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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Wählen allein reicht nicht

Wah­len geben Men­schen das Gefühl, sie hät­ten Ein­fluss. Das Ange­bot an aus­sichts­rei­chen Kräf­ten ist in der lan­gen Tra­di­ti­on demo­kra­ti­scher Wah­len fast durch­gän­gig auf Par­tei­en kon­zen­triert, die die gege­be­nen Ver­hält­nis­se nicht grund­sätz­lich infra­ge stel­len. Die Wahl des Sozia­li­sten Sal­va­dor Allen­de in Chi­le 1970 stellt eine der weni­gen Aus­nah­men dar. Das Bünd­nis »Uni­dad Popu­lar« aus Sozia­li­sten und Kom­mu­ni­sten ver­staat­lich­te Schlüs­sel­in­du­strien wie den Kup­fer­berg­bau. Doch taste­te die Regie­rung Allen­des die auto­ri­tä­re Struk­tur der Armee und des Staats­ap­pa­ra­tes nicht an. Drei Jah­re nach dem Wahl­sieg stürz­te die Armee mit freund­li­cher Unter­stüt­zung von mul­ti­na­tio­na­len Kon­zer­nen wie ITT sowie der CIA die Regie­rung und Allen­de wur­de ermor­det. Die par­la­men­ta­ri­sche Ebe­ne der Macht hat in allen Umwäl­zun­gen der Geschich­te höch­stens eine beglei­ten­de Rol­le gespielt. 2021 ste­hen Umwäl­zun­gen an, die schnel­ler und radi­ka­ler aus­fal­len müs­sen, als es bei Refor­men der Demo­kra­tie jemals der Fall war.

Ein Fak­tor ist der Spreng­stoff durch die sozia­le Spal­tung, der sich leicht in Auf­ruhr und Rebel­li­on ent­la­den kann. Bei­spie­le sind die Ban­lieue-Revol­ten in Frank­reich vor cir­ca ein­ein­halb Jahr­zehn­ten sowie die Revol­ten Jugend­li­cher in bri­ti­schen Vor­städ­ten 1985 und vor zehn Jah­ren und die Pro­te­ste gegen Ras­sis­mus und Poli­zei­ge­walt in den USA, zuletzt 2020. Dem Ärger der Hoff­nungs­lo­sen steht eine Klein­grup­pe Super­rei­cher gegen­über, laut Oxfam besit­zen acht Per­so­nen so viel wie die hal­be Mensch­heit. Eben­falls skan­da­lös sind die Zah­len für Deutsch­land, wo das reich­ste Pro­zent genau­so viel Ver­mö­gen besitzt, wie 87 Pro­zent der Bevöl­ke­rung. Die anhal­ten­de Ver­meh­rung des Reich­tums der Weni­gen ver­schärft die Kluft.

Ein wei­te­rer Aspekt der Zukunfts­ge­fähr­dung liegt in den Unwäg­bar­kei­ten auf­grund der öko­lo­gi­schen Kata­stro­phen: Über­flu­tun­gen nach Wet­ter­ka­ta­stro­phen, Hit­ze­wel­len mit uner­träg­li­chem Stadt­kli­ma und Tor­na­dos neh­men glo­bal zu. Ent­we­der gestal­ten Men­schen die Lebens­be­din­gun­gen so, dass sie zukunfts­ver­träg­lich wer­den, oder die Bedin­gun­gen wäl­zen die Lebens­be­din­gun­gen so schnell und mas­siv um, wie das bis­her höch­stens in Krie­gen erfolgt ist; auch Fri­days for Future warnt davor, dass die Erd­er­wär­mung den Frie­den gefährdet.

Neben die sozia­len und öko­lo­gi­schen Bedro­hun­gen tre­ten auch noch die mili­tä­ri­schen, etwa dadurch, dass die Nato nuklea­re Arse­na­le fast sta­tio­nie­rungs­reif hat, die die Wahr­schein­lich­keit eines Atom­kriegs näher rücken las­sen; kri­ti­sche Nukle­ar­wis­sen­schaft­ler war­nen, es sei nicht mehr fünf vor zwölf, son­dern die Gefahr sei genau­er sym­bo­li­siert, wenn man von 100 Sekun­den vor der fina­len Kata­stro­phe spricht.

In der Situa­ti­on hat das Wahl­er­geb­nis Deutsch­lands die Domi­nanz von Par­tei­en bestä­tigt, die an den gesell­schaft­li­chen Ver­hält­nis­sen nichts Grund­le­gen­des ändern wollen.

Kon­ser­va­ti­ve Kräf­te in der CDU spra­chen in der Wahl­nacht von einer Zukunfts­re­gie­rung, die Erneue­rung mit Sta­bi­li­tät ver­bin­det. Die FDP will die Kli­ma­ent­wick­lung durch tech­ni­sche Erfin­dun­gen mit deut­scher Inge­nieurs­kunst und De-Regu­lie­rung der Wirt­schaft unter Kon­trol­le brin­gen und sonst die Ord­nungs­po­li­tik der letz­ten Jahr­zehn­te fort­set­zen. Die SPD – und mit ihr Olaf Scholz – bleibt, allen öko­lo­gisch-sozia­len Wer­be­sprü­chen zum Trotz, bei einer wei­te­ren Stei­ge­rung der Hoch­rü­stung im Rah­men der von der Nato ange­streb­ten zwei Pro­zent der Wirt­schafts­lei­stung für den Militärsektor.

