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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Skurrile Figuren und Köpfe

Es ist eine klein­tei­li­ge, eine minia­tur­haf­te Welt, die der Gra­fi­ker, Zeich­ner, Buch­gra­fi­ker, aber auch Schrift­stel­ler und Her­aus­ge­ber Horst Hus­sel auf das Papier und ande­re Mate­ria­li­en brach­te. »Ich ver­fü­ge nicht über so gro­ße The­men, es ist immer eine klei­ne Beset­zung. Ich brau­che kein Orche­ster, die könn­te ich gar nicht alle beschäf­ti­gen«, sag­te der Künst­ler, der vor mehr als vier Jah­ren – im Novem­ber 2017 – ver­starb. Aber geblie­ben sind sei­ne skur­ri­len Figu­ra­tio­nen und Meta­mor­pho­sen, sei­ne iro­nisch-hin­ter­grün­di­gen Dar­stel­lun­gen. Man könn­te sie mit dem Titel eines Grab­be-Dra­mas benen­nen: Scherz, Sati­re, Iro­nie und tie­fe­re Bedeu­tung. Das Logi­sche wird bei ihm oft bis zum Para­do­xon gestei­gert. Linie und Far­be spie­len neben­ein­an­der ihre selb­stän­di­ge bedeut­sa­me Rol­le, die sich in der Fan­ta­sie des Betrach­ters zu gemein­sa­mer Wir­kung ergän­zen. Die Linie trägt die eigent­li­che Erzäh­lung vor und schmückt sie mit weni­gen, aber spre­chen­den Details aus; in ihrem ara­bes­ken­haf­ten, ja, ver­schnör­kel­ten Ver­lauf wird sie selbst zum Ele­ment die­ser Erzäh­lung. Die Far­be hat dane­ben eine ganz ande­re Auf­ga­be: Sie berich­tet nicht in bun­ten Lokal­far­ben, son­dern taucht die Zeich­nung in das Nuan­cen­spiel einer mono­chro­men Far­big­keit, die alle zeich­ne­ri­schen Details in einer Gesamt­stim­mung zusammenfasst.

Aus einer Pri­vat­samm­lung zeigt jetzt die Ber­li­ner Gale­rie Anke Zeisler mehr als 60 Radie­run­gen, Aqua­rel­le und Col­la­gen Hus­sels zu den The­men Lite­ra­tur, Musik und Tanz, meck­len­bur­gi­sche und bran­den­bur­gi­sche Land­schaf­ten, vor allem aber Figu­ren wie Köp­fe, die gleich­sam absichts­los aus dem Amor­phen ent­ste­hen, ohne erdrücken­de Dämo­nie, doch mit dem leich­ten Schau­er des Gru­seln­den. Mit­un­ter ist die gan­ze Flä­che des Bild­fel­des mit far­bi­gen Mustern bedeckt, schmuck­haf­ten Klein­struk­tu­ren, schein­bar ohne Plan anein­an­der­ge­reiht, aus denen skur­ri­le Gesich­ter, beun­ru­hi­gend und bedrän­gend, Vexier­bil­dern gleich, her­vor­ge­hen, die sich das Auge des Betrach­ters erst zusam­men­su­chen muss. Alles scheint rich­tungs­los, ein Her­aus­wach­sen eines Ele­men­tes aus dem ande­ren, eine unend­li­che Ket­te von Asso­zia­tio­nen. Eine skur­ri­le Gesell­schaft kommt hier zusam­men, zu der man gern die Sto­ry ken­nen möch­te. Zwi­schen abstra­hier­ter Men­schen­dar­stel­lung und gegen­stands­lo­ser Male­rei sind also Zwi­schen­stu­fen mög­lich, wie sie Hus­sel gezeich­net und gemalt hat. Das Bild des Men­schen ist als objet trou­vé der Flä­che ein­ge­bun­den. Das geht auf die Col­la­ge­tech­nik der Dada­isten zurück, Hus­sel hat aber auch Ideen aus der Décol­la­ge mit ein­be­zo­gen, indem er sozu­sa­gen aus »Alt­pa­pier« neue Col­la­gen erschuf.

Er über­mal­te Kanz­lei­pa­pie­re mit fan­ta­sti­schen Gestal­ten und zar­ten Aqua­rell­tö­nen, schuf nach der Wen­de eine eige­ne Wäh­rung für eine »Räte­re­pu­blik Mekel­en­burg«, womit er mit Witz und Ver­stand die Illu­sio­nen vie­ler Ost­deut­scher attackier­te, die ihre gan­ze Hoff­nung auf die D-Mark setz­ten. Dann wie­der – 2002 – erfand er den Kom­po­ni­sten Albrecht Kasi­mir Bölc­kow aus dem meck­len­bur­gi­schen Gäge­low, sodass man­che sogar an die Wie­der­ent­deckung eines ver­ges­se­nen Zeit­ge­nos­sen von Richard Wag­ner und Ver­di glaubten.

