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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Ein Sommer, der ein Winter war

Das Jahr 1816 hat in mei­nen Nach­schla­ge­wer­ken kei­nen gro­ßen Auf­tritt. Wer­ner Stein genüg­ten in sei­nem 2000 Sei­ten umfas­sen­den Wäl­zer Der gro­ße Kul­tur­fahr­plan sie­ben schma­le Spal­ten von jeweils acht Zen­ti­me­tern Län­ge. Sie enden mit dem fol­gen­den lapi­da­ren Hin­weis: »Extrem kal­ter Som­mer i. Euro­pa.« Der dafür maß­geb­li­che Vor­gang hat­te sich schon am 10. April 1815 öst­lich von Java ereig­net und lässt sich in der Rubrik des Vor­jah­res fin­den: »Vul­kan­aus­bruch auf Sum­ba­wa erf. über 56 000 Tote.«

Der gro­ße Plötz, die Enzy­klo­pä­die der Welt­ge­schich­te, mel­det eben­falls in zwei Zei­len den Vul­kan­aus­bruch und außer­dem den Tod von »min­de­stens 70 000 Men­schen«. In der Brock­haus Enzy­klo­pä­die sind es schon acht Zei­len, dafür aber 60 000 Tote weni­ger: »Tam­bo­ra, Vul­kan im N der Insel Sum­ba­wa, Indo­ne­si­en, 2851 m ü. M. Der Aus­bruch von 1815 for­der­te über 10 000 Men­schen­le­ben; die Aus­wurf­ma­ssen (150 km3) wur­den über ein Gebiet von über 0,5 Mio. km2 ver­streut; der Staub soll bis in 70 km Höhe gelangt sein und beein­träch­tig­te die Wit­te­rung auch in Nord­ame­ri­ka und Tei­len Euro­pas erheb­lich (›Jahr ohne Sommer‹).«

Die Lücke in der Dar­stel­lung der Nach­schla­ge­wer­ke hat der Jour­na­list Timo Feld­haus mit sei­nem im Mai die­ses Jah­res erschie­ne­nen Buch Mary Shel­leys Zim­mer – Als 1816 ein Vul­kan die Welt ver­dun­kel­te geschlos­sen. Nach sei­nen Anga­ben star­ben allein auf Sum­ba­wa und den umlie­gen­den Inseln Lom­bok und Bali 117 000 Men­schen durch den Aus­bruch des Vul­kans. Der an der Uni­ver­si­tät des Saar­lan­des leh­ren­de Histo­ri­ker Wolf­gang Beh­rin­ger ver­mu­tet sogar, »dass die direk­ten Aus­wir­kun­gen des Vul­kan­aus­bruchs, die Hun­gers­nö­te, sozia­len Kri­sen und die sich dar­aus ent­wickeln­de Cho­le­ra welt­weit mehr Opfer for­der­ten als der Erste und der Zwei­te Welt­krieg zusam­men«. In Indo­ne­si­en wur­de der Lebens­raum der Über­le­ben­den auf Jah­re zerstört.

Der Vul­kan­aus­bruch auf der 12 000 Kilo­me­ter von Euro­pa ent­fern­ten Insel gilt als die unge­heu­er­lich­ste Explo­si­on in histo­ri­scher Zeit, »mit der Kraft von zehn­tau­sen­den Hiroshima-Bomben«:

»Drei glü­hen­de Lava­säu­len schos­sen in den Him­mel, fie­len her­ab und ver­wan­del­ten den Vul­kan­berg in ein Infer­no aus Feu­er. Mil­lio­nen Ton­nen Gestein, Gas und Staub kämpf­ten sich durch den Schlund und stie­ßen unter unvor­stell­ba­rem Don­ner in alle Rich­tun­gen.« Der Mag­ma­strom »traf den Oze­an mit sol­cher Kraft, dass sich ein mäch­ti­ger Tsu­na­mi bil­de­te. Zugleich ließ die hei­ße Luft, die aus dem Schlund kroch, Orkan­win­de zusam­men­lau­fen, die Häu­ser und Men­schen aufs Meer hinaustrugen.«

