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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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Die Einzigentartete

Im Herbst besu­che ich gern die Alte Fasa­ne­rie, einen drei­hun­dert Jah­re alten Wild­park süd­lich von Hanau. Dann röh­ren dort die Hir­sche und selbst die Wöl­fe hören auf zu heu­len, um zu hören, was die Geweih­trä­ger in rebus amo­ris vor­tra­gen. Ins­ge­heim gehe ich aber wegen der Rehe hin. Tau­sche hun­dert Stro­phen Bass­ge­sang gegen eine zier­li­che Kopf­dre­hung, ein abwä­gen­des Schlen­kern zwei­er schlan­ker Ohren. Gera­de­zu heiß bin ich auf das wei­ße Reh. Mir schlackern die Eigen­oh­ren, sobald es spricht:

Häh? Was ist denn Beson­de­res an mir? Hat­ten wir die Haut­far­be nicht schon als unwich­tig durch­schaut? Die Men­schen hin­ter dem Maschen­zaun wer­den aller­dings rück­fäl­lig, sobald sie mich sehen. »Boah, guck­ma, ein WEISSES Reh!«, schreit die Fünf­jäh­ri­ge ihre Fami­lie aus den umlie­gen­den Wald­stücken zusam­men. Vati, Mut­ti plus drei stel­len sich zu einem Chor auf und wie­der­ho­len mei­ne Fellfarbe.

Oder es ist Mam­mi, die mich als Erste ent­deckt. »Ach guck mal, ein WEISSES Reh!«, ruft sie aus und merkt gera­de, dass ihr Jun­ge nicht mehr hin­ter­her­dackelt, son­dern mit ande­ren Kin­dern in einer hübsch bepflanz­ten Beton­röh­re spielt. Die ist weit weg. Soll die Mut­ter schrei­en oder gesti­ku­lie­ren? Hin­ge­hen ist kei­ne Opti­on – zu weit. Also führt sie eine Art Bal­lett mit ein­ge­leg­ter Lip­pe­n­arie vor mir auf. Reißt bei­de Arme hoch und tän­zelt, senkt, als sie einen Blick des Juni­ors erhascht zu haben meint, fall­beil­ar­tig einen Arm, bis er auf mich zeigt, stellt das Mega­fon der ande­ren Hand um den Mund und formt stumm ihren Schrei: EIN. WEISSES. REH! Wor­auf folgt: »Nee? Hat er wohl nicht ver­stan­den.« Schreit also doch: »Guck mal: ein GANZ WEISSES!« Der Jun­ge lässt resi­gniert die spiel­ak­ti­ven Hän­de sin­ken, gefan­gen im Blick­kon­takt. »Komm doch mal her! Hier ist ein GANZ WEISSES REH!« Eine Minu­te muss der Jun­ge noch so daste­hen, dann darf er sich ganz lang­sam wie­der umdre­hen und in sei­ner Spiel­röh­re ver­schwin­den, denkt er und macht es. Nun läuft die Mut­ter doch hin. Wäh­rend­des­sen packt die fünf­köp­fi­ge Fami­lie drei Fut­ter­tü­ten aus, von denen ich zir­ka zwei durch den Zaun inha­lie­re. Gut, dass ich eine Wie­der­käue­rin bin, den­ke ich mal wie­der. In mei­nem Äser könn­te ich die zwei Tüten nicht zwi­schen­la­gern. Das zu machen ver­langt aber die Soli­da­ri­tät mit mei­nen reh­brau­nen Schwe­stern, die kein Mensch jemals füt­tert und mit denen ich den Zwei­tü­ten­in­halt tei­le, sobald die Fami­lie wei­ter­ge­zo­gen ist. Aber da naht schon die Mut­ter des Röhren­jun­gen mit­samt die­sem und sei­ner Schwe­ster, dazu einer Freun­din und deren zwei Kin­dern, im Lauf­schritt und Albi­no­fie­ber: »Da ist es!«, jauchzt die Ent­decker­mut­ter, als hät­te sie zwi­schen­zei­tig befürch­tet, sie spinnt, und es gibt mich gar nicht. Ich tre­te drei vor­neh­me Schrit­te zurück, ehe die sechs Per­so­nen in den Zaun pral­len. Man gilt ja als scheu. »Or wie SÜÜÜSS!« beeilt sich jedes der vier Kin­der als erstes zu rufen.

Und dann röhrt der Alte von neben­an. Das ist der Moment, in dem ich selbst zwei­fe­le, ob es mich gibt, so schnell sind alle sechs weg, mei­ne Ehe­dem­fans. »Wo ist er, Mam­mi?«, »Ich seh ihn nicht!«, hallt es mit wegen des Brunft­lärms erho­be­nen Stimm­chen viel­keh­lig durch den Kunst­wald. Wie­der ist die Ent­decker­ma­ma die schnell­ste: »Da ist er!«, deu­tet sie in ein eher locke­res Dickicht. »Seht ihr ihn?« Als alle vier Kin­der bestä­tigt haben, sagt sie mit Sei­ten­blick zur Freun­din: »Das ist DER CHEF.« Bei­de Frau­en haben feuch­te Augen. Der Alte röhrt noch mal und die Freun­din­nen zit­tern, träu­men vom Leben in einer kla­ren Hier­ar­chie und ohne ver­wir­rend ähn­li­che Wald­we­ge oder Spiel­röh­ren, von denen man nicht weiß, in wel­che das Kind schon wie­der ver­schwun­den ist. Ich nut­ze die unbe­ob­ach­te­te Zeit zu einem Stell­dich­ein mit mei­nem jun­gen, schweig­sa­men Lieb­lings­hirsch und den­ke, wäh­rend ich genie­ße: Ihr seid so unlo­gisch, lie­be Men­schen. Wenn wir alle mit die­sen klapp­ri­gen Mei­ster­sän­gern schla­fen wür­den, hät­ten wir Rehe, nach Charles Dar­win, doch längst sel­ber die­sen Blechröhrenbass.