Hus­sel hat Bücher ande­rer Autoren und eige­ne Bücher illu­striert, er hat unzäh­li­ge Buch­ein­bän­de, Vor­satz­pa­pie­re, Vignet­ten und Signets ent­wor­fen. Dabei hielt er nicht viel davon, dass eine Illu­stra­ti­on unbe­dingt den Text inter­pre­tie­ren muss. Sie hat sich als »selb­stän­di­ge Zeich­nung« zu erwei­sen, die »für sich spricht«. Ande­rer­seits kam ihm das Illu­strie­ren auch inso­fern ent­ge­gen, weil ja auch sei­ne freie Gra­fik ein – wenn auch spar­sa­mes – erzäh­le­ri­sches Ele­ment ent­hält. In der Tra­di­ti­on eines Paul Scheer­bart, Kurt Schwit­ters oder Daniil Iwa­no­witsch Charms schrieb er Tex­te, die sich durch abgrün­dig küh­ne Umkeh­run­gen der Logik, par­odi­stisch bezie­hungs­rei­che Spie­le mit der Spra­che und logisch-seman­ti­sche Para­do­xien auszeichnen.

Seit 1994 hat­te er die Dron­te-Pres­se geführt, einen »Ver­lag für Samm­ler und Lieb­ha­ber«, und hier ver­ges­se­ne Tex­te, Erst­drucke zeit­ge­nös­si­scher Autoren, aber auch Eige­nes, so sein Sing­spiel »Land­auf­ent­halt« (mit der Musik von Georg Kat­zer), her­aus­ge­bracht, alle mit sei­nen Radie­run­gen ver­se­hen. Dron­te, ein im 17. Jahr­hun­derts aus­ge­stor­be­ner, flug­un­fä­hi­ger Kra­nich­vo­gel, der auf eine fried­li­che Umge­bung ange­wie­sen war, die ihm die Men­schen nicht mehr boten, war ihm ein gutes Omen für sei­ne kost­bar aus­ge­stat­te­ten Hom­ma­gen an Gei­stes­ver­wand­te, Freund­schafts­ga­ben, Erst­drucke wie Wie­der­ent­deckun­gen ver­gan­ge­ner Lite­ra­tur. Hus­sel hat Radie­run­gen auf alten Papie­ren gedruckt und sie kolo­riert, aber auch far­ben­fro­he Aqua­rel­le und Gou­achen sind auf Papie­ren aus dem 17., 18. und 19. Jahr­hun­dert ent­stan­den – eine Begeg­nung von Jahr­hun­dert zu Jahr­hun­dert fand statt, denn er hat der alten Beschrif­tung ein­fach sei­ne Schrift ent­ge­gen­ge­setzt –, und 2011 hat er auf den her­aus­ge­lö­sten Sei­ten eines Tokyo­ter Geschäfts­buchs mit abge­stem­pel­ten Rech­nun­gen die japa­ni­schen Schrift­zei­chen mit der arche­ty­pi­schen Zei­chen­haf­tig­keit sei­ner far­bi­gen Über­ma­lung verbunden.

Von der Offen­heit des Unbe­stimm­ten ist er zu erreich­ba­rer Klar­heit und Bestimmt­heit fort­ge­schrit­ten. Alles Gemach­te blieb sicht­bar, nichts ging ver­lo­ren. »Man erfin­det beim Zeich­nen, und Kor­rek­tu­ren gibt es nicht«, sag­te er. Das The­ma trat erst in der End­pha­se der Zeich­nung im Zustand der Ver­dich­tung und Ver­bin­dung aller Ebe­nen in Erschei­nung. Was er zunächst lan­ge im Ver­bor­ge­nen gehal­ten hat­te, sei­ne Figu­ren und Köp­fe, waren aus der psy­chi­schen Ver­let­zung her­auf­strö­men­de Bil­der einer leid­vol­len Exi­stenz, eines schmerz­haft uner­lö­sten Ver­wun­det­seins, auch des Zor­nes und der Wut über den Zustand der Welt, der qual­vol­len Sor­ge um die Zukunft. Das Auf­decken der ver­bor­ge­nen Wun­den der Welt schien die­se unru­hi­gen Kur­vat­u­ren, die­ses suchen­de Strich­werk in Bewe­gung zu hal­ten und dafür Bild­zei­chen zu set­zen. Die wil­de Aus­drucks­ge­ste, das Eksta­ti­sche, Spon­ta­ne, die Pro­vo­ka­ti­on des Zufäl­li­gen, das sind die Ver­fah­ren, die ihm Dada, Sur­rea­lis­mus, Art Brut, die »rohe« von Kul­tur und Zivi­li­sa­ti­on freie Kunst gesell­schaft­li­cher Außen­sei­ter und die Grup­pe COBRA ver­mit­telt haben.

Dass dem in Meck­len­burg gebür­ti­gen, seit 1954 in Ber­lin leben­den Hus­sel eine nord­deut­sche Kau­zig­keit eigen sei, hat er nicht abge­strit­ten. Ber­lin wür­de nicht den Zwang zur Iden­ti­fi­ka­ti­on aus­üben wie ande­re Orte.

Horst Hus­sel – Radie­run­gen, Aqua­rel­le, Col­la­gen aus einer Pri­vat­samm­lung. Gale­rie Anke Zeisler, Geth­se­ma­ne­str. 9, 10437 Ber­lin. Geöff­net nach Ver­ein­ba­rung, 2G mit Mas­ke (Tele­fon 030 44793 511 oder 0172 830 89 28) bis 9. Febru­ar 2022 sowie in der ESPRES­So­BAR, Keit­h­stra­ße 5, 10787 Ber­lin, Mo-Fr, 8.00-15.00 Uhr. online http://www.galerie-zeisler.de/aktuell.php.