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Herausgegeben von Rainer Butenschön, Daniela Dahn, Rolf Gössner,
Ulla Jelpke und Otto Köhler

Begründet 1997 von Eckart Spoo

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»Einer muss doch anfangen«

Sophie Scholl war eines der bekann­te­sten Gesich­ter des deut­schen Wider­stands gegen das NS-Regime. Neben Graf Claus von Stauf­fen­berg, Hen­ning von Tre­sc­kow, dem Krei­sau­er Kreis, dem Theo­lo­gen Diet­rich Bon­hoef­fer oder dem Ein­zel­gän­ger Georg Elser ist sie heu­te eine Sym­bol­fi­gur des »ande­ren Deutschlands«.

Vor hun­dert Jah­ren, am 9. Mai 1921, wur­de Sophie Scholl in Forchtenberg/​Kocher (Würt­tem­berg) als Toch­ter des libe­ra­len Bür­ger­mei­sters Robert Scholl und des­sen Frau Mag­da­le­ne gebo­ren. Nach Inge (1917), Hans (1918) und Eli­sa­beth (1920) war Lina Sofie (so stand es in der Geburts­ur­kun­de) das vier­te Kind der Fami­lie. Ein Jahr spä­ter wur­de der Bru­der Wer­ner gebo­ren und 1925 die Schwe­ster Thil­de. Am 1. Mai 1928 wur­de Sophie in der Volks­schu­le von Forch­ten­berg ein­ge­schult. Trotz sei­ner erfolg­rei­chen Bilanz als Schult­heiß wur­de der Vater 1929 nicht wie­der gewählt. Es begann ein Klein­krieg von Ver­leum­dun­gen, Kla­gen und Gegen­kla­gen; schließ­lich muss­te die Fami­lie die Dienst­woh­nung im Rat­haus ver­las­sen. Der Vater fand eine Anstel­lung als Geschäfts­füh­rer der Maler- und Lackie­re­rin­nung in Stutt­gart; als Wohn­ort ent­schied sich die Fami­lie jedoch für Lud­wigs­burg. Im März 1932 zog die Fami­lie schließ­lich nach Ulm, wo sie wie­der ein eige­nes Haus bewohn­ten. Zusam­men mit ihren Schwe­stern Inge und Eli­sa­beth ging Sophie zur Mädchenoberrealschule.

Inzwi­schen hat­ten die Natio­nal­so­zia­li­sten die Macht ergrif­fen und fan­den vor allem bei der Jugend begei­stern­de Zustim­mung. Sophies Bru­der Hans wur­de Mit­glied der Hit­ler­ju­gend, sie selbst trat 1934 dem Bund Deut­scher Mäd­chen (BDM) bei. Im Herbst 1937 wur­de Sophie zusam­men mit ihren Geschwi­stern für eini­ge Stun­den ver­haf­tet, weil ihr Bru­der Hans wegen »bün­di­scher Umtrie­be« ver­folgt und meh­re­re Wochen inhaf­tiert wor­den war. Die­se Ver­haf­tung bewirk­te bei Sophie eine erste inne­re Abkehr von den natio­nal­so­zia­li­sti­schen Idea­len, die durch Novem­ber­po­grom und den Ein­marsch der Wehr­macht in Öster­reich und im Sude­ten­land noch ver­stärkt wurde.

Mit 16 Jah­ren hat­te Sophie den vier Jah­re älte­ren Offi­ziers­an­wär­ter Fritz Hart­na­gel ken­nen­ge­lernt. Es war eine mit­un­ter rei­bungs­vol­le Bezie­hung: So quit­tier­te Sophie sei­ne »Begei­ste­rung« für das Sol­da­ten­tum mit den Wor­ten »Sag nicht, es ist fürs Vater­land«. Mit den Kampf­hand­lun­gen im benach­bar­ten Frank­reich war der Krieg viel fass­ba­rer gewor­den als beim Über­fall auf das fer­ne Polen. Als Hart­na­gel spä­ter die Feld­zü­ge in West- und Ost­eu­ro­pa und das Lei­den der Bevöl­ke­rung erleb­te, ent­wickel­te er sich vom Wehr­macht-Begei­ster­ten zum durch­aus kri­ti­schen Offizier.

