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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Am Abgrund

Das erste Opfer eines Krie­ges, auch des gegen­wär­ti­gen, ist bekannt­lich die Wahr­heit. Die Prot­ago­ni­sten bei­der Sei­ten schö­nen die Berich­te, die wah­re Situa­ti­on wird stän­dig ver­schlei­ert und ist selbst soge­nann­ten Exper­ten allen­falls teil­wei­se bekannt. Das offi­zi­el­le Ziel besteht anschei­nend in der mög­lichst lan­gen Fort­füh­rung des Krie­ges, bis eine Sei­te »gewon­nen« hat, wenn man bei dem in jedem Krieg zu erwar­ten­den Aus­maß an Zer­stö­rung von »gewin­nen« spre­chen kann. Kri­tik am Krieg wird ent­we­der ver­bo­ten oder mas­siv ein­ge­schränkt. Dies hat Bun­des­prä­si­dent Frank-Wal­ter Stein­mei­er gera­de wie­der in einer Rede zum 3.10.2022 deut­lich gemacht: In einer Demo­kra­tie kön­ne es zwar ein gewis­ses Maß an Debat­te geben, doch dann müs­se man im Sin­ne des »gro­ßen Gan­zen« geschlos­sen auf­tre­ten. Nur so kön­ne man einem Feind, der bewusst mit Falsch­in­for­ma­tio­nen arbei­te, wider­ste­hen. Und nur so kön­ne man dafür sor­gen, dass die Kri­tik am Krieg im eige­nen Land nicht »instru­men­ta­li­siert« werde.

In Wahr­heit ist dies ein Frei­brief für das Abwür­gen von Kri­tik, ein Vor­gang, der in einer Situa­ti­on von exi­sten­zi­el­ler Bedeu­tung unak­zep­ta­bel ist. Ver­tei­digt wird die­se Ein­schrän­kung durch die For­mel der »wehr­haf­ten Demo­kra­tie«. Doch zur Demo­kra­tie gehört gera­de die Mei­nungs­frei­heit, die eben nicht dadurch geschützt wird, dass man sie ein­schränkt. Dabei stellt sich die Fra­ge, ob über­haupt die Bereit­schaft besteht, auf brei­ter Front gegen die der­zei­ti­ge Kata­stro­phen­po­li­tik vor­zu­ge­hen. Das Trom­mel­feu­er der Medi­en, die Dämo­ni­sie­rung des Geg­ners, die Fokus­sie­rung auf das Mili­tä­ri­sche zei­gen Wirkung.

Vie­les erin­nert an die Situa­ti­on von 1914, von der spä­ter Schön­red­ner und Weiß­wä­scher in fahr­läs­si­ger Ver­harm­lo­sung behaup­te­ten, man sei in sie und den anschlie­ßen­den Welt­krieg »hin­ein­ge­schlit­tert«; angeb­li­che »Schlaf­wand­ler« hät­ten uns, eigent­lich unbe­ab­sich­tigt, an den Abgrund einer bis dahin unvor­stell­ba­ren Zer­stö­rung gelei­tet. Doch nichts könn­te irre­füh­ren­der sein als eine sol­che Sicht­wei­se: In Wahr­heit han­del­te es sich um jeweils ein­zel­ne Schrit­te, die gele­gent­lich ratio­nal erschei­nen moch­ten, letzt­lich aber von einer hazar­deur­haf­ten Stra­te­gie zeu­gen. Das Destruk­ti­ve des Krie­ges trat zwar immer deut­li­cher her­vor, es gewann aber eine kaum noch zu brem­sen­de Eigen­dy­na­mik. Über die wah­ren Hin­ter­grün­de und zugrun­de­lie­gen­den Inter­es­sen des Krie­ges wur­de damals (wie selbst heu­te noch oder wie­der) geschwie­gen. Im Fall des Ersten Welt­kriegs dau­er­te es nahe­zu fünf­zig Jah­re, bis Fritz Fischers »Griff nach der Welt­macht« sie auf­deck­te. Doch dies scheint mitt­ler­wei­le wie­der ver­ges­sen – oder es fällt einer revi­sio­ni­sti­schen Dar­stel­lung zum Opfer. Man hat den Ein­druck, dass weder Inter­es­se an einer kri­ti­schen Sicht der Ver­gan­gen­heit noch an einer Ver­hin­de­rung neu­er Kata­stro­phen besteht.

