Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Musik, Dichtung und Kampf

Wer das Glück hat­te, dem Kom­po­ni­sten, Dich­ter und poli­tisch enga­gier­ten Mikis Theod­ora­kis zu begeg­nen, spür­te sei­ne Men­schen­freund­lich­keit, sei­ne Gesprächs­be­reit­schaft, sei­ne Herz­lich­keit, emp­fand die gro­ße Aura die­ses Mannes.

Theod­ora­kis wird 1925 gebo­ren. 14 Jah­re ist er alt, als der Zwei­te Welt­krieg, 21 Jah­re als der grie­chi­sche Bür­ger­krieg beginnt, an des­sen Ende er als Par­ti­san gegen deut­sche und eng­li­sche Besat­zer kämpft. Man wirft ihn in Gefäng­nis­se, bringt ihn in Ver­ban­nungs­la­ger nach Ika­ria und Makro­ni­sos. Hier notiert er auf ihm heim­lich zuge­steck­tem Papier Auf­zeich­nun­gen für sei­ne erste Sin­fo­nie. Vor­über­ge­hend frei­ge­las­sen, schreibt er sei­ne 11 Prä­lu­di­en für Kla­vier. In einem mei­ner Athe­ner Gesprä­che fra­ge ich ihn, war­um er nicht 12 Prä­lu­di­en wie Bach, Cho­pin oder Schost­a­ko­witsch kom­po­niert habe. Er ent­geg­net: »Die Ant­wort ist ein­fach, nach dem 11. Prä­lu­di­um wur­de ich ver­haf­tet.« Die »Wun­de Makro­ni­sos« ver­heilt in der grie­chi­schen Gesell­schaft nur lang­sam und reißt 1967 mit dem Putsch der Mili­tär­jun­ta wie­der auf. Theod­ora­kis ruft sofort zum Wider­stand auf und kämpft im Unter­grund gegen die Mili­tär­dik­ta­tur. Er kom­po­niert die »Lie­der des Kamp­fes«, wird ver­folgt, gefasst und wie­der ein­ge­ker­kert. Sart­re, Schost­a­ko­witsch, Des­sau, Hen­ze, Costa-Gav­ras, Bela­fon­te u.a. errei­chen mit ihren Auf­ru­fen, dass Theod­ora­kis 1970 Zuflucht im Pari­ser Exil fin­det. 1971 besucht er, auf Ein­la­dung des chi­le­ni­schen Prä­si­den­ten Allen­de, Chi­le. Nach sei­ner Rück­kehr kom­po­niert Theod­ora­kis meh­re­re Tei­le von »Can­to gene­ral« und stellt dem Dich­ter Pablo Neru­da, der als Bot­schaf­ter der Allen­de-Regie­rung in Frank­reich arbei­tet, zusam­men mit Maria Faran­tou­ri und Petros Pan­dis, die eben­falls im Pari­ser Exil leben, die ersten Tei­le des begon­ne­nen Ora­to­ri­ums vor.

In Lagern und Gefäng­nis­sen lernt Theod­ora­kis von Mit­häft­lin­gen die demo­ti­sche und lai­zi­sti­sche Musik ken­nen, die Volks­mu­sik des Lan­des und der Städ­te, und den Rem­be­ti­ko mit sei­nen damals in der herr­schen­den Schicht ver­pön­ten Instru­men­ten, der Buzu­ki und der Bag­la­ma, der klei­nen Buzu­ki. In dem 1956 kom­po­nier­ten Lie­der­zy­klus »Epi­ta­fi­os« instru­men­tiert Theod­ora­kis sei­ne Lie­der mit die­sen Instru­men­ten, was in Grie­chen­land Pro­te­ste und eine star­ke Ableh­nung sei­tens der dort Herr­schen­den her­vor­ruft. Zu die­ser Zeit stu­diert Theod­ora­kis nach sei­nem Kom­po­si­ti­ons­stu­di­um in Athen in Paris zum zwei­ten Mal Kom­po­si­ti­on. Und er nimmt in Mos­kau an einem Kom­po­ni­sten­wett­be­werb teil, in dem ihm eine mit Hanns Eis­ler, Dari­us Mil­haud und Dmit­ri Schost­a­ko­witsch besetz­te Jury die Gold­me­dail­le zuspricht.