Nach ihrem Abitur begann Sophie im Früh­jahr 1940 eine Aus­bil­dung zur Kin­der­gärt­ne­rin an einem evan­ge­li­schen Frö­bel-Semi­nar. Damit woll­te sie dem unge­lieb­ten Reichs­ar­beits­dienst als Vor­lei­stung für ein Stu­di­um ent­ge­hen. Danach wur­de sie den­noch zum Reichs­ar­beits­dienst ein­ge­zo­gen. Im Anschluss dar­an muss­te sie ab Okto­ber 1941 in einem Ulmer Rüstungs­be­trieb noch ein hal­bes Jahr »Kriegs­hilfs­dienst« absol­vie­ren, der inzwi­schen für Stu­dier­wil­li­ge ein­ge­führt wor­den war.

Lite­ra­tur hat­te in der Fami­lie Scholl immer eine zen­tra­le Rol­le gespielt. Die lese­hung­ri­ge Sophie ver­tief­te sich auf der Suche nach ihrer eige­nen Iden­ti­tät in die Wer­ke von Hans Caros­sa, Ernst Wie­chert und beschäf­tig­te sich mit den Kir­chen­leh­rern Augu­sti­nus und Tho­mas von Aquin. Dar­über hin­aus Tol­stoi, Dosto­jew­ski, Gogol, Bau­de­lai­re und Ver­lai­ne – die Lite­ra­tur gab Sophie Kraft und mach­te sie letzt­lich immun gegen die Ideo­lo­gie des Nationalsozialismus.

Am 18. Mai 1942 imma­tri­ku­lier­te sich Sophie Scholl an der Mün­che­ner Uni­ver­si­tät für die Fächer Bio­lo­gie und Phi­lo­so­phie. Ihr Bru­der Hans hat­te in Mün­chen seit 1939 ein Medi­zin­stu­di­um auf­ge­nom­men. Mit Alex­an­der Schmo­rell und ande­ren Kom­mi­li­to­nen, die das NS-Regime eben­falls ablehn­ten, hat­te er die Wider­stands­grup­pe »Wei­ße Rose« gegrün­det. Im Juni 1942 fer­tig­ten sie die ersten vier regime­feind­li­chen Flug­blät­ter von jeweils 100 Exem­pla­ren an, in denen sie zum pas­si­ven Wider­stand auf­rie­fen. Ver­sandt wur­den die Flug­schrif­ten ille­gal an »aus­ge­wähl­te« Münch­ner Adres­sa­ten – vor allem an Intel­lek­tu­el­le, Künst­ler und poli­ti­sche Ent­schei­dungs­trä­ger, von denen sich jedoch ein Drit­tel bei der Poli­zei meldete.

Im Juli 1942 wur­den Hans Scholl und sei­ne Freun­de für ein Vier­tel­jahr als Sani­tä­ter an die Ost­front abkom­man­diert, wo sie als »Hilfs­ärz­te« unmit­tel­bar mit der bru­ta­len Rea­li­tät des Krie­ges kon­fron­tiert wur­den. Nach ihrer Rück­kehr stie­ßen wei­te­re Stu­den­ten zu ihrem Freun­des­kreis; auch Sophie Scholl betei­lig­te sich jetzt in der Wider­stands­grup­pe. Ihre Auf­ga­be bestand vor allem in der Beschaf­fung von Mate­ria­li­en (Matri­zen, Saug­pa­pier, Umschlä­ge und Brief­mar­ken). Mit einem neu­en lei­stungs­fä­hi­ge­ren Ver­viel­fäl­ti­gungs­ap­pa­rat konn­ten nun wesent­lich mehr Flug­schrif­ten her­ge­stellt werden.

Nach dem Erschei­nen des fünf­ten Flug­blat­tes Anfang Febru­ar 1943 ver­schärf­te die Gesta­po mit einer Son­der­kom­mis­si­on die Fahn­dung nach den Urhe­bern der oppo­si­tio­nel­len Flug­blät­ter. So wur­de die Uni­ver­si­tät »unter ent­spre­chen­de Über­wa­chung« gestellt. Mit ihrem sech­sten und letz­ten Flug­blatt rich­te­te sich die Grup­pe an die Stu­die­ren­den der deut­schen Uni­ver­si­tä­ten: »Kom­mi­li­to­nin­nen! Kom­mi­li­to­nen!« lau­tet die Über­schrift, unter der vor dem Hin­ter­grund der Nie­der­la­ge von Sta­lin­grad und der dro­hen­den Ver­nich­tung wei­te­rer aber­tau­sen­der Men­schen­le­ben zu offe­nem Wider­stand in den Hör­sä­len der deut­schen Hoch­schu­len auf­ge­ru­fen wur­de. Die Hälf­te der Flug­blät­ter (etwa 2.000 bis 3.000 Exem­pla­re) wur­de wie­der­um auf dem Post­weg ver­schickt. Die ande­ren woll­ten Hans und Sophie Scholl in den wei­ten Hal­len des Haupt­ge­bäu­des der Uni­ver­si­tät verteilen.