Tat­säch­lich deu­tet auch in die­sen Wochen alles dar­auf hin, dass sich die (direk­ten oder ver­deckt betei­lig­ten) Kriegs­par­tei­en auf einen Abgrund zube­we­gen. Die Eska­la­ti­on schiebt man auf den Geg­ner, der einem kei­ne Wahl las­se, als mit einer wei­te­ren Eska­la­ti­on zu ant­wor­ten. Wor­auf dies hin­aus­läuft, ist abzu­se­hen. Und doch regt sich bis­lang nur begrenz­ter Wider­stand. Ein Grund dafür ist sicher, dass das Bewusst­sein der Bevöl­ke­rung, ein­schließ­lich jener Krei­se, die an kon­kre­ten Infor­ma­tio­nen inter­es­siert sind, seit Jah­ren mit Phra­sen und irre­füh­ren­den Begrif­fen gera­de­zu zuge­müllt wur­de. Die Krie­ge in Jugo­sla­wi­en waren ein Vor­spiel. Der scham­lo­se Bezug auf Ausch­witz anläss­lich des völ­ker­rechts­wid­ri­gen Angriffs auf Ser­bi­en stieß nicht auf die kla­re Ver­ur­tei­lung, die er ver­dient hat­te. Der Afgha­ni­stan­krieg wur­de unter ande­ren damit gerecht­fer­tigt, dass »unse­re Frei­heit am Hin­du­kusch« ver­tei­digt wer­de. Ande­re Krie­ge fan­den zwar wegen der Welt­wirt­schafts­kri­se von 2007/​2008 weni­ger Auf­merk­sam­keit, doch setz­ten sehr bald kon­zer­tier­te Angrif­fe auf her­kömm­li­che, durch For­schung abge­si­cher­te Dar­stel­lun­gen der euro­päi­schen Geschich­te ein. Beein­flusst nament­lich von ost­eu­ro­päi­schen (aber auch ame­ri­ka­ni­schen) Sicht­wei­sen, brach­te man sich spä­te­stens 2019 in Stel­lung gegen Russ­land, dem man ein tota­li­tä­res Regime in der Tra­di­ti­on Sta­lins beschei­nig­te. Von den Opfern der Sowjet­uni­on, die jah­re­lang einem bewusst so genann­ten und geführ­ten Ver­nich­tungs­krieg wider­stan­den hat­te, war kaum noch die Rede.

Für die deut­sche Sei­te hat­te eine sol­che Sicht der Din­ge den Vor­teil, dass die Aus­sicht bestand, sich end­lich von die­sem Teil der Geschich­te befrei­en zu kön­nen. Auf­fäl­lig ist dabei, dass gar nicht mehr zwi­schen der dama­li­gen Sowjet­uni­on und der Rus­si­schen Föde­ra­ti­on nach 1991 unter­schie­den wird, so dass anti­kom­mu­ni­sti­sche wie rus­so­pho­be Vor­ur­tei­le und Feind­bil­der tra­diert wer­den kön­nen. Nach Jah­ren einer gras­sie­ren­den Geschichtsamne­sie hat­te also eine Pha­se des Geschichtsrevi­sio­nis­mus ein­ge­setzt, der einen Kurs begün­stig­te, der Russ­land iso­liert und vor­ma­li­ge Tei­le – wie die bal­ti­schen Staa­ten oder die Ukrai­ne – zu sei­nen Ver­bün­de­ten macht. Fragt man Histo­ri­ker oder Histo­ri­ke­rin­nen, wie man die­sem Kurs auf bewuss­te Ver­zer­rung und poli­ti­scher Instru­men­ta­li­sie­rung begeg­nen kön­ne, schüt­teln sie meist den Kopf. Fast alle sehen sich iso­liert und ver­an­schla­gen die Chan­cen, die geschicht­li­che Wahr­heit zu Gehör zu brin­gen, als gering. Die Main­stream­m­e­di­en drucken nur das, was ihnen genehm ist, und das ist zur­zeit ein »alter­na­tiv­lo­ser« Kriegs­kurs gegen einen tota­li­tä­ren, anti­west­li­chen, auto­kra­ti­schen Feind.

