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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Von Graz lernen

Graz ist die Haupt­stadt des öster­rei­chi­schen Bun­des­lan­des Stei­er­mark und dazu mit fast 300 000 Ein­woh­ne­rin­nen und Ein­woh­nern die zweit­größ­te Stadt Öster­reichs. ÖVP und FPÖ haben über Jahr­zehn­te in die­ser Stadt, mit ihren sehr hohen Fein­staub­be­la­stun­gen, die Poli­tik bestimmt. Bei der letz­ten Gemein­de­rats­wahl im Jah­re 2017 erziel­te die rechts­bür­ger­li­che ÖVP 37,78 Pro­zent der Stim­men; sie stell­te mit Sieg­fried Nagl schon seit 2003 den Bür­ger­mei­ster. Nun, am 26.9.2021, hat er sei­nen Rück­stritt bekannt gege­ben. Einen Tag vor der Wahl 2021 in Graz erschien in der libe­ra­len Tages­zei­tung Der Stan­dard unter der Über­schrift »Die rote Zel­le in Graz« ein Text, in dem der Autor Wal­ter Mül­ler mein­te: »Ob die KPÖ über­haupt die Gele­gen­heit bekommt, eine Regie­rungs­bil­dung zu ver­su­chen, ist ange­sichts der Aus­gangs­la­ge nach der Wahl 2017 illu­so­risch.« Da sind dem Kom­men­ta­tor wohl sei­ne anson­sten nicht unbe­dingt anti­kom­mu­ni­stisch auf­ge­stell­ten Pfer­de durch­ge­gan­gen. Solch beschö­ni­gen­de, einem Wunsch­den­ken ent­spre­chen­de Selbst­täu­schung über den nun in Wirk­lich­keit völ­lig ande­ren Wahl­aus­gang, lässt den Autor zum Maku­la­tur-Schrei­ber schrumpfen.

Frau­en und Män­ner in Graz haben gewählt, und mit 28,9 Pro­zent wur­de die KPÖ in Graz stärk­ste Kraft, die ÖVP kam auf 25,7 Pro­zent, die Grü­nen erziel­ten 17,3 Pro­zent und die rechts­na­tio­na­le FPÖ, die frü­her in Graz sogar den Bür­ger­mei­ster stell­te, schrumpf­te auf 5,3 Pro­zent. Im Gemein­de­rat ist nun die KPÖ mit 15 Man­da­ten ver­tre­ten, wäh­rend die ÖVP nur noch über 13 Sit­ze ver­fügt. Die GRÜNEN haben 8 Sit­ze, die kaum noch vor­han­de­ne SPÖ 4 Sit­ze, die FPÖ 5, und die »libe­ra­len« Neos erreich­ten 2 Sitze.

Eine LINKE, die in Deutsch­land eben nur noch mit Müh & Not, dank Direkt­man­da­ten, im Bun­des­tag ver­tre­ten sein wird, müss­te sich schon lan­ge die poli­ti­sche Arbeit der Gra­zer Genos­sin­nen und Genos­sen zum Vor­bild machen.

In Graz begann es mit Ernest Kal­ten­eg­ger: In der Ost­stei­er­mark auf­ge­wach­sen, in einer sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Fami­lie, ging er in jun­gen Jah­ren zur SJÖ (Sozia­li­sti­sche Jugend Öster­reichs) – die dort erleb­ten, fest­ge­fah­re­nen Struk­tu­ren lie­ßen ihn zur KPÖ wech­seln. Nach Graz gezo­gen, putz­te Kal­ten­brun­ner Tag für Tag die Klin­ken der Gemein­de­woh­nun­gen, hör­te gut zu und hielt Ver­spre­chun­gen ein. Als Stadt­rat ließ er in vie­len, ver­nünf­ti­gen Wohn­an­sprü­chen längst nicht mehr ent­spre­chen­den Sub­stan­dard­woh­nun­gen Bad und WC ein­bau­en. Die Gra­zer KPÖ mach­te über vie­le Jah­re bis zum heu­ti­gen Tag sozia­le Par­tei­ar­beit auf Augen­hö­he mit der Bevöl­ke­rung. Sie kon­zen­trier­te sich auf lokal­po­li­ti­sche The­men und spe­zia­li­sier­te sich auf Woh­nungs­po­li­tik. Eine Mie­ter-Not­ruf­stel­le half Mie­te­rin­nen und Mie­tern in Woh­nungs­an­ge­le­gen­hei­ten, und so wur­den die Miss­stän­de der Gra­zer Woh­nungs­po­li­tik öffent­lich. In der Wie­ner Par­tei­zen­tra­le war man anfangs nicht begei­stert von sol­cher »unpo­li­ti­schen« Arbeit. Über Inhal­te von Gemein­de­rats­sit­zun­gen und ande­re wich­ti­ge Ent­wick­lun­gen in der Stadt wird per Zei­tung und Inter­net aus­führ­lich berichtet.

