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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Bornholmer Bauwerke

Die Fäh­re braucht zwei­hun­dert Minu­ten von Sass­nitz nach Røn­ne. Auf hal­ber Strecke pas­siert sie einen gewal­ti­gen Wind­park. Ein Mann an der Reling meint hin­ter­sin­nig: Deutsch­lands Zukunft liegt mal wie­der auf dem Wasser.

Die­sen Off­shore-Wind­park gab es noch nicht, als hier drei Fischer mit ihrem Kut­ter unter­gin­gen. Sie gerie­ten im März 1999 im Mor­gen­grau­en ver­mut­lich unter die Schlepp­tros­se zwei­er Schif­fe, die die Belu­ga in weni­ger als einer Minu­te voll­stän­dig unter Was­ser drück­te. Die Män­ner hat­ten kei­ne Chan­ce: weder auf See noch bei der deut­schen Justiz. Schif­fe von Nato-Län­dern hiel­ten damals das Manö­ver »Jagu­ar« ab, sechs Tage spä­ter soll­te der Krieg gegen Ser­bi­en begin­nen. Hier wie dort mit deut­scher Betei­li­gung. Die Mari­ne bestritt eine akti­ve Mit­wir­kung am Schiffs­un­glück, meh­re­re Rechts­in­sti­tu­te igno­rier­ten über­zeu­gen­de Gut­ach­ten, die Fremd­ver­schul­den nach­ge­wie­sen hat­ten, und scho­ben den Fischern erfolg­reich die allei­ni­ge Schuld zu. Betei­lig­te hiel­ten sich bedeckt, einer erklär­te jedoch 2016 gegen­über Micha­el Schmidt und Lutz Rie­mann – zwei Jour­na­li­sten des NDR, die den Fall von Anfang an hart­näckig ver­folg­ten –, dass es zwei unbe­leuch­te­te Kriegs­schif­fe gewe­sen sei­en. »Die haben zwi­schen sich eine Stahl­tros­se gespannt, und zwar jeweils am Heck cir­ca drei Meter über der Was­ser­ober­flä­che. Dann sind die mit vol­ler Kraft vor­aus.« Das mache man in Sperr­ge­bie­ten so, um klei­ne­re Kriegs­schif­fe oder trei­ben­de See­mi­nen unter­zu­pflü­gen. Die bei­den Rostocker Jour­na­li­sten wuss­ten, dass jedes See­ma­nö­ver akri­bisch aus­ge­wer­tet wird. »Da gibt es Radar­auf­zeich­nun­gen, Schiffs­ta­ge­bü­cher, alles Mög­li­che – alles gesperrt. Wir haben sogar ver­sucht, an die mili­tä­ri­schen Über­wa­chungs­sa­tel­li­ten her­an­zu­kom­men. Kommt man nicht ran. Nicht ein­mal mit anwalt­li­cher Hil­fe.« Und so gilt denn nach mehr als zwan­zig Jah­ren der Tod drei­er See­leu­te aus Sass­nitz als myste­ri­ös, da unauf­ge­klärt. Auf See gibt es kei­nen Gedenk­stein, aber nun­mehr den deut­schen Wind­park Wikinger.

Mit Dut­zen­den PKW und Wohn­mo­bi­len rol­len wir in Røn­ne an Land. Also ein­mal rund um die Insel und die inter­es­san­te­sten Bau­wer­ke ange­schaut. Natür­lich die vier Rund­kir­chen, die allein des­halb der Erwäh­nung wert sind, weil sie so etwas wie die Wahr­zei­chen der Insel sind. Trut­zig ste­hen sie seit Jahr­hun­der­ten auf Anhö­hen, Bur­gen gleich, die es hier nie gab – bis auf jene im Nor­den, die aber schon seit eini­ger Zeit Rui­ne ist. Die Kir­chen­mau­ern meter­dick, an den Fen­stern Schieß­schar­ten, aus denen man einst das Feu­er auf maro­die­ren­de See­räu­ber oder angrei­fen­de Schwe­den oder Polen richtete.