Am 18. Febru­ar (es war der Tag, an dem Reichs­pro­pa­gan­da­mi­ni­ster Joseph Goeb­bels im Ber­li­ner Sport­pa­last in sei­ner Sport­pa­last­re­de zur Inten­si­vie­rung des »tota­len Krie­ges« auf­rief) gegen 11 Uhr leg­ten die Geschwi­ster Scholl die Flug­blät­ter im Uni­ver­si­täts­ge­bäu­de aus – vor Hör­saal­tü­ren, auf Fen­ster­sim­sen oder Mau­er­vor­sprün­gen. Die rest­li­chen Flug­blät­ter lie­ßen sie ein­fach in den Licht­hof fal­len. Dabei wur­den sie vom Haus­mei­ster ent­deckt und fest­ge­hal­ten. Von der alar­mier­ten Gesta­po wur­den die Geschwi­ster in die Münch­ner Gesta­po-Leit­zen­tra­le über­führt und dort dem Haft­rich­ter vor­ge­führt. Trotz mehr­fa­cher Ver­hö­re stand Sophie zu ihrer Hand­lungs­wei­se und woll­te die Fol­gen auf sich neh­men. Inzwi­schen war auch der Mit­strei­ter Chri­stoph Probst in Haft genom­men wurden.

Nur vier Tage spä­ter, am 22. Febru­ar 1943, wur­den Hans und Sophie Scholl sowie Chri­stoph Probst in den Justiz­pa­last gebracht. Roland Freis­ler, der Prä­si­dent des NS-Volks­ge­richts­hofs, war extra nach Mün­chen gekom­men, um den Schau­pro­zess selbst zu lei­ten. Wegen »Wehr­kraft­zer­set­zung«, »Feind­be­gün­sti­gung« und »Vor­be­rei­tung zum Hoch­ver­rat« wur­den die Geschwi­ster zum Tode durch das Fall­beil ver­ur­teilt und noch am Nach­mit­tag im Straf­ge­fäng­nis Mün­chen Sta­del­heim hin­ge­rich­tet. Im April 1943 gab es einen zwei­ten Wei­ße-Rose-Pro­zess, bei dem Alex­an­der Schmo­rell, Wil­li Graf und der Musik­wis­sen­schaft­ler Pro­fes­sor Kurt Huber zum Tode und zehn wei­te­re Ange­klag­te zu Gefäng­nis­stra­fen ver­ur­teilt wurden.

Zum dies­jäh­ri­gen 100. Geburts­tag von Sophie Scholl sind eini­ge Bio­gra­fien erschie­nen. Der Theo­lo­ge und Reli­gi­ons­leh­rer Wer­ner Mil­stein, der im Vor­jahr mit Einen Platz in der Welt haben bereits eine Bio­gra­fie über Diet­rich Bon­hoef­fer vor­ge­legt hat, erzählt in Einer muss doch anfan­gen! die Lebens­ge­schich­te die­ser muti­gen jun­gen Frau. Der Autor wen­det sich dabei sicher vor­ran­gig an jun­ge Leser, die einen kom­pak­ten Ein­druck von der »Wei­ßen Rose« und den Geschwi­stern Scholl bekom­men möch­ten. Die Bio­gra­fie, die durch eini­ge histo­ri­sche Abbil­dun­gen ergänzt wird, macht jun­gen Men­schen Mut, im eige­nen Leben für wert­vol­le Über­zeu­gun­gen ein­zu­ste­hen. Der Buch­ti­tel Einer muss doch anfan­gen! geht auf Sophie Scholl zurück, die damit auf eine der unver­schäm­ten Anschul­di­gun­gen von Freis­ler geant­wor­tet haben soll.

Wer­ner Mil­stein: Einer muss doch anfan­gen! – Das Leben der Sophie Scholl, Güters­lo­her Ver­lags­haus, Güters­loh 2021, 208 Sei­ten, 15 €.