dem Blick ver­lie­ren, was am Tage­bau geschieht: Die Akti­ven dort brin­gen in den glo­ba­len Fokus, dass nicht pri­mär der Krieg in der Ukrai­ne, son­dern der dro­hen­de Kli­ma­kol­laps das ulti­ma­ti­ve Desa­ster für die Mensch­heit ist.

Auch wenn der mög­li­che Ein­satz von Atom­waf­fen uns um unse­re Zukunft ban­gen las­sen mag, ist es fahr­läs­sig, die ver­häng­nis­voll­sten Kon­se­quen­zen der mili­tä­ri­schen Ope­ra­tio­nen in der Ukrai­ne aus­zu­blen­den: Sie hei­zen die kli­ma­ti­sche Apo­ka­lyp­se wie ein Brand­be­schleu­ni­ger an, gleich drei­fach, denn

–   die ein­ge­setz­ten Waf­fen­sy­ste­me und die Ver­nich­tung von infra­struk­tu­rel­ler Sub­stanz in der Ukrai­ne haben gra­vie­ren­de Umwelt­zer­stö­run­gen zur Fol­ge, sie füh­ren zu schwer­sten Klimabelastungen;

–   der angeb­lich zwangs­läu­fi­ge, in Wirk­lich­keit aber sinn­lo­se Wirt­schafts­krieg, den »der Westen« begon­nen hat, mün­det in einer Ver­län­ge­rung der Nut­zung fos­si­ler Ener­gie­trä­ger, die von allen – IPCC, Club of Rome und Tau­sen­den Wis­sen­schaft­le­rIn­nen – abge­lehnt wird, weil sie die als uner­läss­lich ange­se­he­nen not­wen­di­gen sofor­ti­gen Schrit­te zu deren Redu­zie­rung mit irrepa­ra­blen Fol­gen für die Erd­er­wär­mung ausbremst;

–   die unbe­zwei­fel­ba­re und unwi­der­leg­ba­re Not­wen­dig­keit, dass alle glo­ba­len Akteu­rIn­nen gemein­sam gegen die dro­hen­de Kli­ma­ka­ta­stro­phe syste­ma­tisch vor­ge­hen, um der Mensch­heit ein Über­le­ben zu sichern, wird dem angeb­li­chen Zwang, Russ­land rui­nie­ren zu müs­sen und des­halb nur noch die Waf­fen und kei­ne Diplo­ma­tie mehr spre­chen zu las­sen, auf fahr­läs­si­ge und selbst­zer­stö­re­ri­sche Wei­se geopfert.

Die­se kli­ma­schä­di­gen­den Begleit­erschei­nun­gen des Krie­ges spie­len in den poli­ti­schen Debat­ten eine unter­ge­ord­ne­te Rol­le. Die Fol­gen die­ser Blick­ver­en­gung spü­ren nicht nur die über­wie­gend jun­gen Kli­ma-Kämp­fe­rIn­nen, son­dern wir alle, denn sie gibt indi­rekt den poli­ti­schen Hasar­deu­ren, den welt­weit agie­ren­den fos­si­len Kon­zer­nen und, last not least, den aus ihnen hor­ren­de Pro­fi­te zie­hen­den Finanz­in­ve­sto­rIn­nen grü­nes Licht für die defi­ni­ti­ve Zer­stö­rung der glo­ba­len Bedin­gun­gen für mensch­li­ches Leben.

Zwei Bei­trä­ge aus der Rhei­ni­schen Post zu Lüt­zer­ath und einer aus der taz zur Wider­stands­grup­pe »Die letz­te Gene­ra­ti­on«, alle in der 42. Woche die­ses Jah­res erschie­nen, könn­ten als Weck­ruf für das Rin­gen um die Zukunft die­nen. Eine der jun­gen Akti­vi­stIn­nen, Ama­ka Baum, weiß, wovon sie spricht: »Ihr Zuhau­se, das ist ein Haus, hoch oben in den Wip­feln eini­ger Bäu­me, die sie Lüt­zi­wald nennt. Und ihr Zuhau­se, das ist der Pla­net Erde. Ver­schwin­det das eine Zuhau­se, ist das ande­re kaum noch zu ret­ten, sagt sie.« Wer in Lüt­zer­ath die­ses end­los erschei­nen­de Bag­ger­loch auf sich wir­ken lässt und die Mah­nun­gen der Wis­sen­schaft­le­rIn­nen und selbst des UNO-Gene­ral­se­kre­tärs prä­sent hat, weiß, dass die­se ein­fa­chen Wor­te auf den Punkt brin­gen, was die Mensch­heit bedrängt: Der Kli­ma­kol­laps steht nicht vor der Tür, er hat die Schwel­le längst über­schrit­ten. Wer an die­ser Tat­sa­che noch zwei­felt, soll­te nach Ober­hau­sen in das dor­ti­ge Gaso­me­ter fah­ren, in dem die Aus­stel­lung »Das zer­brech­li­che Para­dies« (bis Novem­ber 2023 ver­län­gert) in ein­drucks­vol­ler und bewe­gen­der Wei­se ins Bild setzt, wel­ches über­wäl­ti­gen­de Para­dies der Glo­bus für uns ist und in wel­chem Aus­maß wir Men­schen es schon zer­stört haben.

