Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Der Mann auf dem Fensterbrett

Tut er es, oder tut er es nicht? Fast fle­hent­lich bit­tet Joe Biden: »Tun Sie es nicht!« Was ist es denn, das er nicht tun soll? Sagen wir es deut­lich: Er soll es unter­las­sen, uns selbst und unse­re Lie­ben umzu­brin­gen, zu ermor­den. Denn für Mit­tel- und Ost­eu­ro­pa gäbe es kei­ne Über­le­bens­chan­ce, wenn er es denn täte. Nie­mand weiß, was beim Über­tre­ten der ato­ma­ren Schwel­le gesche­hen wird. Wür­de es bei einer ein­zi­gen Deto­na­ti­on blei­ben oder wür­de es zu einer Eska­la­ti­on kom­men, bei der auch Groß­städ­te ein­ge­äschert wer­den? Alles ist mög­lich. Was wir aber sicher wis­sen, ist die­ses: Bereits der Ein­satz eines ein­zi­gen Pro­zents des vor­han­de­nen ato­ma­ren Poten­ti­als bedeu­tet das Ende unse­rer Zivi­li­sa­ti­on und eine Kli­ma­ka­ta­stro­phe, gegen die die Erd­er­wär­mung eine Peti­tes­se sein wür­de. Doch die gegen­wär­ti­ge Debat­te um einen mög­li­chen Atom­krieg ent­spricht dem Pala­ver von Leu­ten, die dem Mann auf dem Fen­ster­brett des Hoch­hau­ses zuschau­en, der Anstal­ten macht, sich in die Tie­fe zu stür­zen. Wer wet­tet, dass er springt, wer setzt dage­gen? Rea­li­ty­show vom Feinsten.

Wäre es mög­lich, Rea­li­tä­ten ein­mal nicht als Dar­bie­tun­gen auf Bild­schir­men zu betrach­ten, wür­de deut­lich, was die Ver­zweif­lung des Man­nes auf dem Fen­ster­brett mit uns selbst zu tun hat. Dazu brau­chen wir nicht Putins Psy­cho­the­ra­peu­ten zu sein, eine Hal­tung, die Lau­ter­bach Precht vor­wer­fen zu müs­sen meint, als gehe es hier um die Trö­stung armer See­len. Wir stün­den im Krieg mit die­sem Mann, spricht Lau­ter­bach aus, was jeder weiß. Wenn aber, weil Krieg ist, Ver­hand­lun­gen mit dem Mann nicht sein sol­len, wenn sie Selen­skyj per Dekret sogar ver­bie­tet, wes­halb soll­te der Mann dann nicht schließ­lich tat­säch­lich springen?

Dar­auf hat nie­mand eine auch nur eini­ger­ma­ßen begründ­ba­re Ant­wort. Klar ist, dass Putin, in die Ecke gedrängt, mit Gewalt reagie­ren wird. Ist er tat­säch­lich so, wie er gese­hen wird, fast ein Teu­fel in Men­schen­ge­stalt – wie denn sonst? Was aber heißt es dann, wenn man for­dert, ihn end­gül­tig zu besie­gen? Einen begos­se­nen Pudel will man sehen, der sich unver­rich­te­ter Din­ge nach Hau­se trollt. Selbst wenn man wüss­te, wie das zu bewerk­stel­li­gen wäre, wie hoch wäre der Preis? Cha­rak­te­ri­stisch ist es aber zur­zeit, dass man nach Prei­sen nicht fra­gen darf. Wie­der ist es wie wäh­rend der Coro­na-Pha­se: Poli­tik ist alter­na­tiv­los, koste es was es wol­le. Wer fragt, ver­sün­digt sich. Nur: dies­mal geht es wirk­lich ums Gan­ze, schlicht um das nack­te Leben. Das Leben der Ukrai­ner, der Litau­er, der Polen, der Deutschen.

Frei­lich hört man allent­hal­ben das Pfei­fen im fin­ste­ren Kel­ler. Wer wird denn gleich an das Schlimm­ste den­ken! Angst ist ein schlech­ter Rat­ge­ber. Und je kras­ser die Lage eska­liert, desto absicht­li­cher wird jeder miss­ver­stan­den, der War­nun­gen vor­bringt. Ali­ce Schwar­zer, Wagen­knecht, Precht … Vom Putin­ver­ste­her zum kriegs­mü­den Defä­ti­sten ist es ein kur­zer Weg. Wer Feind­pro­pa­gan­da ernst nimmt und sich gegen die Lie­fe­rung von Pan­zern posi­tio­niert, gehört stand­recht­lich niedergemacht.