Die leuch­tend weiß gestri­che­nen Kir­chen die­nen nicht nur der stil­len Ein­kehr, son­dern auch dem Tou­ris­mus. Dar­um gibt es groß­zü­gig bemes­se­ne Park­plät­ze davor und Ephi­t­e­ta in den Rei­se­füh­rern. Die Kir­che in Østerl­ars ist die älte­ste und größ­te (wes­halb man dort nicht um eine frei­wil­li­ge Kol­lek­te, son­dern um den Erwerb eines pro­fa­nen Tickets gebe­ten wird). Die in Olsker nennt man »die Ele­gan­te« wegen ihrer ver­meint­lich schlan­ken Form, die in Nyker ist die klein­ste und jüng­ste, sie stammt aus dem 13. Jahr­hun­dert– die ande­ren sind etwa hun­dert Jah­re älter. Und die Kir­che in Nylars ist die am besten erhal­te­ne, selbst die Fres­ken stam­men aus der Zeit um 1250. Die Kalk­ma­le­rei­en zei­gen bibli­sche Moti­ve, etwa die Ver­trei­bung Adam und Evas aus dem Paradies.

Sodann wen­den wir uns gen Nor­den, wo auf den Klip­pen Ham­mers­hus liegt, oder bes­ser: was von die­ser einst stark befe­stig­ten Anla­ge aus dem 13. Jahr­hun­dert übrig­ge­blie­ben ist. Um die Insel in der Ost­see ran­gen kon­ti­nu­ier­lich kirch­li­che und welt­li­che Mäch­te. Mal gehör­te sie den Erz­bi­schö­fen von Lund (die das Boll­werk auch hat­ten errich­ten las­sen), mal der däni­schen Kro­ne. Dann saßen die Vög­te der Lübecker Han­se dort, die das Anwe­sen im 16. Jahr­hun­dert zur größ­ten Burg­an­la­ge in Nord­eu­ro­pa aus­bau­en lie­ßen. Allein die Ring­mau­er war einen Drei­vier­tel­ki­lo­me­ter lang. Die Grö­ße über­for­der­te wohl stets die jewei­li­gen Eigen­tü­mer. 1743 gab die däni­sche Kro­ne die Burg, die zuletzt als Gefäng­nis gedient hat­te, end­gül­tig auf. Ich glau­be, dass es weni­ger am Feu­er, also an der Hei­zung, son­dern mehr an der Fura­ge lag. Das Wach- und son­sti­ges Per­so­nal ver­zehr­te mehr Fleisch und Wurst als Getrei­de und Brot, und das Fleisch war stark gesal­zen, was ver­ständ­li­chen Durst ver­ur­sach­te, der mit Bier gelöscht wur­de. Der durch­schnitt­li­che Ver­brauch habe bei sechs Liter am Tag gele­gen, heißt es.

Jahr­zehn­te­lang hol­ten sich anschlie­ßend die Bau­ern der Umge­bung Bau­ma­te­ri­al aus Ham­mers­hus, bis 1822 der däni­sche König die ver­blie­be­nen Reste unter Denk­mal­schutz stell­te. Noch vor Ablauf des Jahr­hun­derts begann man die­se zu kon­ser­vie­ren, was bis heu­te geschieht. Vor vier Jah­ren bau­te man an den gegen­über­lie­gen­den Hang ein Besu­cher­zen­trum, das sich fan­ta­stisch, nahe­zu unauf­fäl­lig in die zer­klüf­te Land­schaft fügt.

Und wei­ter ging es an die Süd­ost­kü­ste, nach Nexø. Die Stadt ist mit etwas mehr als drei­ein­halb­tau­send Ein­woh­ner die Größ­te der Insel, nächst Røn­ne, und wird unter Wiki­pe­dia als Hafen »mit Born­holms größ­ter Fische­rei­flot­te« geführt. Das aber ist Schnee von gestern, denn kein Fisch auf der Insel kommt aus der Ost­see. Die Fische­rei ist so gut wie tot, die vor­ge­schrie­be­nen Fang­quo­ten sind der­art redu­ziert, dass sich das Gewer­be nicht mehr lohnt. (sie­he auch Ossietzky 16/​17/​2021: »Ost­see­fi­scher«) Selbst die über­all im Land anzu­tref­fen­den Fisch­räu­che­rei­en hän­gen impor­tier­tes See­ge­tier in den Rauch und schwei­gen über des­sen Herkunft.