Der Lan­des­par­tei­chef Franz Par­te­der, Ehe­mann der soeben erfolg­rei­chen Wahl­ge­win­ne­rin Else Kahr: »Wir haben uns bemüht, die Ideo­lo­gie all­tags­taug­lich zu machen und zu schau­en, was den Men­schen real hilft. Uns geht es ums Han­deln und nicht um irgend­wel­che scho­la­sti­schen Dis­kus­sio­nen. Der Mar­xis­mus ist in der Kri­se, und der Osten war ein abschrecken­des Bei­spiel. Die Theo­rie muss end­lich den Pra­xis­test bestehen.«

Eine akti­ve Mit­glied­schaft beglei­tet die­se Arbeit und die bei der LINKEN in Deutsch­land so belieb­ten »Gra­ben­kämp­fe« gibt es nicht. »Wir haben eine Koali­ti­on mit unse­ren Wäh­le­rin­nen und Wäh­lern«, beteu­ert die KPÖ Wahl­sie­ge­rin Elke Kahr. »Für sie sind wir da.«

Der Erfolg der Gra­zer KPÖ bei den Gemein­de­rats­wah­len hat auch die Bun­des-KPÖ über­rascht. »Wir haben mit einem guten Ergeb­nis gerech­net – aber in die­ser Grö­ßen­ord­nung und in die­ser poli­ti­schen Trag­wei­te nicht«, so Spre­cher Tobi­as Schwei­ger. »Für uns ist klar, dass das nicht nur ein Sieg in Graz war, son­dern auch ein star­kes Signal für eine star­ke Lin­ke in ganz Österreich.«

Für deut­sche Lese­rin­nen und Leser mag inter­es­sant sein, wie viel die Man­dats­trä­ger in Graz ver­die­nen. Seit 1.1.2021 belau­fen sich die monat­li­chen Brut­to­be­zü­ge (14-mal im Jahr) nach dem Stei­er­mär­ki­schen Gemein­de-Bezü­ge Gesetz wie folgt: Bür­ger­mei­ster: 14.303,42 €, Bür­ger­mei­ster­stell­ver­tre­ter: 11.996,41 €, Stadträtin/​Stadtrat: 11.073,61 €, Klub­ob­leu­te: 4.244,88 €, Gemein­de­rats­mit­glie­der: 2.122,44 €, Bezirks­vor­ste­her und -vor­ste­he­rin­nen: 1.845,60 €.

Die der­zeit akti­ven Man­da­ta­rIn­nen haben kei­nen Anspruch auf eine Abfin­dung oder »Poli­ti­ker­pen­si­on«. Die »Bezü­ge­ta­bel­le« wur­de natür­lich von einer ande­ren Mehr­heit beschlos­sen, die gewiss nicht dar­an gedacht hat, dass KPÖ-Mit­glie­der ein­mal davon pro­fi­tie­ren würden.

In Graz gibt es dar­über hin­aus, dank KPÖ, noch eine sozia­le und poli­ti­sche Beson­der­heit. Eine Bril­le, Zuschuss für einen Herd, Heiz­öl: Ein Sozi­al­fonds der KPÖ hilft armen Men­schen, die kei­ne gesetz­li­chen Zuschüs­se erhal­ten. Peni­bel ver­zeich­ne­ten die bis­he­ri­gen zwei Stadt­rä­te und die zwei Land­tags­ab­ge­ord­ne­ten der KPÖ in einem Kas­sa­buch, wofür sie auf zwei Drit­tel ihrer Poli­ti­ker­ga­gen ver­zich­ten. 1192 Stei­rer beka­men im Jahr 2021 finan­zi­el­le Unter­stüt­zung aus dem Sozi­al­fonds der KPÖ, der mit 135.283 Euro gefüllt war. Durch­schnitt­lich geht es um Sum­men zwi­schen 40 und 250 Euro pro Person.

Seit 20 Jah­ren betreibt die KPÖ die­sen Fonds. Erst­mals ein­ge­rich­tet wur­de er 1998, als Ernest Kal­ten­eg­ger den Sprung in den Gra­zer Stadt­se­nat schaff­te. Er ver­zich­te­te auf einen Teil sei­nes Gehalts, seit­her hal­ten sich alle KPÖ-Man­da­ta­re dar­an: Die Gra­zer KPÖ-Che­fin Elke Kahr als bis­he­ri­ge Stadt­rä­tin und ihr Stadt­rats­kol­le­ge Robert Krot­zer etwa behal­ten von den 5910 Euro net­to, die ihnen jeweils monat­lich zuste­hen, 1950 Euro.

Auf die Fra­ge, ob es sie ner­ve, »seit 30 Jah­ren immer nach dem Kom­mu­nis­mus im Namen KPÖ gefragt zu wer­den«, ant­wor­te­te Elke Kahr: »Ner­ven weni­ger. Den Medi­en ist es wich­ti­ger als den Leu­ten. (…) Weil sie uns ken­nen. Das war schon bei Ernest Kal­ten­eg­ger so. (…) ich habe nie etwas von einem Sta­lin gehal­ten, habe die Men­schen­rechts­ver­bre­chen in kom­mu­ni­sti­schen Regi­men schreck­lich gefun­den, den Ein­marsch in die ČSSR auch, ich bin auch kein Fan Nord­ko­re­as. Das ist Des­po­tis­mus und hat nichts mit mei­ner Welt­an­schau­ung zu tun. Ich bin Mar­xi­stin, und wir gehen in der stei­ri­schen KPÖ seit über 30 Jah­ren einen kom­plett eige­nen Weg. Wenn man aber das Arbei­ten für eine sozi­al gerech­te­re Welt unbe­dingt ver­teu­feln will, dann weiß ich auch nicht. Immer ver­gleicht man uns nur mit Regi­men aus dem Osten, die aus einer Idee des Kom­mu­nis­mus etwas ganz ande­res gemacht haben.«

Ob bei der nun »abge­speck­ten« LINKEN in Deutsch­land ein Lern­pro­zess beginnt? Es ist zu befürch­ten, dass der Slo­gan »Von Graz ler­nen, heißt sie­gen ler­nen« auf die ver­stopf­ten Ohren der »ver­be­am­te­ten« Par­tei­füh­rung tref­fen dürf­te. Wir­kungs­los verpuffend!