Wäh­rend die frie­dens­po­li­ti­sche Orche­strie­rung ver­sucht, sich über kriegs­ver­schär­fen­de Waf­fen­lie­fe­run­gen, ver­elen­den­de Sank­tio­nen und not­wen­di­ge Ver­hand­lun­gen abzu­stim­men, füh­ren die Teens und Twens von »Ende Gelän­de«, »Extinc­tion Rebel­li­on« und »Die letz­te Gene­ra­ti­on« ihren Eltern und Groß­el­tern vor Augen, was sie als nötig erach­ten: Den lau­fen­den Betrieb der poli­ti­schen Selbst­er­mäch­ti­gung zum Krieg­füh­ren, die öko­no­mi­sche Pro­fi­t­op­ti­mie­rung und die öko­lo­gi­schen Zer­stö­rungs­pro­zes­se zu stop­pen, nicht nur mit Wor­ten, son­dern auch mit Taten. Die jun­gen Wider­stands­kämp­fe­rIn­nen schen­ken kei­ner Phra­se, kei­ner Flos­kel, kei­nem Euphe­mis­mus mehr Glau­ben. Egal, ob sie auf Bag­ger klet­tern, ihre Hän­de auf vier­spu­ri­gen Stra­ßen fest­kle­ben oder Kreu­zun­gen von Stadt­au­to­bah­nen blockie­ren: Wor­te brem­sen das poli­tisch-öko­no­mi­sche Kar­tell mit sei­ner krie­ge­ri­schen Dyna­mik gegen Men­schen und gegen die Natur schon lan­ge nicht mehr, son­dern Hand­lun­gen, die es spür­bar irri­tie­ren, sind not­wen­dig. Hin­ter ihrem Akti­ons­fun­dus wird eine histo­ri­sche Logik erkenn­bar, die selbst den »Lin­ken« unter den frie­dens­po­li­ti­schen Akti­ven ver­lo­ren gegan­gen zu sein scheint: »Wenn Dein star­ker Arm es will, ste­hen alle Räder still.« So pla­ka­tiv und sim­pel die­ser kur­ze Satz, so tief und nach­hal­tig sei­ne Wir­kung, und dass einst­mals Gewerk­schaf­ten ihn zur Paro­le gemacht hat­ten, weil sie ihre Stär­ke kann­ten, wis­sen die Jun­gen wahr­schein­lich nicht, aber ihr Fee­ling, ihre Ahnung, ihre Resi­li­enz in Bezug auf die herr­schen­den, ten­den­zi­ell alles Leben­di­ge ver­nich­ten­den neo-libe­ra­len Ver­hält­nis­se lässt sie die rich­ti­gen, weil ange­mes­se­nen Kon­se­quen­zen aus ihren Erfah­run­gen und ihren Sor­gen um ihre – und unse­re – Zukunft ziehen.

Mit ihren wider­stän­di­gen Akti­vi­tä­ten drän­gen die jun­gen Frau­en und Män­ner ihrer Eltern­ge­nera­ti­on Fra­gen auf: Ob es für not­wen­di­ge poli­ti­sche Ver­än­de­run­gen reicht, wort­reich zu inter­ve­nie­ren und hier und da mal auf der Stra­ße zu pro­te­stie­ren, aber im Übri­gen ihren gewohn­ten, also kolo­nia­li­stisch unter­füt­ter­ten All­tag und ihren in der Regel gut bezahl­ten Job als Bei­trag zum wei­ter­hin rei­bungs­lo­sen Funk­tio­nie­ren des gesell­schaft­li­chen Sta­tus quo zu leben. Wann, wenn nicht jetzt, ange­sichts der Bedro­hung unse­rer und der Zukunft unse­rer Kin­der, hät­te es je ange­mes­se­ne­re Grün­de für kom­pro­miss­lo­se Hand­lungs­op­tio­nen gegeben?