Die in der Öffent­lich­keit zir­ku­lie­ren­den Begrif­fe sto­ßen eben­falls auf wenig Oppo­si­ti­on, obwohl sie längst Aus­ma­ße wie in Geor­ge Orwells »1984« ange­nom­men haben. Man den­ke an einen Begriff wie »Son­der­ver­mö­gen«. Wer immer sich die­sen Begriff aus­ge­dacht hat, woll­te ver­mut­lich aus histo­ri­schen wie tak­ti­schen Grün­den den Begriff Kriegs­kre­di­te ver­mei­den. Dabei ist das angeb­li­che Son­der­ver­mö­gen natür­lich kein (Geld-)Vermögen, das den Men­schen zugu­te­kom­men könn­te, son­dern es sind Kre­di­te, also Schul­den, die wir alle zu bezah­len haben. Ein poten­ti­el­les Ver­mö­gen stel­len sie nur für die Rüstungs­kon­zer­ne dar. Die Bewil­li­gung sol­cher Kre­di­te war übri­gens immer ein ent­schei­den­des Pri­vi­leg des Par­la­men­ta­ris­mus: Wäh­rend des ersten Welt­kriegs muss­te die­se Bewil­li­gung immer neu ein­ge­holt wer­den; sie geriet zuneh­mend unter Beschuss, selbst in der dama­li­gen SPD, die zunächst mit ihrer Zustim­mung den Krieg ermög­licht hat­te. Eine »Zei­ten­wen­de« wird aus­ge­ru­fen, als hand­le es sich um den Beginn eines neu­en, erfreu­li­che­ren Zeit­al­ters. Dabei geht es, was sogar eini­ger­ma­ßen deut­lich wird, um den Schwenk zu einer offe­nen (und nicht nur ver­deck­ten) Mili­ta­ri­sie­rung der Außen­po­li­tik, wie sie von diver­sen Hard­li­nern aus Poli­tik und Bun­des­wehr schon län­ge­re Zeit gefor­dert wor­den ist. »Ver­ant­wor­tung« über­neh­men bedeu­tet eben­falls schon län­ger, dass man sich den USA als Juni­or­part­ner andient oder die neo­ko­lo­nia­le Poli­tik in Mali (oder sonst wo) nicht mehr län­ger allein den Fran­zo­sen über­las­sen will. Im Inne­ren bedeu­tet »Ver­ant­wor­tung über­neh­men« zumeist, die eige­nen Posi­tio­nen so abzu­schwä­chen, dass man in eine Regie­rung ein­tre­ten kann. Ver­ant­wor­tung ist also zumeist ein Syn­onym für Oppor­tu­nis­mus und Macht­be­tei­li­gung. Man könn­te gera­de­zu ein Glos­sar anle­gen, das die gän­gi­gen, das Bewusst­sein ver­ne­beln­den Begrif­fe und Slo­gans über­setzt. Ratio­na­les Den­ken wird nur dann eine Chan­ce haben, wenn es sich durch die­sen Wust hin­durch­ar­bei­tet und die wah­ren Ver­hält­nis­se freilegt.