In Nexø, unweit der Haupt­stra­ße, steht ein klei­nes, gel­bes Häus­chen mit einem win­zi­gen Gar­ten. Dort wohn­te die Fami­lie Ander­sen, die 1877 aus Kopen­ha­gen hier­her­ge­zo­gen war. Der damals acht­jäh­ri­ge Sohn Mar­tin wur­de Schu­ster und hät­te gewiss hier kein Muse­um bekom­men, wenn er denn bei sei­nen Lei­sten geblie­ben wäre. Er ver­ar­bei­te­te spä­ter sei­ne Kind­heits­er­fah­run­gen in einem 1910 erschie­ne­nen Buch, das ihn welt­be­kannt mach­te: »Pel­le der Erobe­rer«. Sei­nem Namen füg­te er noch den Ort hin­zu, wes­halb wir den Autor nur als Mar­tin Ander­sen Nexö ken­nen. Das Gebäu­de besteht aus vier klei­nen Räu­men, in denen viel über den nach­ma­li­gen Natio­nal­preis­trä­ger der DDR mit­ge­teilt wird. In einer Vitri­ne lie­gen sei­ne Toten­mas­ke, sei­ne Tabaks­pfei­fen und eine Urkun­de des Ber­li­ner Dietz Ver­la­ges vom 26. Juni 1952: »Unse­rem Freund und Genos­sen Mar­tin Ander­sen Nexö, dem uner­müd­li­chen Kämp­fer für Frie­den und Wohl­stand der Werk­tä­ti­gen zum 83. Geburts­tag in Dank­bar­keit über­reicht.« Was über­reicht wur­de, ist nicht erklärt: die sil­ber­ne Tee­kan­ne dane­ben, eine Medail­le mit sei­nem Kon­ter­fei oder der Brief­öff­ner mit dem roten Stern?

Nexö war als Mit­be­grün­der der »Dan­marks Kom­mu­ni­stis­ke Par­ti« Dele­gier­ter des IV. Welt­kon­gres­ses der Kom­mu­ni­sti­schen Inter­na­tio­na­le in Mos­kau und auch sonst poli­tisch sehr aktiv, wor­an die­se Zeit­schrift, wohl als ein­zi­ge, anläss­lich sei­nes 150. Geburts­ta­ges vor drei Jah­ren (Man­fred Orlick: »Pel­le« und »Dit­te Men­schen­kind«, Ossietzky 12/​2019) ange­mes­sen erin­ner­te. Im Kal­ten Krieg sie­del­te Nexö in die DDR über, wo er 1954 in Dres­den ver­starb. Die dor­ti­ge Trau­er­fei­er, so ist im Video in sei­nem Arbeits­zim­mer zu sehen, hat­te die Dimen­si­on eines Staats­be­gräb­nis­ses. Gezeigt wer­den auch Sequen­zen aus der DDR-Ver­fil­mung von »Pel­le der Erobe­rer«, die mit Sze­nen aus der däni­schen Ver­fil­mung kon­tra­stiert wer­den, wel­che 1987, also zwei Jah­re spä­ter, ent­stan­den war. Mein Älte­ster war damals für die Haupt­rol­le von Film­re­gis­seur Chri­sti­an Stein­ke erfolg­reich geca­stet wor­den – er war damals elf und hat­te stroh­blon­des Haar wie Pel­le –, doch es lag an den Kühen: Mein Kind fürch­te­te gro­ße Tie­re. Und da Pel­le Rin­der hüten muss­te, erle­dig­te sich die Film­kar­rie­re mei­nes Soh­nes, ehe sie begon­nen hatte.

Hin­ter Nexø beginnt der Sand­strand an der sonst von Fel­sen und Stei­nen gesäum­ten Insel. Schon vom Wei­ten sieht man einen wei­ßen Turm am Strand von Due­odde, der sich wie ein Ach­tungs­zei­chen in den Him­mel reckt. Es ist der von der Nato errich­te­te Horch­po­sten, von dem aus – wie etwa vom Teu­fels­berg in West­ber­lin – elek­tro­nisch in den Ost­block hin­ein­ge­lauscht wur­de. Der däni­sche Geheim­dienst nutz­te dafür seit 1948 bereits den dane­ben­ste­hen­den Leucht­turm. Die Spio­na­ge­zen­tra­le wur­de suk­zes­si­ve aus­ge­baut und schließ­lich 1986 die­ser sieb­zig Meter hohe Turm errich­tet. Dort steht er noch immer, auch wenn 2012 die Tech­nik demon­tiert wur­de und seit­her das bizar­re Bau­werk ledig­lich als Aus­sichts­turm genutzt wird.