Der so aus­ge­zeich­ne­te Theod­ora­kis sucht nun ent­schie­den den Dia­log mit den Men­schen, wünscht die soge­nann­te rei­ne Musik zu ent­ideo­lo­gi­sie­ren. Er ver­langt von Medi­en und Kul­tur­in­sti­tu­tio­nen, den Künst­ler nicht vom rea­len Leben fern­zu­hal­ten und auf jeden Star­kult zu ver­zich­ten. Und er sucht die Wur­zeln der grie­chi­schen Musik­kul­tur, deren Iden­ti­tät nach fast 400 Jah­ren osma­ni­scher Beset­zung erst wie­der her­ge­stellt wer­den muss. Als Ergeb­nis kre­iert Theod­ora­kis das »künst­le­ri­sche Volks­lied« als eine neue Musik­gat­tung, in der er gro­ße Poe­sie mit schlich­ter Kom­po­si­ti­ons­tech­nik ver­bin­det. Über 1000 Lie­der ent­ste­hen im Lau­fe sei­nes Lebens, Lie­der, die den Men­schen in ihrem Schmerz und in ihrer Trau­er, ver­ur­sacht durch gesell­schaft­li­ches Unrecht, hel­fen und sie in ihrem Drang nach Frei­heit beflü­geln. In ihnen fin­den sie sich wie­der. Sie, die oft­mals nicht das Glück hat­ten, Bil­dung zu erlan­gen, sin­gen plötz­lich gro­ße Lite­ra­tur, ohne zu wis­sen, wer die Lied­tex­te gedich­tet hat. Durch sie wer­den die Men­schen stär­ker und rei­cher. Sie sin­gen Theod­ora­kis Lie­der auf der Stra­ße, in Taver­nen und Konzertsälen.

Wäh­rend mei­ner Kla­vier­aben­de in Athen, Niko­sia, Limassol, und Cha­nia, mit Wer­ken von Beet­ho­ven und Theod­ora­kis, sum­men die Zuhö­rer bei den vor­ge­tra­ge­nen Bear­bei­tun­gen von Theod­ora­kis die Melo­dien mit. Ihnen gehö­ren die­se Lie­der, in all ihrer Aus­drucks­stär­ke und Schön­heit. »Der gro­ße Wert der Kunst«, schreibt Theod­ora­kis in sei­nem Essay »Für eine Kunst im Dien­ste des Fort­schritts«, »besteht gera­de dar­in, dass sie die Schön­heit des Lebens deut­lich macht und den Men­schen lehrt, das Schö­ne auf­zu­neh­men, den Sinn sei­nes Daseins, und das Wesen sei­ner Umwelt tie­fer zu erfas­sen. Zu allen Zei­ten war dazu nur wahr­haft gro­ße Kunst imstan­de. Alle gro­ßen Künst­ler – von Homer bis Neru­da, von Äschy­lus bis Brecht, von der byzan­ti­ni­schen Musik und Bach bis Bar­tok und Schost­a­ko­witsch, vom Sän­ger der Anti­ke und dem Min­ne­sän­ger des Mit­tel­al­ters bis zum Volks­mu­si­kan­ten unse­rer Zeit – mach­ten in ihrem Schaf­fen das Wesen der uns umge­ben­den Wirk­lich­keit sicht­bar. Ihre Wer­ke sind die Krö­nung der ästhe­ti­schen und künst­le­ri­schen Wer­te, der Lei­stun­gen der Kunst in den ein­zel­nen Epochen.«

