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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Harte Zeiten

Am 10. Janu­ar 1937 notier­te Vic­tor Klem­pe­rer in sei­nem Tage­buch: »Viel­leicht kommt der Krieg, der alle Tage näher droht.« Klem­pe­rer dach­te dabei an eine mög­li­che Aus­wei­tung des Spa­ni­schen Bür­ger­kriegs, in dem Deutsch­land an der Sei­te ita­lie­ni­scher und spa­ni­scher Faschi­sten Kriegs­par­tei war. Er dach­te an das »Raub­tier­ge­schrei nach Kolo­nien«, an das Toben gegen »Ruß­land-Juda« und an den deutsch-pol­ni­schen Kon­flikt um Dan­zig, das for­mell ein Frei­staat war, sich jedoch immer mehr als Teil Deutsch­lands sah. Doch der Krieg kam 1937 nicht, und die Dan­zi­ger Bevöl­ke­rung konn­te erst 1939 »heim ins Reich«.

Das Jahr 1937 war, poli­tisch gese­hen, so etwas wie die Ruhe vor dem Sturm. Deutsch­land hat­te im Vor­jahr mit der Aus­rich­tung der Olym­pia­de in Ber­lin um inter­na­tio­na­le Aner­ken­nung gebuhlt, jetzt mach­te Mus­so­li­ni sei­nen Antritts­be­such. Unüber­seh­bar war, wie Deutsch­land sich in den vier Hit­ler-Jah­ren ver­än­dert hat­te. Die Natio­nal­so­zia­li­sten hat­ten ihre Macht kon­so­li­diert. Die Bevöl­ke­rung hat­te sich weit­ge­hend den neu­en Gege­ben­hei­ten ange­passt, sie mit hoch­er­ho­be­ner rech­ter Hand will­kom­men gehei­ßen, und absol­vier­te unter Anwei­sun­gen von Haus- und Block­war­ten eif­rig Luftschutzübungen.

Die­ses Jahr 1937 ist Hand­lungs­zeit­raum von Trans­at­lan­tik, dem im Okto­ber erschie­ne­nen neun­ten Band der Gere­on-Rath-Roma­ne von Vol­ker Kut­scher, dem vor­letz­ten der auf zehn Bücher ange­leg­ten Rei­he. Die Bän­de 1 und 2 haben die lite­ra­ri­sche Vor­la­ge für das TV-Ereig­nis »Baby­lon Ber­lin« gelie­fert. Erneut ist Kut­scher ein Page­tur­ner gelun­gen: sau­ber recher­chiert, mit genau­em Blick auf das patho­lo­gi­sche Ver­hal­ten der Deut­schen, vol­ler über­ra­schen­der Wen­dun­gen. Drei Aben­de habe ich für die 588 Sei­ten gebraucht, dann war ich mit dem äußerst span­nen­den Buch durch.

Prot­ago­nist des Ban­des ist dies­mal jedoch nicht wie bis­her Kom­mis­sar Gere­on Rath, die Haupt­rol­le fiel an sei­ne Ehe­frau Char­lot­te, genannt Char­lie. Gere­on muss­te unter­tau­chen, ver­folgt von den Spür­hun­den der SS und des SD, die nicht wahr­ha­ben wol­len, dass die offi­zi­el­le Todes­nach­richt kor­rekt ist. Eigent­lich hat­te Char­lot­te Rath schon mit fal­schem Pass Deutsch­land ver­las­sen, doch dann muss­te sie aus Prag zurück nach Ber­lin. Ihr ehe­ma­li­ger Pfle­ge­sohn war in die geschlos­se­ne Abtei­lung einer Ner­ven­heil­an­stalt ein­ge­wie­sen wor­den, weil er zu viel wuss­te über einen Mord, in den die SS ver­wickelt war: ein Hand­lungs­strang aus Band 8. Char­lie beginnt vor Gericht den Kampf um sei­ne Frei­las­sung. Und neben der Unge­wiss­heit über das Schick­sal ihres Man­nes treibt sie noch die Sor­ge um ihre beste Freun­din Gre­ta um, die ver­schwun­den und unter Mord­ver­dacht gera­ten ist. Char­lie, die bei der Kri­mi­nal­po­li­zei Abschied neh­men muss­te, da Frau­en dort neu­er­dings nicht mehr gedul­det sind, beginnt zu ermit­teln und gerät dadurch selbst in Lebensgefahr.

Die Span­nung in dem Buch rührt auch daher, dass Kut­scher in dem Vor­gän­ger-Band Olym­pia zahl­rei­che lose Enden hin­ter­las­sen hat. Hier setzt Trans­at­lan­tik naht­los an. Im Mit­tel­punkt des stärk­sten offe­nen Hand­lungs­strangs steht Gere­on Rath per­sön­lich. Rath ist nach sei­ner Flucht aus Ber­lin in Wies­ba­den unter­ge­taucht, arbei­tet für einen Win­zer als Aus­lie­fe­rer und hat kei­nen Kon­takt zu sei­ner Frau Char­lot­te. Als sei­ne Tar­nung auf­fliegt, muss er erneut flie­hen. Mit Hil­fe einer Kom­pli­zin schafft er es an Bord des Luft­schiffs LZ 129, der »Hin­den­burg«. Der Zep­pe­lin explo­diert bei der Lan­dung in Lakehurst/​USA und wird durch das Feu­er zer­stört, so dass »man kaum glau­ben konn­te, irgend­je­mand von den Pas­sa­gie­ren oder der Mann­schaft könn­te ent­rin­nen«. Mit die­sem Cliff­han­ger hat­te der ach­te Band geen­det. Ich habe es vor zwei Jah­ren in Ossietzky beschrie­ben (23/​2020).

Auch dies­mal treibt die Hand­lung ful­mi­nant den dra­ma­ti­schen Kon­fron­ta­tio­nen ent­ge­gen, dies­seits und jen­seits des Atlan­tiks, wo Gere­on Rath, der den Absturz über­lebt hat, nach der Gesun­dung als Post­bo­te arbei­tet. Doch die Ver­gan­gen­heit holt ihn ein. Der ehe­ma­li­ge SS-Grup­pen­füh­rer und heim­li­che Gang­ster­boss von Ber­lin, Mar­low (sie­he den gleich­na­mi­gen Band 7 der Rei­he), in des­sen zwie­lich­ti­ge Gesell­schaft Rath in Ber­lin gera­ten war, ist inzwi­schen in den USA eine Grö­ße im Hero­in-Geschäft. Er trach­tet Rath und auch Char­lie im fer­nen Ber­lin nach dem Leben, will Rache für den Tod sei­nes Soh­nes, für den er den frü­he­ren Kom­mis­sar ver­ant­wort­lich macht – noch ein loser Strang aus Band 8. Über­haupt ist Rache ein zen­tra­les Hand­lungs­mo­tiv ver­schie­de­ner Akteu­re. Und auch dies­mal kommt es, wie schon in Band 8, Olym­pia, zu Situa­tio­nen, in denen eigent­lich »nichts mehr geht«, die aber von Kut­scher schlüs­sig auf­ge­löst wer­den. Daher ist mei­ne Emp­feh­lung die glei­che wie vor zwei Jah­ren: Machen Sie sich ein paar span­nen­de Stun­den, lesen Sie die­ses Buch. Und als Zuga­be erhal­ten sie en pas­sant eine gehö­ri­ge Por­ti­on Zeit­ge­schich­te und Zeitkolorit.

 Vol­ker Kut­scher: Trans­at­lan­tik, Piper Ver­lag, Mün­chen 2022, 588 S., 26 €.