Die Haupt­for­mel für den gegen­wär­ti­gen (und ver­mut­lich auch den näch­sten) Krieg lau­tet: Die Demo­kra­tien müss­ten sich gegen die Auto­kra­tien weh­ren oder bes­ser noch: sie zurück­drän­gen und besie­gen, da sie destruk­tiv und gefähr­lich sei­en. Was Demo­kra­tien sind, dar­über scheint Einig­keit zu bestehen. Damit ist der Westen gemeint, wie es abkür­zend und undif­fe­ren­ziert heißt, mit west­lich bestimm­ten Wer­ten und Frei­heits­rech­ten. Doch was sind Auto­kra­tien oder Auto­kra­ten? Gemeint sind – oft ohne kon­kre­ten Hin­ter­grund – auto­ri­tä­re Macht­ha­ber, die gern als »böse« gebrand­markt wer­den, wenn sie sich dem west­li­chen Macht­block wider­set­zen. Doch ein Blick in die Geschich­te soll­te stut­zig machen: 1914 war es das deut­sche Kai­ser­reich, das als Auto­kra­tie hin­ge­stellt wur­de, der Westen – das waren die alten Demo­kra­tien, also Frank­reich, Groß­bri­tan­ni­en, die USA. Die­se ver­ban­den sich jedoch durch eine Rei­he von Abkom­men mit einer Auto­kra­tie, dem rus­si­schen Zaren­reich. Von deut­scher Sei­te bestritt man zwar nicht das Auto­kra­ti­sche (obwohl selbst das Kai­ser­reich kaum weni­ger demo­kra­tisch war als der Westen, der über welt­um­span­nen­de Kolo­ni­al­rei­che ver­füg­te), doch man führ­te die gro­ße deut­sche Kul­tur als zen­tra­len Wert an, für den man zu kämp­fen und zu ster­ben bereit sei. Die Mäch­te der west­li­chen Entente stan­den für eine abschät­zig genann­te Zivi­li­sa­ti­on, wozu natür­lich auch der bür­ger­li­che Par­la­men­ta­ris­mus gehör­te. Gleich­zei­tig waren die deut­schen Macht­ha­ber gegen das Zaren­reich, denn die­ses unter­stütz­te u.a. die pan­sla­wi­sche Befrei­ungs­be­we­gung (und damit das »auf­säs­si­ge« Ser­bi­en). Das Zaren­re­gime wur­de auf brei­ter Front als bru­ta­le, bar­ba­ri­sche Gewalt­herr­schaft hin­ge­stellt, womit man übri­gens die anfangs kriegs­skep­ti­sche, aber russ­land­feind­li­che SPD »ins Boot« holen konnte.

Doch wer wagt heu­te einen Blick in die Geschich­te? Natür­lich wie­der­holt sie sich nicht (direkt), doch man kann aus ihr ler­nen, wenn man die rich­ti­gen Fra­gen stellt und die gesell­schaft­li­chen, poli­ti­schen und öko­no­mi­schen Zusam­men­hän­ge her­aus­ar­bei­tet. Der Slo­gan »Auto­kra­ten gegen Demo­kra­ten« taugt jeden­falls auch heu­te nicht als Recht­fer­ti­gung eines Mas­sen­ster­bens – sei es in Euro­pa, sei es in Chi­na, das als näch­stes Kriegs­ziel gel­ten kann. Um dem Krieg den Krieg zu erklä­ren, muss die Oppo­si­ti­on über­zeu­gend und vor allem wirk­sam auf­tre­ten. Dazu gehört, den Vor­hang der mytho­lo­gi­schen Ver­neb­lun­gen, den Wust der beschö­ni­gen­den oder täu­schen­den Sprach­re­ge­lun­gen zu zer­rei­ßen und statt­des­sen die poli­ti­sche Situa­ti­on mit aller gebo­te­nen Ratio­na­li­tät zu ana­ly­sie­ren. Dazu gehört außer­dem ein kla­rer Kurs auf den Frie­den, das Ende der sinn­lo­sen Zer­stö­rung und der sich stän­dig stei­gern­den mili­tä­ri­schen und poli­ti­schen Eska­la­tio­nen. Anson­sten ste­hen wir – wie­der ein­mal –, von angeb­li­chen Schlaf­wand­lern gelei­tet, am Abgrund.