Die poli­ti­schen und sozia­len Bedin­gun­gen blockie­ren in Grie­chen­land im 20. Jahr­hun­dert die Ideen von Fort­schritt und Auf­klä­rung. Sie fin­den kei­nen Aus­druck in Wis­sen­schaft und Phi­lo­so­phie, jedoch in der Dich­tung und der Volks­mu­sik. Der Reich­tum der grie­chi­schen Volks­lie­der zeigt die Ver­bun­den­heit und Nähe zu den Sor­gen und Nöten der Men­schen, zu ihrem Frei­heits­wil­len, und zeigt den Kampf der Grie­chen für Unab­hän­gig­keit. In die­sen Lie­dern bewahrt sich das Gedächt­nis der Men­schen. Die Volks­mu­sik als Inspi­ra­ti­ons­quel­le bil­det nun neben byzan­ti­ni­scher und tür­kisch-ara­bi­scher Musik und west­eu­ro­päi­schen Kom­po­si­ti­ons­tech­ni­ken Theod­ora­kis Kom­po­si­ti­ons­me­tho­de, die den Dia­log mit den Men­schen öff­net. Theod­ora­kis: »In der Geschich­te der Welt­kul­tur waren jene die gro­ßen Weg­be­rei­ter, die Neu­es schu­fen, indem sie Altes schöp­fe­risch über­wan­den (…). Heu­te, da die Mensch­heit eine kri­ti­sche Zeit durch­lebt, muss die Kunst gemein­sam mit den Völ­kern der gan­zen Welt ver­tei­di­gen, was den Men­schen auf der Erde am teu­er­sten ist – den Frie­den, der die Vor­aus­set­zung für ein erfolg­rei­ches künst­le­ri­sches Schaf­fen bil­det. (…) In der welt­wei­ten Anti­kriegs­be­we­gung spielt die fort­schritt­li­che Kunst eine wich­ti­ge Rol­le: Sie mobi­li­siert die Völ­ker unse­res gan­zen Pla­ne­ten zum Kampf für eine fried­li­che Zukunft.« Die­se Gedan­ken von Theod­ora­kis sind auch nach fast vier­zig Jah­ren aktu­ell, da ihre Inhal­te nicht ein­ge­löst, nicht ver­wirk­licht sind. Theod­ora­kis leb­te und kämpf­te für ein Leben der Men­schen in Frei­heit und für den Frie­den und die Demokratie.

Die Erin­ne­rung an die Men­schen, die für die Frei­heit ihr Leben opfer­ten, bewahrt Theod­ora­kis in sei­nen Kom­po­si­tio­nen. Er nennt sie die »leben­di­gen Toten«. Zu ihnen gehör­ten wie in der 3. Sin­fo­nie, in Epi­ta­fi­os oder der Bal­la­de vom toten Bru­der die Müt­ter der im Frei­heits­kampf gestor­be­nen Söh­ne. Er erin­nert an die getö­te­ten Weg­ge­fähr­ten und Freun­de in sei­ner 1. Sin­fo­nie. Die Erin­ne­run­gen an sie fin­den sich auch in vie­len sei­ner Lie­der. Nie­mals los­ge­löst von der sozia­len Wirk­lich­keit drückt sei­ne Musik aber eben­so sei­ne Lebens­freu­de aus: in Kin­der­lie­dern, Lie­bes­lie­dern, in der Musik zu Film und Bal­lett von Alexis Zorbas.

Die gei­sti­ge Tri­as von Musik, Dich­tung und Kampf für ein bes­se­res Leben in Frei­heit bestimm­te Theod­ora­kis Leben. Sie offen­bart das Gleich­ge­wicht zwi­schen sei­ner Intui­ti­on und sei­ner gesell­schaft­li­chen Pra­xis. Nun liegt es an uns, sein Ver­mächt­nis fortzuführen.

Am 2. Sep­tem­ber 2021 ist Mikis Theod­ora­kis im Alter von 96 Jah­ren in sei­nem Haus in Athen gestorben.

Der Autor ist Kom­po­nist und Kon­zert­pia­nist. Er wird 2015 mit sei­ner Arbeit »Opus magnum – Die musi­ka­li­sche Poe­tik von Mikis Theod­ora­kis« an der Hoch­schu­le für Musik und Thea­ter Ham­burg pro­mo­viert. In vie­len Kon­zer­ten spielt er Kom­po­si­tio­nen sei­nes Freun­des Mikis Theodorakis.