Skip to content

Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

Menu
Menu

Anna Seghers’ Jahre in Mexiko

Nach der Macht­über­nah­me der Natio­nal­so­zia­li­sten 1933 wur­den die Bücher von Anna Seg­hers ver­bo­ten. Kurz­zei­tig war sie sogar von der Gesta­po ver­haf­tet wor­den. Danach gelang ihr mit ihrem Mann und ihren bei­den Kin­dern die Flucht nach Paris. Dort arbei­te­te sie in anti­fa­schi­sti­schen Exil­zeit­schrif­ten mit, und es ent­stan­den die Roma­ne »Der Kopf­lohn« und »Der Weg durch den Febru­ar«. Nach dem Ein­marsch deut­scher Trup­pen in die fran­zö­si­sche Haupt­stadt floh sie schließ­lich nach Mar­seil­le in den unbe­setz­ten Teil Frank­reichs, wo sie mit der Arbeit an ihrem Roman »Das sieb­te Kreuz« begann. Doch auch hier war sie nicht lan­ge in Sicherheit.

Im Früh­jahr 1941 gelang ihr mit einem der letz­ten Schif­fe, die Mar­seil­le ver­lie­ßen, die Über­fahrt ins mexi­ka­ni­sche Exil. Eigent­lich woll­te sie mit ihrer Fami­lie nach New York, doch die Ein­wan­de­rungs­be­hör­de in Ellis Island wies sie ab. Also Mexi­ko, sechs Jah­re blieb sie im latein­ame­ri­ka­ni­schen Exil, bevor sie 1947 über Schwe­den und Frank­reich nach Deutsch­land zurück­kehr­te, das ihr inzwi­schen fremd gewor­den war.

In der Neu­erschei­nung »Bren­nen­des Licht« erzählt der Poli­tik­wis­sen­schaft­ler und Ger­ma­nist Vol­ker Wei­der­mann von den bewe­gen­den Jah­ren, die die Schrift­stel­le­rin nach­hal­tig präg­ten und die die Wei­chen für ihr spä­te­res Leben und Schaf­fen stell­ten. Abge­kämpft muss sie zunächst die lebens­not­wen­di­gen All­tags­din­ge der Fami­lie mana­gen, denn ihr Ehe­mann ist in die­ser Hin­sicht mehr als uner­fah­ren. Außer­dem muss sie Geld ver­die­nen. Gleich­zei­tig knüpft sie Kon­tak­te zu ande­ren Exil­schrift­stel­lern, aber auch zu inter­na­tio­na­len Künst­lern und Intel­lek­tu­el­len wie Pablo Neru­da, Fri­da Kahlo oder Die­go Rive­ra. Sie grün­det mit Egon Erwin Kisch den anti­fa­schi­sti­schen Hein­rich-Hei­ne-Klub als deut­sche Lite­ra­tur- und Kul­tur­ver­ei­ni­gung und wird des­sen Prä­si­den­tin. Zusam­men mit Lud­wig Renn orga­ni­siert sie die Bewe­gung »Frei­es Deutsch­land« und gibt die gleich­na­mi­ge Zeit­schrift her­aus. Im Juni 1943 erlei­det sie einen schwe­ren Ver­kehrs­un­fall. Es folgt ein lan­ger Kran­ken­haus­auf­ent­halt, doch mit­hil­fe von Ärz­ten und Freun­den kämpft sie sich ins Leben, in ihr Schrift­stel­ler­da­sein zurück.

Dar­über hin­aus stürzt sich Seg­hers in ihre Schreib­ar­beit. Dafür hat sie sich auf der Dach­ter­ras­se ihres Wohn­hau­ses ein »Schreib­pa­ra­dies« ein­ge­rich­tet: ein Stuhl und ein klei­ner Tisch, über­spannt mit einem Segel­tuch gegen die Son­ne, aber mit einem wun­der­ba­ren Blick über die Dächer. Neben der Erzäh­lung »Aus­flug der toten Mäd­chen« voll­endet sie hier die in Euro­pa bereits begon­ne­nen Roma­ne »Tran­sit« und »Das sieb­te Kreuz«. Letz­te­res Buch begrün­det ihren Welt­ruhm, es wird 1944 in den USA von Fred Zin­ne­mann ver­filmt und macht sie finan­zi­ell unabhängig.

