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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Blöde Sprüche, freche Scherze

Heu­te geht es um Nasen. Nein, nicht um Nasen, wie sie mir seit Kind­heit und Jugend prä­sent sind. Also weder um Pinoc­chi­os zeit­wei­se län­ger wer­den­de Nase, nicht um Gogols »Nase«, auch nicht um Hauffs »Zwerg Nase«. Und nicht um Charles de Gaul­le, Spitz­na­me »Le Nez«, des­sen Zin­ken ihn in jeder Kari­ka­tur in den 1950er/​1960er Jah­ren sofort erkenn­bar machte.

Mit Hein­rich Hei­ne nähern wir uns unse­rem Sujet. In sei­nem Gedicht »Don­na Cla­ra« beschrieb er, wie des Alkal­den Toch­ter durch den abend­li­chen Gar­ten wan­delt, von einem unbe­kann­ten Rit­ter und des­sen leuch­ten­den Augen im edel­b­las­sen Ant­litz träu­mend. Sie errö­tet, als der Ange­him­mel­te plötz­lich vor ihr steht. Mücken hät­ten sie gesto­chen, ver­sucht sie abzu­wie­geln, und die sei­en ihr »so tief ver­haßt, als wären’s langenas’ge Juden­rot­ten« (Ori­gi­nal­schreib­wei­se).

Klar, Juden haben doch lan­ge Nasen, oder? Ich bin doch kein Anti­se­mit, wenn ich das sage, oder? Stopp, ruft da Tho­mas Mey­er, in Zürich leben­der Schrift­stel­ler, Sohn einer jüdi­schen Mut­ter: »Was soll an mei­ner Nase bit­te jüdisch sein?« Und er fügt hin­zu, eine »jüdi­sche Nase« kön­ne es gar nicht geben, weil das Juden­tum kei­ne Eth­nie sei, son­dern eine Glau­bens­ge­mein­schaft, wie zum Bei­spiel das Chri­sten­tum, der Men­schen aus ver­schie­de­nen Völ­kern ange­hör­ten. Die »jüdi­sche Nase« sei daher so wider­sin­nig wie etwa ein »Katho­li­ken-Kinn«.

Anti­se­mi­tis­mus hat vie­le Gesich­ter, und vie­le davon, die mei­sten(?), sind sehr freund­lich, schreibt Mey­er. Aber eben­so wenig wie das Alter vor Tor­heit schützt, schüt­zen gute Manie­ren davor, Unsinn zu glau­ben oder zu reden. Täte Dumm­heit weh, wäre es viel­leicht anders.

Mey­er bilan­ziert in sei­nem bewe­gen­den Essay, dem Zei­le für Zei­le der seit Jahr­zehn­ten erfah­re­ne – ver­ba­le – Anti­se­mi­tis­mus im All­tag und die tief gehen­den Ver­let­zun­gen anzu­mer­ken sind: »Alle drei Wochen ein blö­der Spruch, das kommt ziem­lich genau hin.« Er empört sich über Lügen­mär­chen und fre­che Scher­ze, die er nicht mehr hören will. Und schon gar nicht will er hören, »dass es sich dabei nicht um Mär­chen, son­dern um Tat­sa­chen hand­le, und die Scher­ze freund­schaft­lich sei­en, nicht frech«.

»Herr Mey­er, Sie sind ja, ähm … also, sie haben ja eine jüdi­sche … Her­kunft…« – »Sie dür­fen ruhig Jude zu mir sagen. Es ist zwar unheil­bar, aber kei­ne Krankheit.“

»Ach, Sie sind Jude? Toll! Juden haben einen guten Humor!« – »Das ist ein Kli­schee.« – »Ich mei­ne es aber als Kom­pli­ment!« – »Dann war­ten Sie doch bit­te, bis ich tat­säch­lich etwas Lusti­ges sage.«

»Euch Juden darf man nicht kri­ti­sie­ren!« – »Ist nicht alles, was ich dar­auf erwi­de­re, eine Bestä­ti­gung dafür?«

Kom­men­tar Mey­ers: »Mei­ner Mei­nung nach han­deln und spre­chen wir alle exakt so, wie wir den­ken, und ange­sichts die­ser Kon­gru­enz von Hal­tung und Ver­hal­ten erlau­be ich mir, die Ein­stel­lung, die ich aus den erwähn­ten Zita­ten ablei­te, als anti­se­mi­tisch zu bewer­ten – wor­un­ter ich (…) die Kom­bi­na­ti­on aus unbe­wuss­ter Dis­kri­mi­nie­rung und deren bewuss­ter Ver­tei­di­gung verstehe.«

Der Anti­se­mi­tis­mus ist eine Form übler Nach­re­de, die sich durch zwei Jahr­tau­sen­de zieht. Sie begann spä­te­stens mit dem Kon­zil von Nicäa im Jah­re 326, als die Kir­che Jesus zum Sohn Got­tes erklär­te und damit die Juden zu Got­tes­mör­dern mach­te. Gal­ten sie im Mit­tel­al­ter als Ver­ur­sa­cher der Pest – man beschul­dig­te sie der Ver­gif­tung von Trink­was­ser­brun­nen –, so wur­den sie im 19. Jahr­hun­dert als »min­der­wer­ti­ge, schmut­zi­ge Ras­se« dis­kri­mi­niert: »als wei­ße Män­ner auf die Idee kamen, Men­schen in ›Ras­sen‹ einzuteilen«.

Dabei sind Men­schen, so Mey­er, »kei­ne Anti­se­mi­ten, weil sie schlech­te Erfah­run­gen mit Juden gemacht haben. Meist haben sie über­haupt kei­ne Erfah­run­gen mit Juden gemacht. Sie sind – unter ande­rem – Anti­se­mi­ten, weil ihre Eltern ihnen ein schlech­tes Bild von Juden ver­mit­telt haben, und deren Eltern wie­der­um ihnen, und so geht das immer wei­ter zurück.«

Und prompt sind wir wie­der bei Don­na Cla­ra, die immer noch »hän­de­drückend, lie­be­flü­sternd« im Mond­schein umher­wan­delt. Doch Hein­rich Hei­ne hält einen Twist parat. Als aus dem Schlos­se »Pau­ken und Drommeten schal­len«, die des Alkal­den Toch­ter heim­ru­fen, bit­tet sie den schö­nen Fremd­ling, ihr sei­nen Namen zu nennen.

»Und der Rit­ter, hei­ter lächelnd /​ Küßt die Fin­ger sei­ner Don­na, /​ Küßt die Lip­pen und die Stir­ne, /​ Und er spricht zuletzt die Wor­te: /​ Ich, Sen­no­ra, Eu’r Gelieb­ter, /​ Bin der Sohn des viel­be­lob­ten, /​ Gro­ßen, schrift­ge­lehr­ten Rab­bi /​ Isra­el von Sara­gos­sa« (Ori­gi­nal­schreib­wei­se).

Übri­gens: Mey­ers Nase ist »ganz nor­mal«, heißt es von Sei­ten des Verlags.

 

Tho­mas Mey­er: Was soll an mei­ner Nase bit­te jüdisch sein? – Über den Anti­se­mi­tis­mus im All­tag, Elster & Salis 2021, 128 Sei­ten, 16 .