Und die Grü­nen? Sie wol­len, wie es Robert Habeck in sei­ner Rede am 21.9.21 in Essen beton­te, die von ihnen so genann­te öko­lo­gi­sche Markt­wirt­schaft, so als kön­ne man das System der Kon­kur­renz, des Wachs­tums­dog­mas und des Pri­mats pri­va­ter Ren­di­te in der Öko­no­mie mit der Öko­lo­gie ver­söh­nen. Die Kli­ma­ret­tung soll durch tech­ni­sche Inno­va­ti­on erfol­gen, etwa durch erneu­er­ba­re statt fos­si­ler Ener­gien, durch ÖPNV und E-Autos. Zitat: »Wir kön­nen mit Kli­ma­schutz wach­sen!« Es bedür­fe einer »Neu­ju­stie­rung der Märk­te«, so dass Wohl­stands­si­che­rung und Frei­heit im Ver­än­de­rungs­pro­zess geschützt wer­den können.

Den Begriff Markt­wirt­schaft als Beschö­ni­gung des Kapi­ta­lis­mus benut­zen alle eta­blier­ten Par­tei­en von Grün bis zur CSU. Doch die Wort­hül­se vom Markt über­tüncht die Tat­sa­che, dass nur cir­ca 147 Welt­kon­zer­ne laut einer Stu­die der ETH Zürich die glo­ba­le Öko­no­mie kon­trol­lie­ren, was dem Cha­rak­ter eines Mark­tes mit unge­fähr gleich­star­ken Anbie­tern Hohn spricht. Da nimmt es nicht Wun­der, dass 100 Kon­zer­ne laut Cor­bon Majos Data­ba­se 2017 für cir­ca 70 Pro­zent der CO2-Emis­sio­nen ver­ant­wort­lich sind.

Auch in der Mili­tär­po­li­tik sind die für Koali­tio­nen infra­ge kom­men­den vier Par­tei­en nahe bei­ein­an­der und weit ent­fernt von jeg­li­cher Öko­lo­gie. Sie stel­len das Mili­tär­bünd­nis Nato nicht infra­ge, das zu den öko­lo­gi­schen Haupt­schä­di­gern der Bio­sphä­re auf der Erde zählt. Öko­lo­gie und Mili­tär sind so ver­ein­bar wie Leben und Salzsäure.

Die Kapi­tä­nin und Akti­vi­stin Caro­la Racke­te schrieb am letz­ten Kli­ma­ak­ti­ons­tag, dem 24.9., im neu­en deutsch­land: »Natür­lich müs­sen wir sofort auf grü­ne Tech­no­lo­gien umstel­len, doch um unse­re Lebens­grund­la­gen zu schüt­zen, müs­sen wir ein Wirt­schafts­sy­stem schaf­fen, das vom Wachs­tum unab­hän­gig ist und statt­des­sen gerecht ver­teilt, was wir haben.« Das ent­sprä­che »wis­sen­schaft­li­chen Tat­sa­chen, denn wir kön­nen Wachs­tum und Kapi­ta­lis­mus nicht begrünen«.

Die Schluss­fol­ge­rung, die sich aus dem Ver­lauf und Ergeb­nis der letz­ten Bun­des­tags­wahl ergibt, ist, dass sich die Bewe­gun­gen, die sich für die Zukunft des Lebens ein­set­zen, enger, kon­kre­ter und syste­ma­ti­scher ver­net­zen soll­ten, um einen grö­ße­ren Druck von der Zivil­ge­sell­schaft auf die eta­blier­te Poli­tik zu orga­ni­sie­ren. Ein Bei­spiel war der Esse­ner Kli­ma­streik, bei dem der Gewerk­schafts­funk­tio­när von ver.di Ruhr-West­fa­len, Bernt Kamin-Seg­ge­wies, in der Haupt­re­de der Eröff­nungs­kund­ge­bung aus­führ­te: »Wir dür­fen unse­re Res­sour­cen nicht für Rüstung und Krie­ge ver­schwen­den, son­dern müs­sen sie ein­set­zen für eine Welt, in der es sich lohnt zu leben. Für eine Welt mit sau­be­rer Umwelt, für eine Welt ohne Hun­ger und Krie­ge. (…) Lasst uns die sozia­len Bewe­gun­gen, die Demo­kra­tie-Bewe­gung, die Frie­dens­be­we­gung, die Jugend- und die Öko­lo­gie­be­we­gung zusam­men­füh­ren und für eine Zukunft kämp­fen, in der es sich lohnt zu leben. Ich will näm­lich, dass mein Kind und mei­ne Enkel auch eine lebens­wer­te Zukunft haben.«

Die­ses Zusam­men­wir­ken der Bewe­gun­gen hat dann Aus­sicht auf Erfolg, wenn inner­halb der betei­lig­ten Grup­pen und zwi­schen ihnen das Augen­merk auf das Ver­bin­den­de, also die gemein­sa­men Inter­es­sen im Vor­der­grund steht und nicht die Beto­nung der Unter­schie­de, der Kon­flikt­punk­te und jeweils eige­ner Prio­ri­tä­ten. Rück­schlä­ge gehö­ren zum Pro­zess, auch auf dem Weg zum Erfolg. Der lan­ge Atem, der in der Frie­dens­be­we­gung nicht erst seit den ersten Oster­mär­schen vor über 60 Jah­ren zu beob­ach­ten ist, gehört eben­falls zu den Bedin­gun­gen, die einer Bewe­gung die not­wen­di­ge Stär­ke ver­lei­hen. Die Zukunfts­ge­fähr­dun­gen drän­gen die Akteu­re zur Eile, zur Kon­se­quenz und Ent­schie­den­heit sowie zur Solidarität.