Mag die mexi­ka­ni­sche Welt auch noch so schil­lernd sein, das Land bleibt ihr weit­ge­hend fremd. Bis zuletzt spricht sie kein Spa­nisch. Außer­dem bestim­men Ver­däch­ti­gun­gen und Äng­ste den All­tag. War der Auto­un­fall viel­leicht ein Atten­tat? Das FBI ist all­ge­gen­wär­tig, und Sta­lins Arm reicht auch ins fer­ne Exil. (Leo Trotz­ki wur­de in Mexi­ko-City ermor­det.) Und dann ist da noch die Sor­ge um die Zuhau­se­ge­blie­be­nen und ihre Sehn­sucht nach Euro­pa. Trotz­dem wird sie spä­ter die Jah­re in Mexi­ko als »die schön­sten mei­nes Lebens« bezeichnen.

Vol­ker Wei­der­mann zeich­net Seg­hers’ Leben und Arbei­ten in Mexi­ko inten­siv und ein­fühl­sam nach; er bringt die mensch­li­che Sei­te der Schrift­stel­le­rin nahe, ihre Rol­le als Ehe­frau und Mut­ter. Dane­ben beleuch­tet er die poli­ti­sche Ein­stel­lung der über­zeug­ten Kom­mu­ni­stin, die dem ideo­lo­gi­schen Kor­sett ihrer ver­meint­li­chen Gewiss­hei­ten kaum ent­kom­men konnte.

Doch zum Ende des Exils ist es ein­sam um sie gewor­den. Die bei­den Kin­der gehen nach Paris, und ihr Mann nimmt die mexi­ka­ni­sche Staats­bür­ger­schaft an und folgt ihr erst 1952 nach Deutsch­land. Neben dem Auf­ent­halt von Anna Seg­hers ver­folgt der Autor auch den All­tag deut­scher und jüdi­scher Künst­ler im latein­ame­ri­ka­ni­schen Exil in den 1940er Jahren.

Wei­der­mann schlägt mit sei­ner Bio­gra­fie immer wie­der einen lite­ra­ri­schen Ton an, man­che Epi­so­den tra­gen sogar poe­ti­sche Züge. Mit­un­ter schlüpft er in die Rol­le sei­ner Prot­ago­ni­stin und ver­sucht mit dem Mit­tel der erleb­ten Rede ihre Gedan­ken und Gefüh­le nach­zu­emp­fin­den. So ist die Dar­stel­lung der Exil­ge­schich­te eine Mischung aus Roman und Sach­buch; dafür fehlt aber lei­der ein Per­so­nen­re­gi­ster. In sei­nem Nach­wort »Blaue Welt« berich­tet der Autor von sei­ner per­sön­li­chen Spu­ren­su­che, die er Ende 2019 mit sei­ner älte­sten Toch­ter in Mexi­ko unter­nom­men hat. Anschlie­ßend begab er sich nach Paris, um den 94-jäh­ri­gen Pierre Rad­vá­nyi, den älte­sten Sohn von Anna Seg­hers, zu treffen.

Das viel­schich­ti­ge bio­gra­fi­sche Por­trät ist eine will­kom­me­ne Anre­gung, die bedeu­ten­den Wer­ke von Anna Seg­hers wie­der ein­mal in die Hand zu neh­men. Ihr Todes­tag jährt sich am 1. Juni 2023 zum 40. Mal.

Vol­ker Wei­der­mann: Bren­nen­des Licht – Anna Seg­hers in Mexi­ko, Auf­bau Ver­lag, Ber­lin 2021, 186 S., 18 €.