Nicht nur Hoff­nungs­trä­ge­rIn­nen für die Zukunft, son­dern auch prak­ti­sche Impuls­ge­ber sind die jun­gen Wider­stands­kämp­fe­rIn­nen gewor­den. An ihre Aktio­nen könn­ten frie­dens­po­li­ti­sche und gesell­schafts­kri­ti­sche Akti­vi­tä­ten andocken. Wo sie sich bemerk­bar machen, wo sie »wider den Sta­chel löcken«, wo sie nach­drück­lich demon­strie­ren, dass sie nicht zulas­sen wol­len, um ihre Zukunft betro­gen zu wer­den, wäre mas­sen­haf­te Unter­stüt­zung gefragt: Nicht nur 20jährige, son­dern auch Men­schen ihrer Eltern- und Groß­el­tern­ge­nera­ti­on, die bis heu­te die Kli­ma­ka­ta­stro­phe mit­zu­ver­ant­wor­ten haben, könn­ten sich auf Stra­ßen set­zen, Werks­to­re von Rhein­me­tall blockie­ren, Auto­bah­nen still­le­gen, mas­sen­haft schwarz mit dem ÖPNV fah­ren, bis das 9-Euro-Ticket zur Regel gewor­den ist. Der Fan­ta­sie sind kei­ne Gren­zen gesetzt, um die Bot­schaft zu ver­brei­ten: Wir wol­len kei­ne Gesell­schaft mehr, in der die Rei­chen auf Kosten der Armen immer rei­cher wer­den; in der Ener­gie­kon­zer­ne jahr­zehn­te­lang Mil­li­ar­den­ge­win­ne ein­ge­fah­ren haben, zu Lasten der Men­schen, die jetzt durch mil­li­ar­den­schwe­re Ent­schä­di­gun­gen für die Pro­fi­teu­re aus Steu­er­gel­dern noch ver­höhnt wer­den; in der mit Kriegs­rhe­to­rik der Aus­bau fos­si­ler Ener­gie­trä­ger selbst­mör­de­risch gerecht­fer­tigt wird; in der zum Nach­teil der Men­schen welt­weit immer mehr Waf­fen auch diplo­ma­ti­sche und zivi­le Kon­flikt­lö­sun­gen ver­nich­ten; in der die Bereit­schaft der poli­tisch Ver­ant­wort­li­chen zu immer mehr Krie­gen gegen Men­schen und gegen die Natur zur Regel gewor­den ist.

Auf nach Lüt­zer­ath, so müss­te die Paro­le der Frie­dens­be­we­gung lau­ten. In Lüt­zer­ath selbst fehlt der Platz für – sagen wir mal - fünf­zig­tau­send Men­schen, aber in Erkel­enz, dem Haupt­ort, könn­te die näch­ste spek­ta­ku­lä­re Akti­on statt­fin­den: Gegen den sank­ti­ons­ge­la­de­nen, den kli­ma­zer­stö­ren­den Krieg in der Ukrai­ne. Und von dort wäre pro­blem­los eini­ge Kilo­me­ter an den Tage­bau und dann nach Lüt­zer­ath zu wan­dern, um den Akti­vi­stin­nen Soli­da­ri­tät zu bekun­den – und Dank­bar­keit, dass sie mit ihrer Aus­dau­er und Hart­näckig­keit, mit ihrer kli­ma- und gesell­schafts­po­li­ti­schen Klar­heit und Kon­se­quenz, ihren Eltern und Groß­el­tern end­lich die Augen geöff­net haben, wie sie die Gesell­schaft, in der sie leben, ver­än­dern, deren heuch­le­ri­sche und ver­lo­ge­ne Prot­ago­ni­stIn­nen ver­trei­ben und die Not­wen­dig­kei­ten, alle Krie­ge sofort zu been­den, prak­tisch umset­zen könnten.

Auch der Krieg in der Ukrai­ne ent­schei­det sich nicht auf dem dor­ti­gen Schlacht­feld, son­dern in Lüt­zer­ath. Was erst ein­mal ver­rückt klingt, macht, zukunfts­la­stig betrach­tet, Sinn: Die jun­gen Akti­vi­stIn­nen wis­sen, dass jede abge­bag­ger­te Ton­ne Koh­le zwei zu viel sind, dass jeder Kubik­me­ter Frack­ing­gas den Mee­res­spie­gel stei­gen lässt, dass jeder neue Auto­bahn­ki­lo­me­ter schnel­ler in den kli­ma­ti­schen Abgrund führt. Der poli­tisch-öko­no­mi­sche Ter­ror gegen die kli­ma­schüt­zen­den Bewoh­ne­rIn­nen eines klei­nen Dor­fes am Nie­der­rhein ist zum Sym­bol für den Ver­such gewor­den, das men­schen- und kli­ma­feind­li­che neo-libe­ra­le Gesell­schafts­mo­dell über Frei­heit und Gerech­tig­keit für alle Men­schen tri­um­phie­ren zu las­sen. Der Wider­stand gegen ihn vor Ort ver­mit­telt eine pla­sti­sche Vor­stel­lung davon, dass krie­ge­ri­sche Lösun­gen der Kon­flik­te zwi­schen mensch­li­chen Bedürf­nis­sen und Pro­fit­in­ter­es­sen die Exi­stenz aller Men­schen bedro­hen. Die­se Wahr­heit ist in den jun­gen Men­schen der ver­schie­de­nen Wider­stands­be­we­gun­gen tief ver­wur­zelt, sie gibt ihnen die Kraft, aus­zu­har­ren, sich nicht ver­schrecken zu las­sen. Begeg­nun­gen mit ihnen an der Lüt­zer­a­ther Abbruch­kan­te und Blicke in die­ses unvor­stell­bar erschüt­tern­de Bag­ger­loch könn­ten im eige­nen Den­ken, Füh­len und Han­deln wider­stän­di­ge Impul­se auslösen.