So die Lau­ter­bä­che, Hof­rei­ters und Baer­bocks. Und wie in jedem Krieg steht die Moral auf der eige­nen Sei­te, das Böse auf der ande­ren und wird durch Drauf­hau­en bekämpft. Was dar­an wäre neu? Neu allen­falls, dass die Welt bis­lang nicht bereit war, auf Nukle­ar­waf­fen zu ver­zich­ten. Auch Deutsch­land hat sich dem UNO-Ver­trag zum Ver­bot von Atom­waf­fen nicht ange­schlos­sen. Exi­stie­ren aber Nukle­ar­waf­fen, läuft so man­che Moral zwangs­läu­fig in die Sack­gas­se, denn sie ist ein­fach nicht durch­setz­bar. Beach­tet sie nicht den Preis, den ihre Durch­set­zung zur Fol­ge haben könn­ten, in was ver­wan­delt sie sich dann? Schlicht in Unmo­ral. Das wäre kei­ne Rea­li­ty­show, son­dern äußerst bitter.

Was könn­te denn unmo­ra­li­scher sein, als das Ster­ben aller sei­ner Lie­ben zu pro­vo­zie­ren, indem man den Mann auf dem Fen­ster­sims zum Sprin­gen nötigt? Jähr­lich fin­den welt­weit zahl­lo­se Amok­läu­fe statt. Sie ent­spre­chen dem Muster des erwei­ter­ten Sui­zids. Ist Putin ein Teu­fel, ein Irrer, ein vom Cäsa­ren­wahn Befal­le­ner? Viel­leicht, und gera­de dann dür­fen wir uns nicht von ihm abhän­gig machen. Wes­halb soll­te er nicht zum erwei­ter­ten Sui­zid nei­gen? Dem Mann auf dem Fen­ster­brett soll­te man zure­den, bes­ser nicht zu sprin­gen, ihn nicht rei­zen, ihn vor allem nicht demü­ti­gen. Denn noch ein­mal: Wir sind von ihm abhän­gig. Auch von Irren ist man abhän­gig, wenn sie sich in der Nähe des Nukle­ar­knopfs befin­den. Das zu ver­ste­hen, bedarf es kei­ner Intelligenz.

Umso ver­wun­der­li­cher sind das Kriegs­ge­heul und der Schrei nach Waf­fen. Ich will nicht von Petra Kel­ly reden, der Mit­grün­de­rin der Grü­nen und Pazi­fi­stin. Gewiss wür­de sie heu­te aus der Par­tei her­aus­ge­drängt. Auch die SPD sah schon mal bes­se­re Tage, als sie in der Julikri­se 1914 zu Frie­dens­de­mon­stra­tio­nen auf­rief. Ist heu­te alles nur Selbst­in­sze­nie­rung vor einem berausch­ten Publi­kum? Die Unfä­hig­keit, Wirk­lich­keit von media­lem Tam-Tam zu unter­schei­den? Das eigent­li­che Pro­blem von Fake News also. Ist es Selbst­er­hö­hung mit Hil­fe von Pseu­do­mo­ral, kurz: gras­sie­ren­der Nar­ziss­mus? Pan­zer end­lich lie­fern, auch wenn die Welt in Stücke fliegt?

Sol­che Apo­stel zwi­schen mora­li­schem Wahn und fak­ti­scher Bru­ta­li­tät machen ein­fach nur Angst. Fast ist man geneigt zu rufen: Um Got­tes Wil­len, lasst uns am Leben, wenig­stens unse­re Kin­der und Enkel! Hört doch auf mit eurer Recht­ha­be­rei, die auf einen Sieg­frie­den zielt und dabei den Völ­ker­mord ris­kiert. Immer hieß es, die­se da sind im Unrecht, nur wir im Recht. Gibt es ein abge­dro­sche­ne­res Ritu­al? Aber selbst, wenn sol­che grob­schläch­ti­gen Zuschrei­bun­gen tat­säch­lich ein­mal zuträ­fen: Wer oder was berech­tigt euch, uns sämt­lich dafür über die Klin­ge sprin­gen zu lassen?

Kurz: Wer den Ernst der Lage nicht kapiert, kann sich auf Moral, Gerech­tig­keit, Völ­ker­recht nicht beru­fen. Er ver­wei­gert sich der umfas­sen­den Rea­li­tät. Und in die­ser steht der Mann auf dem Fen­ster­brett und ist dabei zu sprin­gen. Tut er es, dann Gna­de uns Gott. Schaut also, dass der Mann auf sanf­te Wei­se aus dem Ver­kehr gezo­gen wird. Gesteht ihm zu, er habe »gewon­nen«. Behan­delt ihn so, wie Ego­ma­nen behan­delt wer­den wol­len. Die Waf­fen nie­der ist auch hier kein schlech­ter Anfang. Kommt Zeit, kommt Rat. Las­sen wir aber zu, dass kei­ne Zeit mehr kommt, dass alles in Trüm­mern liegt, wem wür­de die­ses Ende nüt­zen? Wenn der Mann auf dem Fen­ster­brett die­se Fra­ge nicht stellt, so stellt sie sie euch wenig­stens selbst. Klug­heit ist gefragt, Weit­sicht, Weis­heit. Mit Kriegs­ge­heul beginnt, was in der Panik endet.