Der Betrei­ber – ob pri­vat oder staat­lich, das ist nicht zu erken­nen – wirbt mit den Köp­fen von Chruscht­schow und Ken­ne­dy für ein »Muse­um des Kal­ten Krie­ges« und für eine Mini­golf­an­la­ge auf dem umzäun­ten Are­al. Es ist, um es kurz zu machen, die kon­fu­se­ste, däm­lich­ste Aus­stel­lung, die ich jemals besucht habe. Die ein­zi­ge Syste­ma­tik ver­moch­te ich im Muse­ums­shop zu erken­nen: Da waren ordent­lich die Bücher von den Metall­bil­dern, die Regen­schir­me von den Ansteck­na­deln und die Fah­nen von den Pla­ka­ten und Plüsch­tie­ren geschie­den. In der Aus­stel­lung selbst, die sich über das Laby­rinth der ein­sti­gen Geheim­dienst­räu­me ver­teilt, kann man viel, sehr viel Unver­ständ­li­ches lesen. Für die Über­set­zun­gen hat­te man wohl auf Mut­ter­sprach­ler ver­zich­tet. Und so gesellt sich zum inhalt­li­chen Dilet­tan­tis­mus auch noch der sprach­li­che: »Einer der Epi­so­den wo die däni­schen Abhör­sta­tio­nen und beson­der die auf Due­odde ihren Wert bewie­sen hat, war in der Ver­bin­dung mit der Inva­si­on des War­schau­er­pak­tes in der Tsche­cho­slo­wa­kei im August 1968. Schon Mona­te vor­her hat­te der Geheim­dienst duch die elek­tro­ni­sche über­wa­chung der öst­li­chen Ein­hei­ten hin­ter dem eiser­nen Vor­hang erfah­ren, dass die Ein­hei­ten des War­schau­er-Pak­tes um Tsche­cho­slo­wa­ki­en her­um, im Ein­satz waren, weil die Regie­rung im Früh­jahr 1968 beschlos­sen hat­te, das sozia­li­sti­sche System zu refor­mie­ren.« Aha. So kann man also Geschich­te pla­stisch erklären.

Natür­lich war der Lift außer Betrieb. So stie­gen wir die 417 Stu­fen hin­auf zur Spit­ze. Der Mus­kel­ka­ter war erheb­lich nach­hal­ti­ger als die Erin­ne­rung an die­se eklek­ti­zi­sti­sche Expo­si­ti­on. Wir rät­seln zum Bei­spiel noch immer, was die aus­ge­stell­te MiG 15, mit der ein Pole im März 1953 nach Røn­ne geflo­hen war, mit dem KZ Ausch­witz, dem ein gan­zer Raum gewid­met ist, mit einer Schirm­müt­ze, der man ein Band mit dem Schrift­zug »Mini­ste­ri­um für Staats­si­cher­heit« umge­legt und einen wei­ßen Bezug mit Kokar­de über­ge­zo­gen hat­te, mit­ein­an­der zu tun haben. Wir sind noch immer ratlos.

Am ori­gi­nell­sten waren noch die Ein­tritts­kar­ten, die nur eine Zahl auf­wie­sen. Unse­re lau­te­ten 28 und 29. Wahr­schein­lich hat­te man den Preis wegen der Infla­ti­on nicht auf­ge­druckt. Das Bil­lett koste­te übri­gens 100 Kro­nen, also 13,50 €. Ganz schön viel Geld für so wenig Erkenntnis.

Wäre ich dort oben, auf dem Turm, ein paar Tage geblie­ben, hät­te ich Ende Sep­tem­ber die Gas­bla­sen aus dem Meer stei­gen sehen. Hart an der Gren­ze zum däni­schen Ter­ri­to­ri­al­ge­wäs­ser ver­läuft hier die rus­si­sche Pipe­line Nord Stream 2, die an eben jener Stel­le ein Leck bekam und leer­lief. Und obwohl die Ost­see zu den am besten über­wach­ten Mee­ren der Welt gehört, weiß man angeb­lich noch immer nicht, was in sieb­zig Meter Tie­fe geschah. Ein Rät­sel wie damals der Unter­gang der Belu­ga. Auch dies­mal fand zufäl­lig in der Nähe ein Manö­ver statt. Das Feh­marn­sche Tage­blatt – übri­gens das ein­zi­ge deut­sche Medi­um, das die­se Nach­richt brach­te – ver­mel­de­te am 24./25. Sep­tem­ber: »Nato-Flot­ten­ver­band mit Flagg­schiff ›USS Kear­sar­ge‹ ver­lässt die Ost­see.« Die US-Schif­fe hät­ten zuvor »an Nato-Manö­vern« teil­ge­nom­men. Der Flug­zeug­trä­ger sei übri­gens das größ­te US-Kriegs­schiff gewe­sen, »das in den letz­ten 30 Jah­ren in der Ost­see im Ein­satz war«. Das stimmt nicht ganz: Die USS Kear­sar­ge, eines der größ­ten Schif­fe der Kriegs­ma­ri­ne der USA, nahm auch 1999 an dem Nato-Manö­ver teil, bei dem die Belu­ga sank.

Am 26. Sep­tem­ber zer­stör­ten meh­re­re Deto­na­tio­nen die bei­den rus­si­schen Pipelines …