Die Ton­nen von Schwe­fel wur­den außer­ge­wöhn­lich hoch in die Stra­to­sphä­re geschleu­dert. Das vul­ka­ni­sche Mate­ri­al »umschlang in nur drei Wochen den Äqua­tor wie ein Gür­tel. Inner­halb des näch­sten Jah­res« – dem Jahr 1816 – »brei­te­te es sich über den gan­zen Erd­ball aus. Dort stell­te die graue Wol­ke sich dem Son­nen­licht in die Que­re. Sie reflek­tier­te das Licht zurück ins All, und die Erde kühl­te ab.«

Dem, was zu jener Zeit unter die­ser rie­si­gen Schwe­fel­wol­ke vor allem in Euro­pa geschah, hat Feld­haus nach­ge­spürt. Und so eilt er mit leich­tem Ton und zügi­gem Tem­po zwi­schen aus­ge­wähl­ten Schau­plät­zen und aus­ge­such­ten Prot­ago­ni­sten hin und her durch die Lan­de: Lon­don, Wei­mar, Paris, Rügen, Dres­den, Genf, Ber­lin und selbst­ver­ständ­lich Sum­ba­wa sind die zen­tra­len Handlungsorte.

Wir begeg­nen Lord Byron, der Lon­don für immer ver­lässt und sich am Gen­fer See eine Vil­la mie­tet, wohin ihm Mary und Per­cy Byss­he Shel­ley fol­gen. Wir tref­fen auf Goe­the, der an sei­nem West­öst­li­chen Divan und der Auto­bio­gra­fie Dich­tung und Wahr­heit arbei­tet und in Anbe­tracht des »himm­li­schen Schau­spiels« sei­nen Ver­such einer Wit­te­rungs­leh­re unter­nimmt. Wir tref­fen Cas­par David Fried­rich, der in jenen Tagen Bil­der mit schwe­fel­gel­ben Wol­ken und mit Land­schaf­ten in ent­schie­de­nem Rot und Grün malt. Wir beob­ach­ten Napo­le­on wäh­rend sei­ner Ver­ban­nung auf Sankt Hele­na, wo er über die am 18. Juni 1815 ver­lo­re­ne Schlacht bei Water­loo sin­niert, als »Regen die Klei­der der Sol­da­ten durch­tränk­te«, »den Feind unsicht­bar« und »den Tag fast zu einer hal­ben Nacht mach­te«, wie Joseph Roth 1936 in sei­nem Napo­le­on-Roman »Die 100 Tage« schrieb. Und wir begeg­nen Fried­rich Wil­helm Jahn, der mit natio­na­li­sti­schen Reden und kör­per­li­cher Ertüch­ti­gung Stu­den­ten für den Krieg stähl­te und sie der­ar­tig zu Fana­ti­kern mach­te, dass einer der Bur­schen­schaft­ler, Karl Lud­wig Sand, vier Jah­re spä­ter den Schrift­stel­ler Fer­di­nand von Kot­ze­bue erschoss. Die­ser hat­te den »Turn­va­ter Jahn« sowie die Tur­ner­bün­de und Bur­schen­schaf­ten in sei­nem Lite­ra­ri­schen Wochen­blatt ver­spot­tet. In meh­re­ren Kapi­teln befasst sich Feld­haus mit den Aus­wir­kun­gen der durch die »schwar­ze Son­ne« her­bei­ge­führ­ten Hun­gers­not unter der Bevöl­ke­rung und mit den Vor­bo­ten der indu­stri­el­len Ent­wick­lung auf dem euro­päi­schen Fest­land und in England.

Im Mit­tel­punkt aber ste­hen die titel­ge­ben­de Mary Shel­ley und die fan­ta­sie­vol­len Gesprä­che in der von Lord Byron ange­mie­te­ten Vil­la Dio­da­ti am Gen­fer See zwi­schen ihr, ihrem Ehe­mann Per­cy Byss­he Shel­ley, dem Dich­ter Lord Byron und des­sen Leib­arzt John Poli­do­ri, in denen Mary Shel­ley die Idee zu ihrem nur zwei Jah­re spä­ter erschei­nen­den Welt­ro­man Fran­ken­stein ent­wickel­te. (Sie­he dazu: Ossietzky, Heft 13/​2022, »Eine star­ke Frau«, über Mary Shel­leys Roman »Der letz­te Mensch«.)

 Timo Feld­haus: Mary Shel­leys Zim­mer – Als 1816 ein Vul­kan die Welt ver­dun­kel­te, 318 S., Rowohlt Ver­lag, Ham­burg 2022, 26 €.