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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Antifaschismus heute

Wenn Olaf Scholz in sei­ner Neu­jahrs­an­spra­che, ange­sichts von Coro­na-Kri­se und Flut­ka­ta­stro­phe, die Soli­da­ri­tät der Deut­schen lobt und eine Spal­tung der Gesell­schaft nicht erken­nen kann, so sitzt er erneut dem alten sozi­al­de­mo­kra­ti­schen Wunsch­den­ken »Ver­söh­nen statt Spal­ten« auf. Das hat mit einer rea­li­sti­schen Beur­tei­lung der sozia­len und poli­ti­schen Wirk­lich­keit in Deutsch­land und der streit­ba­ren Durch­set­zung eines drin­gend not­wen­di­gen sozi­al-öko­lo­gi­schen Wan­dels wenig zu tun. Hier ver­drängt er, wie gehabt, die poli­ti­schen Her­aus­for­de­run­gen einer zuneh­men­den Kluft zwi­schen Arm und Reich, das nach wie vor bestehen­de sozia­le Gefäl­le zwi­schen Ost und West, zwi­schen Frau­en und Män­nern, Inlän­dern und Aus­län­dern, zwi­schen Pro­fit-ori­en­tier­ter Wirt­schaft und deren kata­stro­pha­len sozi­al-öko­lo­gi­schen Fol­gen. Vor allem aber ver­drängt er die Tat­sa­che, dass rech­te, natio­na­li­sti­sche Kräf­te – wie noch nie nach 1945 – eine unüber­seh­ba­re men­ta­le und poli­ti­sche Mei­nungs­macht inner­halb und außer­halb der Par­la­men­te wie­der­ge­won­nen haben.

Was aber wäre die alter­na­ti­ve Bot­schaft zu einer schön­ge­färb­ten Rea­li­täts­ver­wei­ge­rung, die an das har­mo­ni­sie­ren­de Wunsch­den­ken einer sich her­aus­bil­den­den (sozia­li­sti­schen) »Men­schen­ge­mein­schaft« der SED-Füh­rung erinnert?

Wenn die neue SPD-Innen­mi­ni­ste­rin Nan­cy Faeser anläss­lich ihrer Amts­ein­füh­rung zurecht sag­te: »Ein beson­de­res Anlie­gen wird mir sein, die größ­te Bedro­hung, die der­zeit unse­re frei­heit­lich demo­kra­ti­sche Grund­ord­nung hat, den Rechts­extre­mis­mus, zu bekämp­fen«, so ergibt eine sol­che, gera­de­zu inter­na­tio­nal gül­ti­ge, Aus­sa­ge für mich fol­gen­de soli­da­ri­sie­ren­den und iden­ti­täts­stif­ten­den Kern­bot­schaf­ten, wie wohl für die über­wäl­ti­gen­de Mehr­heit der in Deutsch­land leben­den Men­schen, die mit geschärf­ten Geschichts­be­wusst­sein auf den sin­gu­lä­ren Zivi­li­sa­ti­ons­bruch der NS-Zeit zurückblicken:

  1. Die Her­vor­brin­gung und kri­ti­sche Wei­ter­ent­wick­lung einer anti­fa­schi­sti­schen Kul­tur, die in bei­den deut­schen Staa­ten maß­geb­lich durch das wert­vol­le Erbe der poli­ti­schen Remi­gran­ten und KZ-Über­le­ben­den, nicht zuletzt der jüdi­schen, im Krieg und nach 1945 ent­stan­den ist, kann ein eini­gen­des men­ta­les Band in Deutsch­land Ost und West sowie im Kampf gegen den Rechts­extre­mis­mus sein. Dazu bedarf es einer neu­en poli­ti­schen und media­len Wür­di­gung die­ses gemein­sa­men deutsch-deut­schen Nach­kriegs­er­bes, das sich ein­sei­ti­gen Abwer­tun­gen ent­zieht, aber auch unter­schied­li­che Defi­zi­te, in bei­den deut­schen Staa­ten, wei­ter aufarbeitet.
  2. Der Schwur der Über­le­ben­den aller poli­ti­schen Lager von Buchen­wald »Nie wie­der Faschis­mus, nie wie­der Krieg!« muss die zen­tra­le Richt­schnur der Innen- und Außen­po­li­tik sowie der Bil­dungs- und Medi­en­po­li­tik in Deutsch­lands wer­den. Dazu gehört auch, die bis­he­ri­ge Mili­tär- und Flücht­lings­po­li­tik der EU und Nato grund­sätz­lich, in die­sem Sin­ne infra­ge zu stel­len und zu ver­än­dern. Es gilt, Kon­flik­t­ur­sa­chen durch inter­na­tio­na­le Frie­dens- und Ent­span­nungs­po­li­tik prä­ven­tiv zu ent­schär­fen, anstatt sie auf Kosten der Men­schen­rech­te von Migran­ten natio­na­li­stisch auszutragen.
  3. Die Bekämp­fung von Natio­na­lis­mus, Rechts­extre­mis­mus und Frem­den­feind­lich­keit kann nur dann nach­hal­tig gelin­gen, wenn nicht nur die Sym­pto­me und Erschei­nungs­for­men der Hass­pro­pa­gan­da und Gewalt­aus­brü­che kon­se­quent rechts­staat­lich bekämpft wer­den, son­dern wenn das gra­vie­ren­de und ursäch­li­che sozia­le Gefäl­le in den Lebens­be­din­gun­gen und Lebens­per­spek­ti­ven aller Men­schen viel stär­ker als bis­her zurück­ge­drängt wird.
  4. Der drin­gend not­wen­di­ge öko­lo­gi­sche Umbau der Gesell­schaft darf die sozi­al Schwa­chen nicht zusätz­lich bela­sten, son­dern kann nur durch eine Umsteue­rung gesell­schaft­li­chen Reich­tums von oben nach unten sozi­al ver­träg­lich gelingen.
  5. Der immer wie­der zitier­te grund­ge­setz­li­che Arti­kel, dass die Wür­de des Men­schen unan­tast­bar sei, soll­te dau­er­haft im All­tag und in allen Gesell­schafts- und Poli­tik­be­rei­chen, das zen­tra­le Gebot und der ent­schei­den­de soli­da­ri­sie­ren­de Maß­stab des Han­dels sein, um gra­vie­ren­de Dis­kre­pan­zen zwi­schen Ver­fas­sungs­text und Ver­fas­sungs­wirk­lich­keit zu über­win­den. »Respekt« – ein zen­tra­ler Topos im Wahl­kampf des jet­zi­gen Kanz­lers Scholz – ein­zu­for­dern, ist ein guter erster Schritt. Der Vor­satz muss nun aber auch mit eige­nen Taten, mit Regie­rungs­han­deln unter­legt werden.